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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 04.08.1999
Aktenzeichen: 1 BvR 1022/99
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1022/99 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn Professor Dr. S...

gegen den Bescheid des Ministeriums des Innern des Landes Brandenburg vom 26. Mai 1999 - I/9-12162 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Papier und die Richter Grimm, Hömig gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 4. August 1999 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Entscheidung nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG).

I.

1. Der Beschwerdeführer machte als Rechtsnachfolger seines Vaters vermögensrechtliche Ansprüche geltend. Dieser wurde 1945 vom NKWD als angeblicher Propagandist der NSDAP verhaftet und ohne Anklageerhebung im sowjetischen Straflager Buchenwald interniert. 1948 wurden ihm gehörende Vermögenswerte von der Landesregierung auf der Grundlage der SMAD-Befehle Nr. 124 und 64 enteignet und in Volkseigentum überführt.

1994 wurde die Rückübertragung der Vermögenswerte mit der Begründung abgelehnt, daß es sich um eine von der Restitution ausgeschlossene Enteignung auf besatzungshoheitlicher Grundlage im Sinne des § 1 Abs. 8 Buchstabe a des Vermögensgesetzes (VermG) gehandelt habe. Im Verlauf des daraufhin eingeleiteten Klageverfahrens legte der Beschwerdeführer eine Rehabilitierungsbescheinigung der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation vor, in der sein Vater wegen unbegründeter Internierung in einem Speziallager des NKWD rehabilitiert wurde. In einem weiteren Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft war ausgeführt, daß in den Archiven des NKWD keine Unterlagen über eine Sequestrierung und Enteignung der streitigen Vermögenswerte aufzufinden seien.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage, gerichtet auf Restitution und Feststellung, daß der Beschwerdeführer hinsichtlich eines inzwischen verkauften Vermögensgegenstands Anspruch auf Zahlung des Verkehrswerts habe, abgewiesen, das Bundesverwaltungsgericht die daraufhin eingelegte Revision zurückgewiesen:

Die Klage sei zu Recht abgewiesen worden, weil die fragliche Enteignung auf besatzungshoheitlicher Grundlage erfolgt und die Anwendung des Vermögensgesetzes deshalb nach dessen § 1 Abs. 8 Buchstabe a ausgeschlossen sei. Das Klagebegehren könne auch nicht auf § 1 Abs. 7 VermG gestützt werden.

Nach dieser Vorschrift gelte das Vermögensgesetz entsprechend für die Rückgabe von Vermögenswerten, die im Zusammenhang mit der nach anderen Vorschriften erfolgten Aufhebung rechtsstaatswidriger straf-, ordnungsstraf- oder verwaltungsrechtlicher Entscheidungen stehe. Dabei handele es sich um eine Rechtsfolgenverweisung. Der Gesetzgeber gehe für den Fall, daß rechtsstaatswidrige Vermögensentziehungen auf der Grundlage anderer Wiedergutmachungs- oder Rehabilitierungsregelungen aufgehoben würden, von der grundsätzlichen Pflicht zur Rückgabe des entzogenen Vermögenswerts aus und unterwerfe diese Rückgabe den Vorschriften des Vermögensgesetzes. § 1 Abs. 7 VermG schaffe also keinen eigenen Restitutionstatbestand, sei vielmehr anspruchsbegrenzender Natur, wie insbesondere die Anwendung der §§ 4 und 5 VermG zeige.

§ 1 Abs. 7 VermG gehe danach von einem zweistufigen Verfahrensablauf aus: Auf der ersten Stufe hebe die nach den "anderen Vorschriften" zuständige Stelle die durch eine rechtsstaatswidrige Entscheidung herbeigeführte Vermögensentziehung auf. Die damit rechtsgrundlos gewordene Vermögensverschiebung werde dann auf der zweiten Stufe von den an die Aufhebungsentscheidung gebundenen Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen nach Maßgabe des Vermögensgesetzes rückabgewickelt.

Für Vermögensentziehungen, die durch rechtsstaatswidrige straf-, ordnungsstraf- oder verwaltungsrechtliche Entscheidungen deutscher Stellen erfolgt seien, habe der Gesetzgeber das Zweistufen-Konzept durch das Strafrechtliche und das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz umgesetzt. Diese Gesetze seien die in § 1 Abs. 7 VermG vorausgesetzten "ande-ren Vorschriften"; sie stellten zugleich den "Zusammenhang" her, der nach § 1 Abs. 7 VermG zwischen der Rückgabe der beanspruchten Vermögenswerte und der Aufhebung der rechtsstaatswidrigen Entscheidung bestehen müsse. Im Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz geschehe dies dadurch, daß nach dessen § 1 Abs. 1 Satz 1 die aufzuhebende Entscheidung zu einem schwer und unzumutbar fortwirkenden Eingriff in Vermögenswerte geführt haben müsse und damit durch eben diesen Eingriff gekennzeichnet sei.

Für Vermögensentziehungen, die durch rechtsstaatswidrige Entscheidungen ausländischer, insbesondere sowjetischer Stellen erfolgt seien, fehle es an vergleichbaren "anderen Vorschriften" des deutschen Gesetzgebers. Daraus dürfe aber nicht geschlossen werden, daß § 1 Abs. 7 VermG Fallgestaltungen nicht erfasse, in denen ein fremder Staat die von seinen Organen nach dem 8. Mai 1945 getroffenen rechtsstaatswidrigen Entscheidungen nach seinen eigenen Rehabilitierungsvorschriften aufhebe. Vielmehr sei das Gegenteil richtig. Diese Aufhebung müsse aber, entsprechend einer Rehabilitierung nach deutschen "anderen" Vorschriften, immer (auch) wegen der Einziehung von Vermögensgegenständen erfolgen.

Nach diesen Grundsätzen ließen sich die hier geltend gemachten Ansprüche nicht auf § 1 Abs. 7 VermG stützen. Der Vater des Beschwerdeführers sei durch eine deutsche staatliche Stelle, die Landesregierung, enteignet worden. Die von der Besatzungsmacht angeordnete Maßnahme sei demgegenüber die Internierung in einem sowjetischen Straflager gewesen. Nur auf diesen Unrechtsakt beziehe sich die dem Beschwerdeführer erteilte Rehabilitierungsbescheinigung. Zu der Enteignung verhalte sie sich nicht. Vielmehr werde in dem weiteren Schreiben an den Beschwerdeführer ausgeführt, daß es sich um eine Maßnahme deutscher Stellen gehandelt habe und insoweit in den Archiven des NKWD keine Unterlagen aufzufinden seien.

§ 1 Abs. 7 VermG räume den Ämtern zur Regelung offener Vermögensfragen nicht die Befugnis ein, bei einer Enteignung durch deutsche Stellen unter Anknüpfung an eine russische Rehabilitierungsentscheidung eigenständig zu prüfen und zu entscheiden, ob ein Rückgabeanspruch dadurch begründet werde, daß diese Enteignung in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem von der Rehabilitierung erfaßten sowjetischen Unrechtsakt stehe. Andernfalls würde § 1 Abs. 7 VermG zu einem originären vermögensrechtlichen Restitutionstatbestand. Es komme hinzu, daß § 1 Abs. 7 VermG keine Maßstäbe für die Bejahung des zur Rehabilitierung führenden Ursachenzusammenhangs und damit für die Begründung eines Rückgabeanspruchs aufstelle, während etwa das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz auch hinsichtlich der Eingriffe in Vermögenswerte genaue tatbestandliche Voraussetzungen formuliere.

Freilich sei es nicht von vornherein ausgeschlossen, daß eine Rehabilitierung nach dem russischen Rehabilitierungsgesetz unter bestimmten Voraussetzungen auch zu vermögensrechtlichen Ansprüchen in bezug auf die von deutschen Stellen beschlossenen Enteignungen auf besatzungshoheitlicher Grundlage führen könne. Seien diese Enteignungen - wie bei den auf die SMAD-Befehle Nr. 124 und 64 zurückgehenden Enteignungen - mit dem Vorwurf begründet worden, Kriegsverbrecher oder Naziaktivist gewesen zu sein, und werde die betreffende Person hinsichtlich dieses Vorwurfs von russischer Seite rehabilitiert, sei gewissermaßen der sowjetische Unrechtsbeitrag zu dieser Enteignung nachträglich beseitigt. Dies könnte die Frage aufwerfen, ob die Enteignung nunmehr als eine nur noch deutsch-rechtliche Verwaltungsentscheidung anzusehen sei, die unter den Voraussetzungen des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes einer Rehabilitierung zugänglich wäre. Ob dieses Gesetz, etwa mit Blick auf seinen § 1 Abs. 1 Satz 3, derartige Fälle erfassen wolle oder ob der Gesetzgeber dies ausdrücklich regeln müßte, sei vorliegend nicht zu entscheiden, weil diese Frage in einem etwaigen Rehabilitierungsverfahren zu prüfen wäre.

2. Der Beschwerdeführer hat daraufhin bei der Rehabilitierungsbehörde beantragt, die Enteignungsentscheidungen von 1948 aufzuheben. Der Antrag wurde abgelehnt, weil das Verwaltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz nicht anwendbar sei. Gegen diese Entscheidung hat der Beschwerdeführer Klage zum Verwaltungsgericht erhoben.

II.

Mit seiner gleichzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG.

Er hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig, auch wenn der Rechtsweg noch nicht erschöpft sei. Das Bundesverfassungsgericht werde gebeten, eine Vorabentscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG zu treffen. Die Verfassungsbeschwerde sei von allgemeiner Bedeutung, weil die Frage, ob eine Rehabilitierung von Enteignungsopfern nach dem russischen Rehabilitierungsgesetz zu vermögensrechtlichen Ansprüchen in bezug auf die von deutschen Stellen beschlossenen Enteignungen auf besatzungshoheitlicher Grundlage führe, etwa 8.000 Fälle betreffe.

Eine Rechtswegerschöpfung sei für den Beschwerdeführer unzumutbar. Das von ihm betriebene Verfahren nach § 1 Abs. 7 VermG habe fast zehn Jahre gedauert. Auch im jetzt anhängig gemachten Verfahren sei eine jahrelange Verfahrensdauer zu erwarten. Die dadurch eintretende Verfahrensdauerkumulierung vereitele seinen Anspruch auf eine Sachentscheidung in angemessener Frist.

III.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig ist.

Ihrer Zulässigkeit steht entgegen, daß der Verwaltungsrechtsstreit, den der Beschwerdeführer gleichzeitig mit der Einlegung der Verfassungsbeschwerde anhängig gemacht hat, noch nicht abgeschlossen ist. Der Beschwerdeführer hat danach den Rechtsweg nicht entsprechend § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft.

Eine Ausnahme vom Gebot der Rechtswegerschöpfung gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG kommt im Fall des Beschwerdeführers nicht in Betracht. Sie wäre mit Sinn und Zweck des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, wie er in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommt, nicht vereinbar. Durch die Beachtung dieses Grundsatzes soll unter anderem erreicht werden, daß das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Tatsachen- und Rechtsgrundlage weitreichende Entscheidungen trifft (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>). Außerdem wird sichergestellt, daß der Vorrang, der den all-gemein zuständigen Gerichten bei der Sachverhaltsermittlung wie bei der Auslegung der einschlägigen einfachrechtlichen Vorschriften nach der gesetzlichen Kompetenzordnung und im Hinblick auf ihre größere Sachnähe gebührt, gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 55, 244 <247>). Diesen Vorrang gilt es auch hier zu beachten, weil, wie das vom Beschwerdeführer erstrittene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Februar 1999 - BVerwG 7 C 9.98 - und die angegriffene Verwaltungsentscheidung zeigen, vor einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung über die vom Beschwerdeführer erhobenen verfassungsrechtlichen Rügen schwierige einfachrechtliche Fragen insbesondere zu Inhalt und Reichweite des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes und zu dessen Verhältnis zum Vermögensgesetz zu klären sind. Diese Klärung herbeizuführen, ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 18, 85 <92>).

Es ist für den Beschwerdeführer auch nicht unzumutbar, zunächst den Rechtsweg zu erschöpfen (vgl. BVerfGE 79, 1 <20>; 86, 80 <85>). Ausnahmen von dem Erfordernis, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu beschreiten und auszuschöpfen, sind eng zu begrenzen (vgl. BVerfGE 70, 180 <186>). Nach dem angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist die Annahme nicht ausgeschlossen, daß der Beschwerdeführer in dem Verwaltungsstreitverfahren, in dem er gegen den angegriffenen Behördenbescheid vorgeht, Erfolg haben wird. Daß dieses Verfahren nach der Einschätzung des Beschwerdeführers längere Zeit in Anspruch nehmen könnte, führt nicht dazu, daß es dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten ist, es vor einer Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts weiterzuverfolgen. Al-lein die voraussichtliche Dauer des fachgerichtlichen Verfahrens kann, von Fällen besonderer Eilbedürftigkeit abgesehen (vgl. BVerfGE 93, 1 <13>), eine Unzumutbarkeit der Rechts-wegbeschreitung grundsätzlich nicht begründen, weil andernfalls die dargestellte Vorklärungsfunktion der allgemein zuständigen Gerichte und die besondere Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Rechtsschutzsystem des Grundgesetzes in Frage gestellt werden könnten (vgl. BVerfGE 22, 349 <355> m.w.N.).

Gesichtspunkte, die es gebieten könnten, im Fall des Beschwerdeführers von diesem Grundsatz abzuweichen, sind nicht ersichtlich und mit der Verfassungsbeschwerde auch nicht vorgebracht worden. Die Rehabilitierungsbehörde hat über den vom Beschwerdeführer gestellten Antrag, der ein im Verhältnis zum vorausgegangenen Verfahren nach dem Vermögensgesetz neues und selbständiges Verfahren in Gang gesetzt hat, binnen zweier Monate entschieden. Im daraufhin eingeleiteten verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist nach § 16 Abs. 1 Satz 2 VwRehaG - im Interesse der Verfahrensbeschleunigung - die Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts ausgeschlossen; möglich sind allein die Revision oder die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG). Unter diesen Umständen ist nicht zu erwarten, daß die zeitliche Dauer des Verfahrens vor den Verwaltungsgerichten den Beschwerdeführer in einem Maße belastet, das es gebieten könnte, vor Abschluß dieses Verfahrens über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zur Sache zu entscheiden.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).



Ende der Entscheidung

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