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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 13.04.2006
Aktenzeichen: 1 ZB 05.1429
Rechtsgebiete: WEG, VwGO, GKG


Vorschriften:

WEG § 3
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 124 a Abs. 5 Satz 5
GKG § 47 Abs. 1 Satz 1
GKG § 52 Abs. 2
GKG § 72 Nr. 1 Halbsatz 2
GKG § 63 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

1 ZB 05.1429

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Anfechtung einer Beseitigungsanordnung für einen Anbau (****** ******* ********* ********);

hier: Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 10. März 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 1. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof König, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Müller, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Langer

ohne mündliche Verhandlung am 13. April 2006

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Berufung wird zugelassen.

II. Das Verfahren wird unter dem Aktenzeichen 1 B 05.1429 fortgesetzt. Der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.

III. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird vorläufig auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen eine Beseitigungsanordnung für einen Wohnhausanbau.

Mit Bescheid vom 18. Februar 1998 erteilte das Landratsamt Starnberg der früheren Eigentümerin des Grundstücks Fl.Nr. 1619/14 Gemarkung Gilching (SIM Hausbau GmbH) die Baugenehmigung für die Errichtung eines (weiteren) Einfamilienhauses mit Garage und Stellplatz im rückwärtigen (nördlichen) Teil des Grundstücks (Siriusstr. 12 a), zusätzlich zu dem im vorderen (südlichen) Teil bereits vorhandenen Einfamilienhaus (Siriusstr. 12). Das Grundstück wurde anschließend an die Klägerin (Kaufvertrag vom 19.2.1998) und zwei weitere Käufer (Eheleute Jahreiß, Kaufvertrag vom 26.5.1998) zu Miteigentum veräußert und in der Folge gemäß § 3 Wohnungseigentumsgesetz (WEG) so aufgeteilt, dass die Klägerin das Sondereigentum an einer Teilfläche mit dem vorhandenen Einfamilienhaus und die zwei weiteren Miteigentümer das Sondereigentum an der für das neu zu errichtende Einfamilienhaus vorgesehenen Teilfläche erhielten. Der Baubeginn für den Neubau wurde für den 3. März 1999 angezeigt.

In zeitlicher Nähe zum Bau des Einfamilienhauses im rückwärtigen Grundstücksteil errichtete die Klägerin an der nordwestlichen, dem Neubau teilweise gegenüberliegenden Seite ihres Hauses einen zu Wohnzwecken genutzten Anbau mit einer Grundfläche von ca. 6,20 m x 3,00 m.

Mit Bescheid vom 4. Dezember 2003 ordnete das Landratsamt Starnberg gegenüber der Klägerin an, den ohne die erforderliche Genehmigung errichteten Anbau bis zwei Monate nach Bestandskraft des Bescheids so weit zu beseitigen, dass die gemäß Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen zwischen den Gebäuden Siriusstr. 12 und 12 a eingehalten werden; das Ausmaß des zu beseitigenden Bauteils (mit einer Grundfläche von ca. 2,70 m x 2,50 m) wurde in einer beigefügten Planskizze näher bezeichnet. Weiter wurde der Klägerin aufgegeben, im Fall des teilweisen Rückbaus frühzeitig vor Durchführung der Maßnahme einen Abstandsflächennachweis zur Prüfung vorzulegen und für den verbleibenden Restbestand innerhalb von vier Wochen nach Durchführung der Maßnahme einen ordnungsgemäßen Bauantrag einzureichen. Für den Fall der Nichtbefolgung der Beseitigungsanordnung wurde ein Zwangsgeld angedroht. Die weiteren Miteigentümer des Grundstücks wurden zur Duldung der Maßnahmen verpflichtet. Zur Begründung führte das Landratsamt aus, dass zwischen den Gebäuden Siriusstr. 12 und 12 a Abstandsflächen mit einer Tiefe von insgesamt 7,50 m erforderlich seien, der Gebäudeabstand in dem betroffenen Teilbereich jedoch lediglich 4,50 m betrage. Hierdurch seien schutzwürdige nachbarliche Belange sowie öffentliche Belange des Brandschutzes berührt. Bei der Anordnung der teilweisen Beseitigung sei berücksichtigt, dass der Rückbau bautechnisch zu bewältigen und der dann verbleibende Bestand genehmigungsfähig sei. Eine Abweichung von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts könne nicht zugelassen werden, weil die betroffenen nachbarlichen Interessen und die Belange des Brandschutzes aufgrund ihres besonderen Gewichts und Stellenwerts bei der Abwägung Vorrang gegenüber dem Interesse am Verbleib des Anbaus hätten.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Regierung von Oberbayern mit Widerspruchsbescheid vom 17. März 2004 zurück.

Die Anfechtungsklage der Klägerin hatte Erfolg. Das Verwaltungsgericht München hob mit Urteil vom 10. März 2005 die Beseitigungsanordnung auf, weil diese wegen einer völlig einseitigen Überbewertung nachbarlicher Interessen zulasten der Klägerin ermessensfehlerhaft sei.

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung macht der Beklagte ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache sowie eine Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geltend.

Die Klägerin beantragt, den Zulassungsantrag abzulehnen.

II.

Der Zulassungsantrag hat Erfolg.

Die Berufung ist gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil aus den von dem Beklagten dargelegten Gründen (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO) ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen. Die - für die Entscheidung tragende - Annahme des Verwaltungsgerichts, die Beseitigungsanordnung sei ermessensfehlerhaft ergangen, begegnet ernsthaften Zweifeln.

Mit den Bauaufsichtsbehörden und dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass der von der Klägerin errichtete Anbau eine formell und materiell rechtswidrige Anlage darstellt. Das Vorhaben ist ohne die nach Art. 62 Satz 1 BayBO erforderliche Baugenehmigung verwirklicht worden. Es steht im Widerspruch zu der (öffentlich-rechtlichen) Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO, weil sich seine Abstandsfläche teilweise mit der Abstandsfläche des gegenüberliegenden genehmigten Einfamilienhauses (Neubau) überdeckt. Zutreffend weist das Verwaltungsgericht auch darauf hin, dass sich an der materiellen Rechtswidrigkeit nichts dadurch ändert, dass im Zeitpunkt der Genehmigungserteilung für den Neubau bei dem Anwesen der Klägerin - an der Stelle des Anbaus - bereits eine genehmigungspflichtige, jedoch nicht genehmigte überdachte Terrasse vorhanden war. Damit liegen grundsätzlich die Voraussetzungen vor, unter denen die Bauaufsichtbehörde gemäß Art. 82 Satz 1 BayBO die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlage anordnen kann. Lässt man die Frage der Zulassung einer Abweichung (Art. 70 Abs. 1 BayBO) zunächst außer Betracht, so ist eine fehlerhafte Ausübung des - gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbaren (§ 114 Satz 1 VwGO) - Ermessens (Art. 40 BayVwVfG) nicht ersichtlich. Insbesondere hat das Landratsamt den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, indem es die Beseitigungsanordnung auf das Maß, das für die Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächenvorschriften erforderlich ist, beschränkt und im übrigen auf eine Legalisierung des verbleibenden größeren Teil des Anbaus hingewirkt hat.

Das Verwaltungsgericht ist der Auffassung, dass die Beseitigungsanordnung ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig sei, weil das Landratsamt bei der Prüfung, ob durch die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften ein rechtmäßiger Zustand hergestellt werden kann, die nachbarlichen Interessen einseitig überbewertet und die für die Klägerin günstigen Umstände nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt habe. Ob die vom Verwaltungsgericht angeführten Gesichtspunkte und Erwägungen geeignet sind, den Vorwurf einer fehlerhaften Ermessensausübung zu begründen, erscheint indes ernsthaft fraglich.

Nicht einleuchtend ist zunächst die Erwägung, dass sich die abstandsrechtliche Position des ungenehmigten Anbaus der Klägerin gegenüber dem genehmigten Einfamilienhaus-Neubau dadurch verbessern soll, dass sich an der Stelle des Anbaus zuvor eine gleichfalls ungenehmigte überdachte Terrasse befunden hatte. Jedenfalls sehr weit hergeholt ist der Gedanke des Verwaltungsgerichts, das Landratsamt sei gehalten gewesen, die bei der Baukontrolle am 30. März 1998 festgestellte ungenehmigte Terrasse gegebenenfalls noch nachträglich bei der Situierung des genehmigten, aber noch nicht begonnenen Neubaus zu berücksichtigen. Unzutreffend ist schließlich die Annahme, dass die nachbarlichen Belange deshalb nicht bzw. nicht derart schützenswert seien, dass ihnen bei der Abwägung der Vorrang eingeräumt werden könnte, weil die Inhaber des Sondereigentums am Anwesen Siriusstr. 12 a im Verhältnis zur Klägerin lediglich Miteigentümer eines nach dem Wohnungseigentumsgesetz geteilten Grundstücks seien. Der Beurteilungsmaßstab für die Zulassung einer Abweichung durch die Bauaufsichtsbehörde ergibt sich aus Art. 70 Abs. 1 BayBO in Verbindung mit der jeweiligen gesetzlichen Anforderung, hier: dem Überdeckungsverbot des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO. Das Gewicht der dabei zu würdigenden nachbarlichen Interessen wird nicht dadurch gemindert, dass ein einzelner Wohnungseigentümer möglicherweise Einschränkungen unterliegt, wenn er selbst baurechtliche Nachbarrechte wegen einer Beeinträchtigung seines Sondereigentums geltend machen will (vgl. zu dieser Frage die Beschlüsse des Senats vom 2.10.2003 NVwZ-RR 2004, 248 = BayVBl 2004, 664 und vom 12.9.2005 BauR 2006, 501).

Im Übrigen bestehen auch Bedenken gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu der Frage, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung (und damit für die Ausübung des "Abweichungsermessens") vorliegen. Die Zulassung einer Abweichung gemäß Art. 70 Abs. 1 BayBO stellt kein beliebig heranzuziehendes Reparaturmittel für Gesetzesverstöße dar. Sie setzt deshalb eine atypische, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfasste oder bedachte Fallgestaltung voraus, die den Einsatz dieses Instruments rechtfertigt und zugleich begrenzt. Für das Vorliegen eines solchen Sonderfalls gibt es vorliegend keine Anhaltspunkte. Die in der Baugenehmigung vom 18. Februar 1998 vorgenommene versetzte Situierung der beiden Einfamilienhäuser zielt vielmehr gerade auf eine bauliche Nutzung des Grundstücks Fl.Nr. 1619/4, die dem gesetzlichen Regelfall und Leitbild überdeckungsfreier Abstandsflächen (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BayBO) entspricht. Ein - vom Verwaltungsgericht angenommener - besonderer sachlicher Grund, für eine im Widerspruch hierzu errichtete bauliche Anlage eine Abweichung zu erteilen, ist deshalb schwerlich erkennbar.

Die zur Zulassung der Berufung führenden Zweifel werden nicht dadurch ausgeräumt, dass sich das angefochtene Urteil aus anderen Gründen, die sich im Zulassungsverfahren abschließend beurteilen lassen, als richtig erweist. Insbesondere macht die vergleichsweise lange Zeitdauer, die zwischen der Errichtung des ungenehmigten Anbaus im Jahre 1998 oder 1999 und der Einleitung des Beseitigungsverfahrens Anfang 2003 besteht, die Beseitigungsanordnung ohne Hinzutreten weiterer Umstände noch nicht ermessensfehlerhaft. Den vorliegenden Akten lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass das Landratsamt den Anbau zu irgendeinem Zeitpunkt für genehmigungsfähig gehalten, sich zur Duldung des Anbaus entschlossen oder sonst gegenüber der Klägerin einen Vertrauenstatbestand gesetzt hätte.

Die Folgen der Zulassung (Nr. II der Entscheidungsformel) ergeben sich aus § 124 a Abs. 5 Satz 5 VwGO. Über die Kosten wird im Berufungsverfahren entschieden, weil die Kosten des Zulassungsverfahrens Teil der Kosten des Berufungsverfahrens sind.

Die vorläufige Festsetzung des Streitwerts richtet sich nach § 72 Nr. 1 Halbsatz 2, § 63 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2, § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG. An die Stelle der vorläufigen Streitwertfestsetzung tritt während oder am Ende des Verfahrens die endgültige Festsetzung.

Belehrung

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (in München Hausanschrift: Ludwigstraße 23, 80539 München; Postfachanschrift: Postfach 34 01 48, 80098 München; in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach) einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss

einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Wegen der Verpflichtung, sich im Berufungsverfahren vertreten zu lassen, wird auf die Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Entscheidung verwiesen. Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.

Hinweis

Zur Darlegung der Berufungsgründe (§ 124 a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO) kann, soweit dadurch Wiederholungen vermieden werden, auf die Begründung des Zulassungsantrags Bezug genommen werden (§ 551 Abs. 3 Satz 2 ZPO in entsprechender Anwendung). Die Verpflichtung, einen Berufungsantrag zu stellen, bleibt hiervon unberührt.

Ende der Entscheidung

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