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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 17.06.1999
Aktenzeichen: 2 BVR 30/99
Rechtsgebiete: GG, BVerfGG, ZPO


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 3
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G
GG Art. 103 Abs. 1
BVerfGG § 93b
BVerfGG § 93a
BVerfGG § 90 Abs. 1
BVerfGG § 93a Abs. 2
BVerfGG § 93a Abs. 2 Buchstabe a
BVerfGG § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG § 93d Abs. 1 Satz 3
ZPO § 174 Abs. 2
ZPO § 175 Abs. 1 Satz 2
ZPO § 175 Abs. 1 Satz 3
ZPO § 233
ZPO § 213
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 2 BVR 30/99 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn

- Bevollmächtige: Rechtsanwälte Dr. Rudolf Nörr und Kollegen, Brienner Straße 22, München -

gegen

a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 10 November 1998 - IV ZR 243/97 -,

b) das Urteil des Oberlandesgerichts München vom 2. Juni 1997 - 31 U 5659/96 -,

c) das Urteil des Landgerichts München I vom 1. Oktober 1996 - 30 O 14957/93 -

d) das Versäumnisurteil des Landgerichts München I vom 16 Oktober 1995 - 30 O 14957/93

hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Präsidentin Limbach, die Richter Kirchhof und Jentsch gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 17. Juni 1999 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zustellungsfiktion nach §§ 174 Abs. 2, 175 Abs. 1 Satz 2 und 3 ZPO sowie Fragen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

I.

1. Der Beschwerdeführer, ein dänischer Staatsangehöriger, war allein vertretungsberechtigtes Vorstandsmitglied einer dänischen Aktiengesellschaft mit einer Zweigniederlassung in Deutschland. Mit dieser Zweigniederlassung unterhielt die Gegnerin im Ausgangsverfahren Geschäftsbeziehungen. Ihr entstand hieraus ein Schaden, für den sie rechtskräftige Titel erwarb. Eine Vollstreckung scheiterte jedoch an der zwischenzeitlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit.

2. Mit Klage vom 2. August 1993 nahm die Gegnerin des Ausgangsverfahren den Beschwerdeführer persönlich auf Schadensersatz in Anspruch.

Im schriftlichen Vorverfahren wurden dem Beschwerdeführer die Klageschrift, die Verfügung des Gerichts und eine Belehrung über die Folge der Säumnis am 26. Juni 1995 durch einfache Übergabe zugestellt. Er wurde nicht darüber belehrt, dass eine im Ausland lebende Partei gemäß § 174 Abs. 2 ZPO auch ohne Anordnung des Gerichts zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten im Bezirk des zuständigen Landgerichts verpflichtet und dass bei Nichterfüllung dieser Verpflichtung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 2 und 3 ZPO eine Zustellung durch Aufgabe zur Post möglich ist.

Nachdem Beschwerdeführer auf die Klagezustellung nicht reagierte, erging antragsgemäß ohne mündliche Verhandlung am 16. Oktober 1995 ein Versäumnisurteil. Die Einspruchsfrist wurde auf drei Wochen festgesetzt. Das Urteil wurde dem Beschwerdeführer am 19.Oktober 1995 durch Aufgabe zur Post gemäß § 175 Abs. 1 Satz 2 ZPO zugestellt. Es ging am 23. Oktober 1995 bei ihm ein.

Am 13. November 1995 legte der Beschwerdeführer über seine zwischenzeitlich bestellten Prozessbevollmächtigten Einspruch gegen das Versäumnisurteil ein. Zugleich bat er um Akteneinsicht. Das Landgericht wies mit Schreiben vom 14. November 1995, das am 30. November 1995 bei den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers einging, darauf hin, dass die Einspruchsfrist versäumt sei. Bereits am 29. November 1995 hatten die Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers die Prozessakten zur Einsichtnahme abgeholt und mit Schriftsatz vom selben Tag die Einrede der Verjährung erhoben.

Mit Schriftsatz vom 14. Dezember 1995 rügte der Beschwerdeführer die Unwirksamkeit der Zustellung des Versäumnisurteils und beantragte zugleich vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

3. Durch Urteil vom 1. Oktober 1996 verwarf das Landgericht den Einspruch gegen das Versäumnisurteil und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die vom Beschwerdeführer gegen dieses Urteil eingelegte Berufung wies das Oberlandesgericht mit Urteil vom 2. Juni 1997 zurück. Hiergegen legte der Beschwerdeführer Revision zum Bundesgerichtshof ein, der die Revision annahm und sie durch Urteil vom 10. November 1998 zurückwies.

4. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 GG sowie der grundrechtsgleichen Rechte der Art. 101 Abs. 1 Satz 2 G und Art. 103 Abs. 1 GG.

Das Urteil des Bundesgerichtshofs verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Funktion als Willkürverbot. Das Urteil sei in der Anwendung des einfachen Rechts unverständlich und gehe an den zur Entscheidung stehenden verfassungsrechtlichen Fragen vorbei.

Die Entscheidung sei zudem nicht mit dem grundgesetzlich garantierten Gebot eines fairen Verfahrens sowie dem Anspruch auf rechtliches Gehör zu vereinbaren. Aufgrund der Zustellungsfiktion des § 175 Abs. 1 Satz 3 ZPO werde es möglich, dass für einen im Ausland ansässigen Beklagten, der in den meisten Fällen ausländischer Staatsangehöriger sei, die Frist zur Ergreifung eines Rechtsmittels abgelaufen sei, bevor er das Schriftstück tatsächlich erhalte. Es sei diskriminierend, wenn der im Ausland ansässige Partei nicht nur das volle Übermittlungsrisiko aufgebürdet werde, sondern ihr gegenüber sogar die im Inland geltenden Rechtsmittelfristen verkürzt würden.

Einen gesonderten Verfassungsverstoß sieht der Beschwerdeführer in der Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Hinweis des Gerichts, mit dem dieses die Bevollmächtigten des Beschwerdeführers davon in Kenntnis setzte, dass der Einspruch vom 13. November 1995 verspätet sei, sei erst am 30. November 1995 bei diesen eingegangen; deshalb habe die Frist erst an diesem Tag zu laufen begonnen. Die Frist für das Wiedereinsetzungsgesuch sei somit am 14. Dezember 1995 noch nicht abgelaufen gewesen. Aus der Tatsache, dass die Prozessakte bereits am 29. November 1995 bei den Prozessbevollmächtigten eingegangen sei und diese aus der Akte keine Fristversäumung entnommen hätten, könne kein Verschulden der Prozessbevollmächtigten abgeleitet werden. Prozessbevollmächtigte müssten Zustellungsdaten nicht anhand von Gerichtsakten überprüfen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ihr keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und eine Annahme auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte erforderlich ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG).

1. a) Grundsätzliche Bedeutung gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG ist nur gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder durch veränderte Verhältnisse klärungsbedürftig geworden ist (vgl. BVerfGE 90, 22 <24>; 96, 245 <248>). Bereits bei der Prüfung der Annahme muss absehbar sein, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit der Grundsatzfrage befassen muss. Kommt es auf sie hingegen nicht entscheidungserheblich an, ist eine Annahme nach § 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG nicht geboten (BVerfGE 90, 22 <25>) .

b) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Verfassungsbestimmungen angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), wenn die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existentieller Weise betrifft. Eine solche existentielle Betroffenheit kann sich vor allem aus dem Gegenstand der angegriffenen Entscheidung oder seiner aus ihr folgenden Belastung ergeben (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>; 96, 245 <248>). Ein besonders schwerer Nachteil ist jedoch nicht anzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f . >).

2. Die Verfassungsbeschwerde erfüllt diese Anforderungen nicht.

a) Soweit sie sich gegen die Zustellung des Versäumnisurteils durch Aufgabe zur Post gemäß §§ 174 Abs. 2, 175 Abs. 1 Satz 2 und 3 ZPO richtet, steht der Grundsatz der Subsidiarität einer Sachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entgegen. Es kann daher im vorliegenden Verfahren nicht geprüft werden, ob die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den genannten Zustellungsvorschriften der Zivilprozessordnung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein faires Verfahren genügt.

aa) Gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde grundsätzlich erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig. Der in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende Subsidiaritätsgrundsatz fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle Möglichkeiten ausschöpft, um es nicht zu einem Verfassungsverstoß kommen zu lassen oder eine bereits geschehene Grundrechtsverletzung zu beseitigen. Zu diesen prozessualen Möglichkeiten zählt auch ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BVerfGE 42, 252 <256 f.>; 77, 275 <282>, BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 14. Oktober 1996 - 1 BvR 975/95 -, NJW-RR 1997, S. 188).

bb) Der Beschwerdeführer hat nicht alles unternommen, um den behaupteten Grundrechtsverstoß bereits auf fachgerichtlicher Ebene zu beseitigen. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand blieb dem Beschwerdeführer versagt, weil seine Bevollmächtigten die Frist für den Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 233 ZPO versäumt hatten.

Die Bevollmächtigten des Beschwerdeführers hatten am 29. November 1995 Akteneinsicht genommen. Übernimmt ein Prozessbevollmächtigter ein neues Mandat, bei dem er im Rahmen einer von ihm beantragten Akteneinsicht zum ersten Mal mit dem gesamten Prozeßstoff sowie dem bisherigen Verlauf des Rechtsstreits in Berührung kommt, so zählt es nach der verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu seinen originären Pflichten, die Akten unverzüglich selbst auf die laufenden Fristen zu überprüfen, um gegebenenfalls sofort reagieren zu können (vgl. BGH, NJW 1997, S. 1708 <1709>). Nach den Feststellungen der Fachgerichte hätte den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers auffallen müssen, dass sich in den Akten ein Vermerk über den Ablauf der Einspruchsfrist befand. Unerheblich ist es insoweit, ob die Einspruchsfrist tatsächlich abgelaufen war, denn auch wenn das Landgericht München I rechtsirrtümlich vom Ablauf der Einspruchsfrist ausgegangen sein sollte, hätte der Beschwerdeführer alle Rechtsbehelfe - also auch den Wiedereinsetzungsantrag - hiergegen ergreifen müssen.

cc) Dem Beschwerdeführer war es auch zuzumuten, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in einem Fall der Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung entschieden, dass das Prinzip der Subsidiarität überspannt werde, wenn vom Beschwerdeführer verlangt würde, die Verfassungswidrigkeit einer einwöchigen Beschwerdefrist vorab ausdrücklich mit einem Wiedereinsetzungsantrag zu rügen (vgl. BVerfGE 77, 275 <283>) .

Der Beschwerdeführer wendet sich indes nicht gegen eine Zustellung durch öffentliche Bekanntmachung, sondern gegen eine solche durch Aufgabe zur Post. Anders als bei der öffentlichen Bekanntmachung, bei der der von ihr Betroffene selbst tätig werden muss, um sich vom Inhalt des bekanntgemachten Schriftstücks Kenntnis zu verschaffen, handelt es sich bei der Zustellung durch Aufgabe zur Post um eine Einzelzustellung, bei der vom Betroffenen nicht erwartet wird, sich die Kenntnis vom Inhalt des Schriftstücks aus allgemein zugänglichen Quellen selbst zu beschaffen. Tatsächlich hat der Beschwerdeführer auch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Dies zeigt, dass nichts Unzumutbares von ihm erwartet wurde.

b) Auch soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtgewährung er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand richtet, kommt ihr weder grundsätzliche Bedeutung zu noch ist die Annahme zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt.

aa) Bei der Frage nach der Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand handelt es sich um die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Feststellung und Würdigung des entscheidungserheblichen Sachverhalts sowie Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind Aufgabe der Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 86, 122 <128 f.>; 96, 288 <311>). Das Bundesverfassungsgericht greift nur dann korrigierend ein, wenn die angegriffene Entscheidung den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt oder Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen und in ihrer materiellen Bedeutung von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 96, 288 <311> m.w.N.).

bb) Es ist nicht ersichtlich, dass die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand den Kläger in seinen Grundrechten verletzt. Zwar stellt der Bundesgerichtshof hohe Anforderungen an den Rechtsanwalt, wenn er von diesem verlangt, ihm übersandte Akten auf Fristen zu überprüfen. Von den Bevollmächtigten des Beschwerdeführers wurde indes kein unverhältnismäßiger Aufwand verlangt. Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass den Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers, hätten sie die Akte auf erforderliche Fristen überprüft, der auf blauem Papier gefertigte und deshalb optisch hervorstechende Vermerk des Landgerichts gemäß § 213 ZPO hätte auffallen müssen. Anhand dieses Vermerks hätten sie sich Kenntnis von der Einhaltung der gesetzlichen Erfordernisse und dem Zeitpunkt der Zustellung verschaffen können. Aufgrund dieses von den Instanzgerichten festgestellten Sachverhalts kann nicht von einem überzogenen Sorgfaltsmaßstab ausgegangen werden. Das Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten muss sich der Beschwerdeführer wie eigenes zurechnen lassen.

3. Im übrige wird von einer Begründung gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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