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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 20.04.2005
Aktenzeichen: 12 B 00.3611
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 34
SGB VIII § 35 a
SGB VIII § 89 c
SGB VIII § 89 f
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 B 00.3611

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilfe;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 25. Oktober 2000,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 20. April 2005

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Der Beschluss ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Der Kläger, ein Träger der Jugendhilfe, fordert vom Beklagten die Erstattung der Kosten für vom Kläger eingeleitete und nach dem Umzug der Eltern in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten fortgesetzte Maßnahmen der Jugendhilfe.

Bei dem 1978 geborenen, mehrsprachig aufgewachsenen Jugendlichen, der zwei Klassen der Grundschule übersprang, zeigten sich bereits in der Grundschule Verhaltensauffälligkeiten. Nach Untersuchungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität H. und des Psychologischen Instituts der Universität T. lagen bei dem Jugendlichen Anzeichen für eine Hochbegabung vor. Ausgelöst durch seine Unterforderung beteiligte sich der Jugendliche kaum mehr am Unterricht und geriet in die Rolle des hochmütigen, gelangweilten Außenseiters. Wegen seiner russischen Vorfahren verglich der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität H. den Jugendlichen mit der Figur des Oblomow in dem gleichnamigen Roman von Iwan A. Gontscharow. Trotz seiner Begabung traten bei dem Jugendlichen, bedingt durch das fordernde Verhalten der Eltern, Leistungsstörungen auf, die in Verbindung mit Rückzugstendenzen zu Ängsten und Verweigerungshaltungen führten.

Auf Antrag der Eltern bewilligte der Kläger 1990 Jugendhilfe nach § 5 und § 6 JWG durch Übernahme der Kosten für den Besuch einer Privatschule mit angeschlossenem Internat. Nachdem die an dieser Schule in der 9. Jahrgangsstufe vorgesehene Klasse für Hochbegabte nicht zustande gekommen war, meldete der Vater ohne Absprache mit dem Jugendamt den Jugendlichen an einer weiteren Schule desselben Schulträgers in B. an, wo er der Hochbegabten-Klasse zugewiesen wurde. Daraufhin stellt der Kläger vorübergehend die Hilfeleistungen ein, weil der Jugendliche in dieser Klasse überfordert sei. Auf den Widerspruch der Eltern setzte der Kläger 1992 die Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung nach § 27 und § 34 SGB VIII fort. In einem Vermerk vom 4. Dezember 1992 und in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 8. März 1994 ist festgehalten, dass zur Persönlichkeitsentwicklung des Jugendlichen, der sozial isoliert, komplexbeladen und realitätsfern sei, eine Unterbringung außerhalb des Elternhauses pädagogisch angezeigt sei, zumal die Dispositionen der Eltern der eigenständigen Entwicklung des Jugendlichen nicht förderlich seien. Der Jugendliche benötige nach wie vor intensive pädagogische und psychologische Unterstützung zur Entwicklung eines stabilen Selbstvertrauens. Zweifel, ob der Jugendliche angesichts der fortdauernden schulischen Leistungsschwäche in der Hochbegabten-Klasse überfordert sei, stellte der Kläger zurück. Als die Schule in B. den Jugendlichen zu Beginn des Schuljahrs 1994/95 aus der Hochbegabten-Klasse herausnahm und ihn der regulären 12. Klasse zuwies, setzte der Kläger nach Gesprächen mit der Privatschule und dem Vater, der Ende 1993 bereits angedroht hatte, den Jugendlichen aus der Privatschule zu nehmen, falls sich seine Leistungen nicht besserten, die Hilfeleistung fort. Nach Auffassung des Klägers beeinträchtige ein Schulwechsel die insgesamt positiv verlaufende Entwicklung des Jugendlichen, dessen Persönlichkeitsdefizite durch den Leistungsdruck der Eltern verstärkt würden.

Nach dem Umzug der Mutter im Oktober 1995 nach B.K. in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten und dem nachfolgenden Umzug des Vaters Ende Dezember 1995 forderte der Kläger vom Beklagten die Erstattung der Kosten für die Hilfeleistung vom 29. Dezember 1995 bis zur Volljährigkeit des Jugendlichen am 8. Januar 1996. Zugleich leitete er den Antrag des Jugendlichen, diesem als Volljährigen die Hilfe weiter zu gewähren, an den Beklagten weiter. Obwohl der Allgemeine Soziale Dienst des Beklagten nach einem Hilfeplangespräch am 18. März 1996 mit dem Jugendlichen und der Schule die Fortsetzung der Maßnahme befürwortete, lehnte der Beklagte die Kostenerstattung und Übernahme des Falles in eigener Zuständigkeit ab, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Hilfe zur Erziehung nicht vorgelegen hätten. Daraufhin setzte der Kläger die Hilfe über den Zeitpunkt der Volljährigkeit hinaus bis zum Abitur des Jugendlichen im Juni 1996 fort.

Mit Urteil vom 25. Oktober 2000 hat das Verwaltungsgericht Würzburg den Beklagten verurteilt, an den Kläger 7.669,05 € (entspricht 14.999,35 DM) nebst 4 % Zinsen seit dem 22. November 1996 zu zahlen, die der Kläger für Jugendhilfemaßnahmen in der Zeit vom 29. Dezember 1995 bis zum 15. Juni 1996 aufgewendet hat. Auch wenn der Kläger möglicherweise zu Unrecht Hilfe zur Erziehung geleistet habe, sei der Erstattungsanspruch begründet, weil nach dem vom Verwaltungsgericht eingeholten Gutachten des Leiters der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität W. vom 30. Juni 2000 die geleistete Hilfe als Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII geeignet und notwendig gewesen sei.

Zur Begründung der zugelassenen Berufung führt der Beklagte im Wesentlichen aus: Spätestens mit der Herausnahme des Jugendlichen aus der Hochbegabten-Klasse im Sommer 1994 hätte keine Hilfe zur Erziehung mehr geleistet werden dürfen. Eine nachträgliche Umdeutung der Maßnahme in eine Eingliederungshilfe komme nicht in Betracht, weil für diese Hilfeart kein verbindlicher Hilfeplan aufgestellt worden sei.

Er beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 25. Oktober 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat die Parteien mit Schreiben vom 12. Januar 2005 auf die Möglichkeit der Entscheidung nach § 130 a VwGO hingewiesen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

1. Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Sie wird gemäß § 130 a VwGO durch Beschluss zurückgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.

1.1 Dem Kläger steht für die vom 29. Dezember 1995 bis zum 15. Juni 1996 geleistete Hilfe ein Erstattungsanspruch nach § 89 c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu. Nach der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts der Eltern in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten ist der Beklagte für Leistungen der Jugendhilfe nach § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zuständig geworden. Das gilt nach § 86 a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII auch für die ab 8. Januar 1996 gewährte Hilfe für junge Volljährige, weil dieser Hilfe Leistungen nach den §§ 27 bis 35 a SGB VIII vorausgegangen sind. Da der Beklagte trotz des Zuständigkeitswechsel den Hilfefall nicht übernommen hat, war der zunächst nach § 86 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zuständige Kläger nach § 86 c Satz 1 SGB VIII weiterhin zur Gewährung der Leistung verpflichtet.

1.2 Der Erstattungsanspruch ist nach § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch in der geltend gemachten Höhe begründet, weil die Erfüllung der Aufgaben durch den Kläger den Vorschriften des Jugendhilferechts entsprach. Zwar verweist der Beklagte zutreffend darauf, dass die vom Kläger den Eltern des Jugendlichen gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung (§ 27 i.V.m. § 34 SGB VIII) ein Erziehungsdefizit voraussetzt, das möglicherweise entfallen war, als sich die Hochbegabung des Jugendlichen nicht bestätigte. Gleichwohl entsprach auch nach diesem Zeitpunkt die Übernahme der Kosten für den Besuch der Privatschule und des Internats den Vorschriften des Jugendhilferechts, weil dem Jugendlichen von 1995 an, als der Vorrang der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für Leistungen an seelisch behinderte junge Menschen in Art. 11 Abs. 1 KJHG vom 26. Juni 1990 (BGBl I S. 1163) ausgelaufen war, bis zu seiner Volljährigkeit ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII und danach ein Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII zustand. Für das Jugendamt des Klägers stand, wie die Fortschreibung des Hilfeplans am 8. März 1994 zeigt, die Vermeidung des durch die seelische Behinderung ausgelösten Integrationsrisikos im Vordergrund. Die Störungen des Sozialverhaltens und die erheblichen Persönlichkeitsdefizite des vermeintlich hochbegabten Jugendlichen, der über Jahre hinweg dem Leistungsdruck seiner Eltern ausgesetzt war, ließen eine Fortführung der pädagogischen und psychologischen Betreuung in der Privatschule und den Verzicht auf einen Schulwechsel angezeigt erscheinen, der die bisher erreichte Stabilisierung hätte gefährden können. Dass es sich um eine angemessene Lösung zur Bewältigung der konkreten Belastungssituation handelte, zeigt neben dem vom Verwaltungsgericht eingeholten Gutachten das Ergebnis des Hilfeplangesprächs vom 13. März 1996, in dem sich der Fachdienst des Beklagten für eine Fortführung der Maßnahme im Rahmen des § 41 SGB VIII aussprach, um den Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung zu befähigen.

1.3 Der Anspruch auf die Prozesszinsen folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 291 BGB (vgl. BVerwGE 114, 61). Der durch das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen erhöhte Zinssatz findet nach Art. 229 Abs. 1 EGBGB (eingefügt durch das Gesetz vom 30. März 2000, BGBl I S. 330) auf den geltend gemachten Erstattungsanspruch keine Anwendung.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO, § 708 Nr. 10 ZPO.

3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sie nach § 132 Abs. 2 VwGO auch dann nicht zuzulassen wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte (§ 130 a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 4 VwGO).

Ende der Entscheidung

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