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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 25.04.2005
Aktenzeichen: 1 N 03.1704
Rechtsgebiete: VwGO, BayBO, BauGB 1997


Vorschriften:

VwGO § 47
BayBO Art. 6 Abs. 5 Satz 1
BayBO Art. 7 Abs. 1 Satz 1
BayBO Art. 91 Abs. 1 Nr. 5
BayBO Art. 91 Abs. 3
BauGB 1997 § 1 Abs. 3
BauGB 1997 § 1 Abs. 6
BauGB 1997 § 9 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

In der Normenkontrollsache

wegen Unwirksamkeit der 38. Änderung des Bebauungsplans "******";

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Waltinger, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller

ohne mündliche Verhandlung am 25. April 2005

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die das Grundstück Fl.Nr. ****** Gemarkung A***** betreffende Satzung der Gemeinde A***** vom 14. Mai 2001 zur 38. Änderung des Bebauungsplans "p*****" ist unwirksam.

II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Die Antragsgegnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Antragsteller zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1. Der Antragsteller ist Miteigentümer des mit zwei Eigentumswohnanlagen bebauten Grundstücks Fl.Nr. **** Gemarkung A*****, das mit der Südseite seiner Osthälfte an das im Geltungsbereich des Bebauungsplans "p*****" Hegende Grundstück Fl.Nr. ****** des Beigeladenen grenzt.

Das Grundstück des Beigeladenen war ursprünglich entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans mit einem Wohnhaus und einer Garage bebaut. Die auf der Westseite des Gebäudes angebaute, nach Norden vorspringende Garage hielt zur nördlichen Grundstücksgrenze einen Abstand von 3 m ein.

Um dem Beigeladenen die Errichtung einer zweiten Wohneinheit zu ermöglichen, änderte die Antragsgegnerin durch eine am 10. Juli 2001 bekannt gemachte Satzung vom 14. Mai 2001 den Bebauungsplan für das Grundstück des Beigeladenen in der Weise, dass sie anstelle der für die Garage festgesetzten überbaubaren Fläche einen 7,865 m breiten und 10,925 m langen Bauraum für einen Anbau an und auf der Garage mit einer Wandhöhe von 4,50 m an der Nordseite und 4,85 m an der Südseite festsetzte (§§ 1 und 5 der Satzung) und in § 4 folgende Regelung traf: "Abweichend von der gesetzlichen Abstandsfläche wird eine Verkleinerung der Abstandsfläche im Nordwesten des Grundstücks in einer Länge von 3 m und einer Tiefe von 1,5 m gemäß Art. 7 Abs. 1 BayBO zugelassen". Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Verkürzung der Abstandsfläche sei vertretbar. Das Wohngebäude des nördlichen Nachbarn sei etwa 16 m von der Grundstücksgrenze entfernt und nutze deshalb die Abstandsflächen nicht voll aus.

Der Beigeladene hat den Anbau entsprechend den Festsetzungen des Änderungsbebauungsplans errichtet.

2. Mit seinem Normenkontrollantrag vom 3. Juli 2003 macht der Antragsteller geltend, die östliche Wohnanlage, in der noch mehrere Wohneinheiten ihm gehörten, sei nicht 16 m, sondern nur 10,50 m von der Grundstücksgrenze entfernt. Die Abstandsflächenverkürzung verstoße gegen das Abwägungsgebot. Es seien keine vernünftigen städtebaulichen Erwägungen erkennbar, die diesen Eingriff in die abstandsflächenrechtlichen Schutzgüter rechtfertigen könnten. Es wäre dem Beigeladenen problemlos möglich gewesen, sein Wohnhaus unter Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächenvorschriften zu erweitern.

Der Antragsteller beantragt festzustellen,

dass die das Grundstück Fl.Nr. ****** Gemarkung A***** betreffende Satzung der Gemeinde A***** zur 38. Änderung des Bebauungsplans "p*****" unwirksam ist.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen.

Der Änderungsbebauungsplan solle aus Gründen eines sparsamen Umgangs mit Grund und Boden eine Nachverdichtung ermöglichen und damit Ziele des Landesentwicklungsprogramms umsetzen. Deshalb habe der Gemeinderat im Jahre 2002 zudem beschlossen, den Flächennutzungsplan neu aufzustellen. Die Nachverdichtung werde im gesamten Bauquartier gewünscht. Das Grundstück des Beigeladenen sei lediglich zeitlich vorgezogen worden.

Der Beigeladene und der Vertreter des öffentlichen Interesses haben keine Anträge gestellt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat am 19. Oktober 2004 einen Augenschein durchgeführt. Wegen des Ergebnisses wird auf die Niederschrift Bezug genommen. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und auf den von der Antragsgegnerin vorgelegten Auszug aus den Planaufstellungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Über den Normenkontrollantrag kann mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Der Antrag hat Erfolg.

1. Der Antrag ist zulässig.

1.1. Der Antragsteller ist antragsbefugt (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO).

Er kann sich als Miteigentümer (Wohnungseigentümer) des unmittelbar an den Geltungsbereich des Änderungsbebauungsplans grenzenden Grundstücks Fl.Nr. **** darauf berufen, dass die Belange seines Sondereigentums (§ 13 Abs. 1 Halbsatz 2 WEG) bei der Abwägung, die den abstandsflächenrechtlichen Regelungen des Änderungsbebauungsplan zugrunde liegen, zu kurz gekommen seien.

Die abstandsflächenrechtlichen Regelungen des Änderungsbebauungsplans erforderten eine Abwägung der für und gegen sie sprechenden öffentlichen Belange und der für und gegen sie sprechenden privaten Belange des Beigeladenen und des Antragstellers. Das ergibt sich aus § 1 Abs. 6 des Baugesetzbuchs in der zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses (14.5.2001) geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 27. August 1997 (BGBl I S. 2141, ber. BGBl 1998 I S. 137) - BauGB 1997. Diese Vorschrift ist unmittelbar anwendbar, wenn es sich bei diesen Regelungen um bauplanungsrechtliche Festsetzungen über die Zulassung von Außenwänden handeln sollte (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB 1997, § 23 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1, § 16 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO), bei denen die abstandsflächenrechtliche Rechtsfolge des Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO gemäß Halbsatz 2 auf eine Breite von 3 m der insgesamt 7,865 m breiten Nordwand des Anbaus beschränkt worden ist. § 1 Abs. 6 BauGB 1997 ist gemäß § 9 Abs. 3 BauGB 1997, Art. 91 Abs. 3 Satz 2 BayBO entsprechend anzuwenden, wenn es sich bei den abstandsflächenrechtlichen Regelungen um örtliche Bauvorschriften im Sinn des Art. 91 Abs. 1 Nr. 5 BayBO handeln sollte.

Es liegt auf der Hand, dass bei einer Verringerung der bauordnungsrechtlich allgemein vorgeschriebenen Abstandsflächen die Interessen des Grundstücksnachbarn beeinträchtigt werden. Die damit aufgezeigte Möglichkeit eines Verstoßes gegen § 1 Abs. 6 BauGB 1997 genügt für die Antragsbefugnis (vgl. BVerwG vom 10.3.1998 NVwZ 1998, 732 f. zu den Anforderungen an das Geltendmachen einer Rechtsverletzung für ein im Plangebiet gelegenes Grundstück).

1.2. Auch das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben. Zwar ist das Bauvorhaben, das durch den Änderungsbebauungsplan ermöglicht werden sollte, fertig gestellt. Der Antragsteller kann mit einem Erfolg des Normenkontrollantrags aber seine Rechtsstellung in dem beim Verwaltungsgericht München wegen der Beseitigung des Anbaus anhängigen Verwaltungsstreitverfahren verbessern.

2. Der Antrag ist auch begründet.

Die Verkürzung der Abstandsflächen ist unwirksam (2.1.). Das führt zur Unwirksamkeit des gesamten Änderungsbebauungsplans (2.2.).

2.1. Die Festsetzung in § 4 des Änderungsbebauungsplans über die Verkürzung der Abstandsflächen auf einer Breite von 3 m vor der nördlichen Außenwand des Anbaus ist unwirksam. Die Festsetzung verstößt gegen den Erforderlichkeitsgrundsatz (2.1.1.) und gegen das Abwägungsgebot (2.1.2.).

2.1.1. Die Abstandsflächenverkürzung verstößt gegen den Erforderlichkeitsgrundsatz.

Nach § 1 Abs. 3 BauGB 1997 haben die Gemeinden die Bauleitpläne aufzustellen, sobald und soweit es für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist. Die nachträglich nicht geänderte Vorschrift gilt auch für die Änderung von Bauleitplänen (§ 2 Abs. 4 BauGB 1997). Sie verlangt, dass der Planung ein städtebauliches Konzept zugrunde liegt und dass sie dessen Verwirklichung dient. Diese Anforderungen gelten nicht nur für den Anlass, sondern auch für den Inhalt der Planung, und zwar für jede einzelne Festsetzung (BVerwG vom 18.3.2004 NVwZ 2004, 856).

Es ist schon nicht zu ersehen, dass dem 38. Änderungsbebauungsplan ein konkretes städtebauliches Konzept zugrunde liegt. Durch ihn werden, ohne einer erkennbaren Regel zu folgen, für ein einzelnes Grundstück im Geltungsbereich des Bebauungsplans die Abstandsflächen verkürzt. Das Planungsziel, dem Beigeladenen unter Verwendung der vorhandenen Garage einen abstandsflächenrechtlich an sich unzulässigen Erweiterungsbau zu ermöglichen, und der pauschale Hinweis auf das Gebot des § 1 a Abs. 1 BauGB 1997, mit Grund und Boden sparsam umzugehen, vermögen das fehlende Konzept nicht zu ersetzen.

Der Änderungsbebauungsplan ist aber auch deshalb nicht erforderlich, weil seine abstandsflächenrechtlichen Regelungen nicht geeignet sind, das erstrebte Planungsziel, dass das Wohnhaus des Beigeladenen auch nach dem Anbau auf allen Seiten die Abstandsflächen auf dem Baugrundstück einhält (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO), zu erreichen.

Der Planung liegt die Auffassung zugrunde, dass das Gesamtgebäude bei Verkürzung der Abstandsflächen auf das Maß von 3 m vor einem 3 m langen Teil der Nordwand des Anbaus nach allen Seiten die erforderlichen Abstandsflächen einhalte, weil dann für die restlichen Wandflächen der insgesamt 19 m langen nördlichen Gebäudeseite das abstandsflächenrechtliche Privileg des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO (16 m-Privileg) anzuwenden sei. Diese Auffassung ist unrichtig. Die Antragsgegnerin hat nicht berücksichtigt, dass das Gebäude des Beigeladenen infolge des Anbaus nicht nur - wie schon das ursprüngliche Wohnhaus - auf der Nordseite und der Ostseite nicht die vollen Abstandsflächen des Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO einhält, sondern nunmehr auch auf der Westseite. Die volle Abstandsfläche wird nur noch auf der Südseite eingehalten. Infolgedessen darf das 16 m-Privileg des Art. 6 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO auf keiner Gebäudeseite angewendet werden (vgl. BayVGH, Großer Senat, vom 17.4.2000 BayVBl 2000, 562). Damit verstößt nicht nur die 4,50 m hohe und 7,865 m breite Nordwand des Anbaus auf einer Breite von 4,865 m gegen die Vorschriften des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 BayBO, weil die gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO 4,50 m tiefe Abstandsfläche nicht auf dem Baugrundstück eingehalten werden kann. Entsprechendes gilt auch für die restlichen Teile der nördlichen sowie für die östliche und die westliche Gebäudeseite.

2.1.2. Die Abstandsflächenverkürzung verstößt außerdem gegen das Abwägungsgebot.

Nach § 1 Abs. 6 BauGB 1997 sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Bei einer Verkürzung der Abstandsflächen sind auch und vor allem die nachbarlichen Belange in die Abwägung einzustellen. Eine fehlerfreie Abwägung dieser Belange setzt voraus, dass die Gemeinde die abstandsflächenrechtlichen Folgen einer Verkürzung zutreffend beurteilt. Schon dieser Anforderung entspricht die Abwägung nicht, weil nicht bedacht wurde, dass infolge des Anbaus die Anwendbarkeit des 16 m-Privilegs insgesamt entfällt. Außerdem ist nicht zu ersehen, dass die Verkürzung durch hinreichend gewichtige Gründe der Bau- oder Ortsbildgestaltung oder durch überwiegende Interessen des Beigeladenen gerechtfertigt wäre. Das Baugrundstück hat einen regelmäßigen Zuschnitt. Der Antragsteller weist zutreffend darauf hin, dass es dem Beigeladenen möglich gewesen wäre, sein Wohnhaus unter Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften zu erweitern. Auch in der Begründung des Bebauungsplans ist die Möglichkeit erwähnt, dass der Beigeladene die bestehende Garage beseitigt, um sie 1,50 m weiter südlich wieder zu errichten. Angesichts dessen beruht die Festsetzung auf einer fehlerhaften Gewichtung der betroffenen Interessen. Dieser Mangel im Abwägungsvorgang ist offensichtlich und war auf das Abwägungsergebnis von Einfluss (§ 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB 1997).

2.2. Der Änderungsbebauungsplan ist insgesamt unwirksam.

Die Ungültigkeit eines Teils eines Bebauungsplans führt grundsätzlich zur Ungültigkeit der gesamten Satzung. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Festsetzungen ohne den ungültigen Teil eine sinnvolle städtebauliche Ordnung ergeben (objektive Teilbarkeit) und wenn nach dem mutmaßlichen Willen des Normgebers angenommen werden kann, dass er den Bebauungsplan notfalls auch ohne die unwirksamen Bestimmungen erlassen hätte (subjektive Teilbarkeit). Nach diesem Maßstab ist der Änderungsbebauungsplan insgesamt unwirksam, weil die Abstandsflächenverkürzung der Hauptzweck des Änderungsbebauungsplans ist. Mit ihr stehen und fallen auch die übrigen Regelungen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der auf der Seite der unterlegenen Antragsgegnerin stehende Beigeladene braucht keine Verfahrenskosten zu tragen, da er keinen Antrag gestellt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO). Er hat seine außergerichtlichen Kosten selbst zu tragen (§ 162 Abs. 3 VwGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).

Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Entscheidung in Nr. 1 der Urteilsformel nach Eintritt der Rechtskraft dieses Urteils ebenso veröffentlichen wie der Bebauungsplan bekannt zu machen wäre (§ 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB).

Beschluss:

Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 72 Nr. 1 Halbsatz 1 GKG neuer Fassung, § 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 6 GKG alter Fassung. Sie orientiert sich an Nr. II.7.7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung von 1996 (NVwZ 1996, 563).

Ende der Entscheidung

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