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Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 11.12.2008
Aktenzeichen: 11 B 03.31261
Rechtsgebiete: AufenthG, Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie - QRL)


Vorschriften:

AufenthG § 60 Abs. 1
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie - QRL) Art. 4 Abs. 4
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie - QRL) Art. 8 Art. 9
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (Qualifikationsrichtlinie - QRL) Art. 10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

11 B 03.31261

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Asylrechts;

hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 09. Oktober 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 11. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Breit, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Beck

ohne mündliche Verhandlung am 11. Dezember 2008

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Es werden aufgehoben: 1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 9. Oktober 2003, 2. der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. April 2002 in der Nr. 2.

II. Von den Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen die Beklagte 4/8 und die Beigeladenen jeweils 1/8.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beigeladene zu 1), seine Ehefrau, die Beigeladene zu 2), sowie die beiden minderjährigen Kinder, Beigeladene zu 3) und 4), nach eigenen Angaben russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Beigeladene zu 4) ist nach der Einreise der übrigen Beigeladenen am 22. Februar 2002 in das Bundesgebiet hier am 10. März 2002 geboren.

Bei der Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 2. April 2002 gaben die Beigeladenen zu 1) und 2) an, vor der Ausreise in Urus-Martan in der Tschetschenischen Republik gewohnt zu haben. Sie hätten ihren Heimatort am 11. Februar 2002 verlassen, um sich nach Grosnj zu begeben. Von dort seien sie mit einem LKW in die Bundesrepublik Deutschland gebracht worden. Einen Reisepass hätten sie nicht besessen, ihr Inlandspass sollte vom Schlepper an Verwandte in Urus-Martan zurückgeschickt werden. Sie hätten in keinem anderen Land Asyl oder die Anerkennung als Flüchtling beantragt. Sie seien wegen dem Bürgerkrieg in Tschetschenien geflohen. In ihrem Heimatland hätten sie sich nicht politisch betätigt.

Durch Bescheid vom 3. April 2002 lehnte das Bundesamt die Anträge der Beigeladenen auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Nr. 1 des Bescheidtenors) und sprach aus, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Russischen Föderation vorliegen (Nr. 2 des Bescheidtenors). Auf die Gründe des Bescheides wird Bezug genommen.

Mit Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg begehrte der Kläger die Aufhebung des Bundesamtsbescheides, soweit darin die Feststellung gemäß § 51 Abs. 1 AuslG getroffen wurde. Im Klageverfahren legte die Beklagte ein anonymes Schreiben vor, das beim Ausländeramt der Stadt Passau eingegangen war. Darin wird mitgeteilt, dass die Beigeladenen zwar tschetschenischer Nationalität seien, aber nicht in Tschetschenien gelebt hätten. Sie hätten in Kirgisien gewohnt und seien kurz vor dem Krieg nach Russland gegangen; sie hätten in der Stadt Lipezk gewohnt. Mit ausgestellten Reisepässen seien sie als Touristen nach Polen ausgereist und hätten dort Antrag auf Asyl gestellt. Um nicht abgeschoben zu werden, seien sie nach Deutschland weiter gefahren. Eine Anhörung der Beigeladenen im Klageverfahren erfolgte nicht. Mit Urteil vom 9. Oktober 2003 wurde die Klage abgewiesen. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass den Beigeladenen aufgrund ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit eine Rückkehr nach Tschetschenien, aber auch in die übrige Russische Föderation, nicht zumutbar sei.

Mit der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung beantragt der Kläger, unter Abänderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach seinem Klageantrag zu erkennen.

Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts könne schon deshalb keinen Bestand haben, weil sie von der Rechtsprechung des erkennenden Senats abweiche. Soweit es die allgemeine Lage tschetschenischer Volkszugehöriger aus der Russischen Föderation anbelange, werde für diese in der instanzgerichtlichen Spruchpraxis derzeit landesweit hinreichende Sicherheit vor an die Volkszugehörigkeit anknüpfenden Gefährdungen bejaht bzw. festgestellt, dass im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2004/83/EG stichhaltige Gründe dagegen sprächen, dass bei Rückkehr nach Tschetschenien erneut etwaig an die Ethnie und Herkunft anknüpfende Verfolgung oder sonstiger ernsthafter Schaden drohe, soweit Rückkehrer ohne Bezug zum Maschadow-Regime bzw. zu den tschetschenischen Rebellen seien.

Die Beklagte teilte mit Schreiben vom 9. Dezember 2006 mit, dass die Beigeladenen seit 1. Februar 2006 unbekannt verzogen seien. Weiter wurde mit Schreiben vom 13. Dezember 2007 ausgeführt, dass Recherchen bei den polnischen Behörden ergeben hätten, dass die Beigeladenen (außer dem Beigeladenen zu 4)) in Polen am 13. Dezember 2001 Asyl beantragt hätten. Sie hätten angegeben, aus dem Ort Krasnyj Partisandski in der Russischen Föderation zu kommen. Sie seien mit gültigen Reisepässen über den Grenzübergang Terespol nach Polen eingereist. Seit dem 22. Februar 2002 seien sie in Polen unbekannten Aufenthalts. Daher seien ihre Asylanträge am 11. April 2002 von Polen abgelehnt worden.

Die Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen beantragen, die Berufung zurückzuweisen.

Sie teilten mit, dass ihre Ermittlungen ergeben hätten, dass sich die Beigeladenen im Ausland, allerdings nicht im Heimatland, aufhalten. Eine aktuelle Anschrift der Beigeladenen im Ausland sei ihnen nicht bekannt. Die Berufung sei aus den Gründen des Urteils des Verwaltungsgerichts zurückzuweisen.

Auf eine mündliche Verhandlung wurde allseits verzichtet.

Ergänzend wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, insbesondere auch auf die Liste der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel nach dem Stand vom 15. Oktober 2008 sowie die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Entscheidungen des Senats, und den beigezogenen Vorgang des Bundesamtes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Beigeladenen zu Unrecht Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts war daher der Bescheid des Bundesamts vom 3. April 2002 in Nr. 2 aufzuheben.

Da der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG auf die im Zeitpunkt seiner Entscheidung bestehende tatsächliche und rechtliche Situation abzustellen hat, ist die Prüfung der Frage, ob den Beigeladenen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist (vgl. § 3 Abs. 1 AsylVfG n.F.), anhand des § 60 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970), insoweit in Kraft getreten am 28. August 2007, vorzunehmen.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, der inhaltlich der Regelung des früheren § 51 Abs. 1 AuslG entspricht (vgl. Begründung des Entwurfs der Bundesregierung für das Zuwanderungsgesetz, BT-Drs. 15/420 S.91), darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen eines asylrelevanten Merkmals durch eine der in § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG genannten Kräfte bedroht ist. Einer Gefährdung des Lebens und der persönlichen Freiheit stehen allgemeiner Auffassung zufolge (vgl. z.B. BVerfG vom 4.2.1959 BVerfGE 9, 174/181; BVerfG vom 2.7.1980 BVerfGE 54, 341/357; BVerfG vom 10.7.1989 BVerfGE 80, 315/333) Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit gleich; in § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG hat dies nunmehr auch positiv-rechtlichen Niederschlag gefunden. Beeinträchtigungen anderer Rechtsgüter als Leib, Leben oder persönliche Freiheit begründen einen Anspruch auf Schutz vor politischer Verfolgung dann, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (vgl. BVerfG vom 2.7.1980, ebenda). Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG Art. 4 Abs. 4 sowie Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 304/12; nachfolgend "Qualifikationsrichtlinie" - QRL - genannt) ergänzend anzuwenden.

Die Beantwortung der Frage, welche Wahrscheinlichkeit die in § 60 Abs. 1 AufenthG vorausgesetzte Gefahr aufweisen muss, hängt davon ab, ob der Schutz suchende Ausländer seinen Herkunftsstaat bereits auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist (vgl. BVerfG vom 10.7.1989 a.a.O.; BVerwG vom 26.3.1985 BVerwGE 71, 175 ff.). War er noch keiner asylrechtlich beachtlichen Bedrohung ausgesetzt, kommt es bei der anzustellenden Prognose darauf an, ob ihm bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit "beachtlicher" Wahrscheinlichkeit droht (vgl. BVerwG vom 29.11.1977 Buchholz 402.23 § 28 AuslG Nr. 11). Wurde ein Ausländer demgegenüber bereits im Herkunftsland politisch verfolgt, so greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab ein: Er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein (vgl. BVerfG vom 2.7.1980, a.a.O., S. 360). Dieser herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist auch bei solchen Ausländern anzuwenden, die persönlich unverfolgt ausgereist sind, jedoch einer Gruppe angehören, deren Mitglieder im Herkunftsstaat zumindest regional kollektiv verfolgt wurden (vgl. BVerwG vom 9.9.1997 BVerwGE 105, 204/208). Das gilt auch dann, wenn diese (regionale) Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand erst nach der Ausreise des Schutzsuchenden auftritt; denn für den Angehörigen einer solchen Gruppe hat sich das fragliche Land nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen (vgl. BVerwG vom 9.9.1997, ebenda). Beschränkt sich die Gruppenverfolgung auf einen Teil des Herkunftslandes, so kommt für die gruppenzugehörigen Personen in diesem Staat nur ein Gebiet als inländische Fluchtalternative in Betracht, in dem sie vor Verfolgung "hinreichend sicher" sind (vgl. BVerwG vom 9.9.1997, ebenda).

Nach der Auffassung des Senats gelten die Grundsätze zum Prognosemaßstab bei der Anerkennung von Flüchtlingen - zumindest im Kern - auch nach der ausdrücklichen Übernahme zahlreicher Normen der Qualifikationsrichtlinie in das deutsche Recht fort (vgl. zuletzt BayVGH vom 17.4.2008 11 B 08.30038 und vom 16.6.2008 11 B 07.30185). Denn nach Art. 4 Abs. 4 QRL, der gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG ergänzend anzuwenden ist, stellt der Umstand, dass der Schutz suchende Ausländer bereits verfolgt wurde oder er einen sonstigen ernsthaften Schaden (vgl. Art. 15 QRL) erlitten hat bzw. er von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, es sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Mit seiner Entscheidung vom 7. Februar 2008 (Az. 10 C 33/07, ZAR 2008, 192 f.) hat das Bundesverwaltungsgericht im Fall eines einen irakischen Flüchtling betreffenden Asylwiderrufs ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gerichtet, in dem u.a. auch die Frage etwaiger Auswirkungen der Neuregelung in Art. 4 Abs. 4 QRL auf den Prognosemaßstab aufgeworfen wird. Das Bundesverwaltungsgericht geht dabei in seiner Vorlageentscheidung davon aus, dass weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Richtlinie einen Maßstab dafür angeben, wie wahrscheinlich die Verfolgungsgefahr sein muss, damit die Furcht des Flüchtlings als begründet angesehen werden kann. Es stellt weiter fest, dass die Anwendung der Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nach seiner Auffassung in der Praxis bei Widerrufsfällen zu gleichen Ergebnissen führen wird, wie die bisherige Anwendung der Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe (vgl. auch BVerwG vom 20.3.2007 BayVBl 2007, 632 f., wo darauf hingewiesen wird, dass die in Art. 4 Abs. 4 QRL vorgesehene Beweiserleichterung auf tatsächlicher Ebene nur im Falle einer Vorverfolgung eingreift).

Die Beigeladenen wurden vor ihrer Ausreise nicht individuell verfolgt. Sie haben selbst nicht vorgetragen, vor ihrer Ausreise individuellen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen zu sein. Nach ihrer eigenen Einlassung fürchteten sie wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien um ihre körperliche Unversehrtheit. Es stellt sich hier aber nicht die Frage, ob die Tschetschenien lebenden Tschetschenen zum Ausreisezeitpunkt der Beigeladenen als Gruppe verfolgt wurden, da sich die Beigeladenen damals nicht in Tschetschenien, sondern im südlichen Russland aufgehalten haben. Die Schilderung der Beigeladenen im Anhörungsverfahren, dass sie sich vor der Ausreise in Tschetschenien aufgehalten und sie Schlepper von Grosnj aus nach Deutschland gebracht hätten, ist nicht glaubhaft. Wie Nachforschungen der Beklagten ergeben haben, sind die Beigeladenen mit gültigen Reisepässen über den Grenzübergang Terespol nach Polen ausgereist und haben dort am 13. Dezember 2001 Asyl beantragt. Sie haben dabei angegeben, aus einem Ort Krasnyj Partisandski in der Russischen Föderation zu kommen. Insoweit hat sich die Schilderung in dem anonymen Schreiben bestätigt, dass die Beigeladenen vor ihrer Ausreise nicht in Tschetschenien gelebt hätten, sondern im südlichen Russland und von dort aus mit Reisepässen als Touristen nach Polen ausgereist seien. Außerhalb von Tschetschenien, insbesondere auch im südlichen Russland, fand zum Ausreisezeitpunkt der Beigeladenen aber keine Gruppenverfolgung dort angesiedelter tschetschenischer Volkzugehöriger statt. Insoweit wird auf die in das Verfahren einbezogene Entscheidung des Senats vom 16. Juni 2008 (11 B 07.30185) Bezug genommen. Der Senat hatte dort auch unter Bezug auf die Entscheidung des OVG Bremen vom 23. März 2005 (Az. 2 A 116/03, RdNr. 69 f.) ausgeführt, dass bei Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges mehr als zwei Drittel aller Tschetschenen in anderen russischen Regionen bzw. in GUS-Staaten gelebt haben, wobei mehr als die Hälfte aller russischen Tschetschenen in der Russischen Föderation sich im Jahre 2000 vor allem in Moskau oder dem südlichen Russland befunden haben sollen. Die genannten Gebiete seien verfolgungssichere Orte außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation gewesen. Diese Feststellungen gelten auch für den Ausreisezeitpunkt der Beigeladenen im Dezember 2001. Denn soweit in der Entscheidung des Senats des OVG Bremen festgestellt wurde, dass die Häufigkeit und Intensität von Kontrollmaßnahmen und Übergriffen der Behörden nicht für eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens ausreichten, sind diese Übergriffe nach den dortigen Feststellungen insbesondere auch Reaktionen auf die Bombenattentate in Moskau im Herbst 1999 gewesen und in der Folgezeit wieder zurück gegangen.

Da die Beigeladenen unbekannten Aufenthalts sind, ist eine weitere Aufklärung des Sachverhalts durch eine informatorische Anhörung der Beigeladenen im Berufungsverfahren nicht möglich. Dies geht insoweit zu Lasten der Beigeladenen als sie mit ihrem bisherigen Vortrag im Anhörungsverfahren vor dem Bundesamt eine Vorverfolgung nicht glaubhaft machen konnten. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 6. August 1996 (BVerwGE 101, 323 f.) ausgeführt hat, führt die Tatsache, dass der zum Rechtsstreit beigeladene Asylbewerber inzwischen unbekannten Aufenthalts ist, nicht schon dazu, dass der Klage des Bundesbeauftragten gegen die Gewährung von Abschiebungsschutz bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stattzugeben sei. Auf den materiellen Anspruch wirke das Fehlen eines Sachbescheidungsinteresses als Sachentscheidungsvoraussetzung im Verwaltungsverfahren nicht derart ein, dass dieser Anspruch nicht entstehe oder bei späterem Wegfall erlösche und der Bescheid somit materielle rechtswidrig sei oder werde. Der vor dem Bundesamt erfolgreiche Asylbewerber sei allerdings auch als Beigeladener im Rechtsstreit des Bundesbeauftragten gegen das Bundesamt gemäß § 10 Abs. 1 AsylVfG verpflichtet, für das Gericht erreichbar zu sein. Mache der beigeladene Asylbewerber eine weitere Aufklärung unmöglich, weil er unbekannten Aufenthalts ist, so gehe dies zu seinen Lasten, insbesondere wenn die Glaubhaftigkeit seiner Angaben nicht festgestellt werden könne und deshalb nach Beweislastgrundsätzen zu entscheiden sei. Dieser Rechtsauffassung schließt sich der Senat an.

Die Beigeladenen gehören weiter keiner Gruppe an, deren Mitglieder in der Russischen Föderation heute allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QRL verfolgt werden. Denn nach der Rechtsprechung des Senats drohen weder in Tschetschenien selbst noch in anderen Teilen Russlands den dort bereits auf Dauer ansässigen Angehörigen dieser Ethnie oder Tschetschenen, die aus dem westlichen Ausland zurückgekehrt sind, Maßnahmen, denen nach § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QRL ggf. Rechtserheblichkeit zukommt, in derartiger Häufigkeit, dass die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung als erfüllt angesehen werden können. Insoweit wird auf die entsprechenden Ausführungen in der in das Verfahren einbezogenen Entscheidung des Senats vom 17. April 2008 (Az. 11 B 08.30038) und auf die dort verwiesene Entscheidung vom 31. August 2007 (Az. 11 B 02.31724) Bezug genommen.

Da die Beigeladenen somit weder vorverfolgt ausgereist sind noch sich die Russische Föderation für die Beigeladenen als tschetschenische Volkszugehörige nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen hat, findet auf sie der allgemeine asylrechtliche Prognosemaßstab der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit" Anwendung. Die Beigeladenen müssen bei einer Rückkehr in die Russische Föderation oder im Anschluss an eine Abschiebung dorthin aber nicht befürchten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. Art. 9 f. QRL zu erleiden. Eine Furcht der Beigeladenen vor Verfolgung bei Rückkehr in die Russische Föderation ist nicht im Sinne von Art. 2 Buchst. c QRL begründet.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt eine Verfolgungsgefahr vor, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, so dass eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG vom 23.2.1988 Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 80; vom 23.7.1991 BVerwGE 88, 367; vom 5.11.1991 BVerwGE 89, 162). Diese Grundsätze hat das Bundesverwaltungsgericht auch in seiner Vorlageentscheidung vom 7. Februar 2008 (a.a.O.) herausgestellt und die beachtliche Wahrscheinlichkeit als "real risk" einer Verfolgung bezeichnet. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht an den Begriff der "begründeten Furcht" vor Verfolgung angeknüpft, der nach der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 1 A Nr. 2 GFK) und der Richtlinie 2004/83/EG (Art. 2 Buchst. c) zentraler Bestandteil des Flüchtlingsbegriffs ist.

Die Beigeladenen können sowohl nach Tschetschenien als auch in andere Teile der Russischen Föderation zurückkehren. Sie müssen weder bei der Einreise noch im weiteren Verlauf ihres Aufenthalts in der Russischen Föderation befürchten, Maßnahmen im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, Art. 9 f. QLR ausgesetzt zu sein.

Solange der Tschetschenien-Konflikt nicht endgültig gelöst ist, ist zwar davon auszugehen, dass die russischen Behörden abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit widmen. Dass die russischen oder tschetschenischen Sicherheitskräfte ein über die routinemäßige Überprüfung rückkehrender Tschetschenen hinausgehendes Interesse an den Beigeladenen haben könnten, wurde aber weder von ihnen geltend gemacht noch ist dies ersichtlich. Die Beigeladenen haben sich weder politisch betätigt noch haben sie von Schwierigkeiten mit den Behörden berichtet. Berichte von Menschenrechtsorganisationen, dass abgeschobene Tschetschenen bereits in Zusammenhang mit dem Einreisevorgang ihrer Freiheit beraubt, misshandelt oder erpresst worden seien, haben sich bezüglich aus Deutschland rückgeführter Tschetschenen nicht bestätigt (vgl. im einzelnen BayVGH vom 17.4.2008 a.a.O.).

Soweit tschetschenischen Volkszugehörigen keine tatsächliche oder unterstellte frühere Mitwirkung bzw. Einbindung bei den Rebellentruppen oder im Regime Maschadow entgegengehalten werden kann, können diese heute ohne asylrelevante Gefährdung nach Tschetschenien zurückkehren (vgl. BayVGH vom 16.6.2008 a.a.O., vom 17.4.2008 a.a.O., vom 31.8.2007 11 B 02.31724, ebenso Hessischer VGH vom 21.2.2008 InfAuslR 2008, 271 f.; OVG Sachsen-Anhalt vom 31.7.2008 2 L 23/06). Wie oben ausgeführt geht der Senat davon aus, dass die Beigeladenen bereits einige Zeit vor ihrer Ausreise nicht mehr in Tschetschenien gelebt haben, so dass sie bei einer jetzigen Rückkehr nach Tschetschenien auch nicht befürchten müssen, dass ihnen eine Zusammenarbeit mit den Rebellen unterstellt werden kann.

Die Beigeladenen können sich nach ihrer Einreise auch an anderen Orten der Russischen Föderation niederlassen, ohne mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch asylrelevante Übergriffe bedroht zu sein. Insbesondere können sich die Beigeladenen nach ihrer Rückkehr unter wesentlich erleichterten Voraussetzungen wieder an ihrem letzten Aufenthaltsort in der Russischen Föderation aufhalten. Zur Legalisierung des Aufenthalts an einem grundsätzlich frei zu wählenden Aufenthaltsort bedarf es einer Registrierung. Die Registrierung ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, zu staatlich geförderten Wohnungen, zum (prinzipiell) kostenlosen Gesundheitssystem, zum legalen Arbeitsmarkt sowie für den Bezug von Kindergeld und Rente (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 13.1.2008 S. 27, Memorial "Zur Lage der Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation" August 2006 - Oktober 2007 S.8/9). Zwar bedarf es oftmals größerer Anstrengung tschetschenischer Volkszugehöriger diese Registrierung außerhalb Tschetscheniens zu erreichen (vgl. im Einzelnen z.B. BayVGH vom 31.1.2005 11 B 02.31597). Diese Schwierigkeiten bestehen aber nicht, wenn die Beigeladenen an ihren letzten Aufenthaltsort zurückkehren. Personen, die einmal im Besitz einer Wohnsitzregistrierung an einem bestimmten Ort sind, sind berechtigt, an diesem Ort zu wohnen und dorthin zurückzukehren, auch wenn sie sich vorübergehend in einer anderen Region oder im Ausland aufgehalten haben. Eine Abmeldung von Amts wegen gibt es in der Russischen Föderation nicht (vgl. z.B. Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Berlin vom 22. November 2005, Bericht der Deutschen Botschaft Moskau an das BAMF vom 3. April 2006 und 19. Juli 2007). Aber auch anderen Orten in der Russischen Föderation können die Beigeladenen eine Registrierung erhalten. Soweit es einige Monate dauern sollte, bis sie eine Registrierung erhalten können, kann dieser Zeitraum durch Rückkehrhilfen nach dem REAG-/GARP Programm und Aushilfstätigkeiten überbrückt werden (vgl. BayVGH vom 31.1.2005 a.a.O., vom 17.4.2008 a.a.O., vom 16.6.2008 a.a.O.).

Die Kläger müssen bei ihrer Rückkehr in die Russische Föderation auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten, Übergriffen anderer Bevölkerungsgruppen ausgesetzt zu sein, die sich der russische Staat nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG bzw. Art. 6 Buchst. c QRL dann zurechnen lassen müsste, falls er nicht willens oder nicht in der Lage wäre, vor solchen Angriffen Schutz zu bieten. Nach Darstellung der Nichtregierungsorganisation "Sova" gab es 2007 in der Russischen Föderation etwa 600 Verletzte und 69 Tote bei fremdenfeindlichen Angriffen (vgl. "Erkenntnisse des Bundesamtes" März 2008 S. 7). Setzt man diese Zahlen in Relation zu den 142 Millionen Menschen (vgl. "Erkenntnisse des Bundesamtes" vom Oktober 2007, S. 13), die in der Russischen Föderation leben und von denen viele den mehr als hundert anerkannten ethnischen Minoritäten angehören (vgl. Abschnitt II.1.b des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 26.3.2004), kann nicht davon gesprochen werden, rassistisch motivierte Übergriffe seien in diesem Land in herausragender Häufigkeit zu verzeichnen. Im Übrigen betreffen die fremdenfeindlichen Vorkommnisse in der Russischen Föderation, die insbesondere von rechtsradikalen russischen Kräften verübt werden, nicht in erster Linie tschetschenische Volkszugehörige, sondern Angehörige andere Volksgruppen - namentlich Schwarzafrikaner, Asiaten mit mongolischem Erscheinungsbild, Menschen aus dem indischen Kulturkreis, andere Kaukasier als Tschetschenen sowie auch ethnische Russen (vgl. BayVGH vom 17.4.2008 a.a.O.).

Im Übrigen entspricht es ständiger Rechtsprechung des Senats, dass politisch unverdächtige, gesunde und erwerbsfähige Tschetschenen wie die Beigeladenen in den meisten Teilen der Russischen Föderation sogar hinreichend sicher vor politischer Verfolgung sind, ihnen dort eine inländische Fluchtalternative im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Sätze 4 und 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL zur Verfügung steht (vgl. BayVGH vom 31.1.2005 a.a.O., vom 19.6.2006 11 B 02.31598, vom 24.10.2007 11 B 03.30707, vom 24.4.2007 11 B 03.30133).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Absätze 1 und 3 VwGO. Da die Beigeladenen in beiden Rechtszügen Anträge gestellt haben, mit denen sie der Sache nach unterlegen sind, konnten ihnen ebenfalls Kosten auferlegt werden. Die Verteilung der Kostenlast beruht auf § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne von § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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