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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 24.05.2006
Aktenzeichen: 12 B 04.1227
Rechtsgebiete: SGB VIII, SGB I, SGB X, BSHG


Vorschriften:

SGB VIII § 10 Abs. 4 Satz 2
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 41 Abs. 1
SGB VIII § 41 Abs. 2
SGB I § 37
SGB I § 43 Abs. 1
SGB X § 102 Abs. 1
BSHG § 44
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 B 04.1227

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Jugendhilfe;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 15. Oktober 2003,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Albrecht, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 24. Mai 2006

am 24. Mai 2006

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2003 wird die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, ihm die für den Leistungsberechtigten (Lb.) Klaus-Peter S. in der Zeit vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 erbrachten Aufwendungen in Höhe von 43.424,72 € zuzüglich Zinsen zu erstatten.

1. Der am 27. April 1980 geborene Lb. kam als Frühgeburt mit einer cerebralen Dysfunktion zur Welt. Er besuchte ab 1984 die schulvorbereitende Einrichtung der Sonderschule für geistig Behinderte und ab Februar 1986 ein Sonderschulheim für geistig Behinderte. Hierfür übernahm der Kläger im Rahmen der Eingliederungshilfe die Kosten.

2. Ab 27. April 1987 wurde der Lb. in das W.-L.-Heim für lern- und geistig behinderte Kinder und Jugendliche aufgenommen. Nach einer Stellungnahme des Heims vom 6. Februar 1987 war die Mutter mit der Erziehung ihres seelisch gestörten Jungen, der als Grenzfall zwischen Lernbehinderung und geistiger Behinderung einzustufen sei, überfordert. Entsprechend der Empfehlung des Staatlichen Gesundheitsamtes Mü. vom 31. März 1987 besuchte der Lb. in der Folge die Sonderschule für Lernbehinderte/Schule zur individuellen Lernförderung bis Herbst 1996 und anschließend zwei Berufsvorbereitungsjahre an der Berufschule für individuelle Lernförderung bis Juli 1998. In Gutachten vom 21. Oktober 1995, 7. Juni 1997 und 23. Mai 1998 kam der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. F. zu dem Ergebnis, die intellektuelle Leistungsfähigkeit des Lb. sei im Grenzbereich zwischen Normalbegabung und Lernbehinderung anzusiedeln, er leide an einer schweren Lese- und Rechtschreibstörung, habe neurologische Auffälligkeiten im Bereich der Feinmotorik, einen Sprachentwicklungsrückstand und eine emotionale Entwicklungsstörung mit Störung des Sozialverhaltens und sei als nicht nur vorübergehend seelisch behindert einzustufen.

Ab 1. September 1998 begann der Lb. eine Ausbildung zum Fachwerker im Garten- und Landschaftsbau, die er am 7. April 2000 abbrach. Der psychologische Dienst des Arbeitsamtes T. kam in einem Gutachten vom 1. Dezember 1999 zu dem Ergebnis, dass die kognitiven Ressourcen für eine Fachwerkerausbildung im Gartenbau vorhanden seien, auch wenn ein deutlich eingeschränktes Leistungsvermögen im Bereich der sprachlichen Auffassungsgabe und der Merkfähigkeit für sprachliches Material vorhanden sei. Im Vordergrund stünden jedoch die Verhaltensauffälligkeiten des Lb. In einer fachärztlichen Bescheinigung vom 13. Mai 2000 kommt der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. F. zu dem Ergebnis, der seit 1999 wegen eines manifesten depressiven Syndroms medikamentös behandelte Lb. habe seine Lehre abgebrochen, weil er sich die Abschlussprüfung nicht zugetraut habe. Die Voraussetzungen des § 35 a KJHG lägen bei ihm vor. Es sei eine Unterbringung des Lb. in einer Werkstatt für Behinderte indiziert.

Das Arbeitsamt T. kommt in einem psychologischen Gutachten vom 16. Juni 2000 zu dem Ergebnis, dass der Lb. sein Leistungspotential nur unter den geschützten Rahmenbedingungen einer Werkstatt für Behinderte entfalten und langfristig einsetzen könne.

Der Beklagte leistete für den Lb. ab seiner Aufnahme im W.-L.-Heim durchgehend Jugendhilfe. Zuletzt wurde mit Bescheid vom 6. Juli 1999 bis 31. Juli 2000 Hilfe für junge Volljährige bewilligt. Mit Bescheid vom 18. April 2000 wurde die Hilfe ab 8. April 2000 als vorläufige Leistung (§ 43 Abs. 1 SGB I) gewährt und verfügt, dass sie spätestens zum 31. Juli 2000 ende. Der Lb. sei aufgrund seiner seelischen Instabilität nicht in der Lage, seine Ausbildung zu beenden. Auch eine andere Berufsausbildung komme nicht mehr in Betracht. Eine noch einzuholende Begutachtung durch Dr. F. werde ergeben, dass eine Hilfe zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung, wie sie § 41 SGB VIII vorsehe, nicht "zielführend" sei. Zuständig sei die Sozialhilfe.

3. Mit Schreiben vom 24. Mai 2000 meldete der Beklagte beim Kläger Kostenerstattung an und bat ihn, den Hilfefall in eigener Zuständigkeit baldmöglichst zu übernehmen. Bis 31. Juli 2000 werde gemäß § 43 Abs. 1 SGB I vorgeleistet.

Mit Schreiben vom 1. August 2000 und 4. August 2000 lehnte der Kläger die Übernahme des Hilfefalls ab, da beim Lb. eine seelische Behinderung vorliege und psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten im Vordergrund stünden. Eine geistige Behinderung sei nicht festgestellt worden. Derzeit könne noch nicht von einem Dauerzustand ausgegangen werden. Der Beklagte werde gebeten, bis zum Abschluss der Arbeitstrainingsmaßnahme weiter Jugendhilfe zu gewähren. Falls eine andere Auffassung vertreten werde, werde um Übernahme nach § 43 Abs. 1 SGB I als zuerst angegangener und bisher zuständiger Leistungsträger gebeten.

Am 9. August 2000 wurde der Lb. vom Arbeitsamt T. für eine Trainingsmaßnahme in der Zeit vom 11. September 2000 bis 10. September 2001 (Kostenträger war die Bundesanstalt für Arbeit) in einer Werkstatt für Behinderte der Lebenshilfe in T. angemeldet.

Am 16. August 2000 stellte der Lb. beim Kläger Antrag auf Sozialhilfe. Mit Beschluss des Vormundschaftsgerichts T. vom 29. September 2000 wurde für ihn eine Betreuerin bestellt.

Mit Schreiben vom 15. Dezember 2000 teilte das W.-L.-Heim dem Kläger mit, dass der Lb. zum 8. Dezember 2000 in das Wohnheim für geistig Behinderte der Lebenshilfe in T. gezogen sei und bat um Übernahme der nach Einstellung der Hilfe durch den Beklagten entstandenen Wohnheimkosten bis 8. Dezember 2000. Mit Schreiben vom 19. Dezember 2000 teilte daraufhin der Kläger dem Wohnheim mit, dass der Beklagte für die Kostenübernahme zuständig sei, an den sich das Wohnheim wenden möge.

In ihrem Bericht über die Arbeitstrainingsmaßnahme des Lb. vom 11. September 2000 bis 10. September 2001 (Stand: Juli 2001) kommt die Werkstatt für Behinderte zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass der Lb. fast alle gestellten Aufgaben gut lösen könne. Problematisch sei seine geringe Kritikfähigkeit bzw. seine teilweise stark von der Realität abweichende Selbsteinschätzung. Es werde ein zweites Jahr Arbeitstraining ab 11. September 2001 bis 10. September 2002 für notwendig gehalten für den Ausbau seiner Kritik- und Konfliktfähigkeit, seiner Hinführung zu realistischer Selbsteinschätzung und für die Übertragung weiterer Arbeiten, die mehr Selbständigkeit erforderten, um insgesamt seine Vermittelbarkeit auf dem Ersten Arbeitsmarkt zu erhöhen.

Der Entwicklungsbericht der Werkstatt für Behinderte über das Arbeitstraining des Lb. vom 11. September 2001 bis 10. September 2002 (Stand: Juni 2002) vom 25. Juni 2002 führt im Wesentlichen aus, dass der Lb. trotz seiner ungleichmäßigen Arbeitsweise durchwegs vertretbare Arbeitsergebnisse produziere. Er plane und führe seine Arbeit selbständig durch und brauche auch im Ordnungsbereich nur wenig Unterstützung. Schwierigkeiten bereite jedoch seine geringe psychische Belastbarkeit. Trotz relativ hoher Kritikfähigkeit sei er sehr schwer einzuschätzen, schnell frustriert und neige immer wieder zu Rückzugsverhalten. Seine Selbsteinschätzung sei nicht realistisch und er brauche dabei immer wiederkehrend Hilfe. Sein Sozialverhalten sei sehr ambivalent. Eine Vermittlung des Lb. auf dem Ersten Arbeitsmarkt sei zur Zeit nicht denkbar. Es werde deshalb ab dem 11. September 2002 beim Kläger die Kostenübernahme der Eingliederung beantragt.

Daraufhin übernahm der Kläger ab 11. September 2002 die Kosten der Unterbringung und der Werkstatt für Behinderte für den Lb.

Mit Bescheid vom 26. September 2002 übernahm der Kläger auch die Kosten des Aufenthalts in dem Wohnheim der Lebenshilfe für die Zeit vom 1. März 2001 bis 10. September 2002. Mit Schreiben vom 7. Oktober 2002 meldete er beim Beklagten einen Erstattungsanspruch für diese Leistungen an, weil die Eingliederungshilfe gemäß § 43 Abs. 1 SGB I vorläufig erbracht worden sei.

Mit Bescheid vom 20. August 2002 hatte das Versorgungsamt M. II beim Lb. eine Behinderung im Sinne des § 69 SGB IX festgestellt. An Gesundheitsstörungen seien berücksichtigt worden

1. Kognitive Teilleistungsschwäche, Lernbehinderung, geistige Behinderung

2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung.

Der Grad der Behinderung wurde mit 60 vom Hundert festgesetzt und ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt.

4. Am 19. Februar 2003 erhob der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,

den Beklagten zu verpflichten, ihm die für den Lb. für die Zeit vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 erbrachten Sozialhilfeaufwendungen in Höhe von 43. 424,72 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu erstatten.

Der Lb. gehöre eindeutig zum Personenkreis des § 35 a SGB VIII. Eine wesentliche geistige Behinderung liege nicht vor. Eingliederungshilfe sei nur aufgrund der seelischen Behinderung erforderlich. Die dem Lb. gewährte Hilfe sei auch als Hilfe für junge Volljährige zu gewähren, weil die Hilfe zu seiner Persönlichkeitsentwicklung und im Rahmen der Möglichkeiten auch für eine eigenverantwortliche Lebensführung erforderlich gewesen sei.

Mit Urteil vom 15. Oktober 2003 verpflichtete das Verwaltungsgericht den Beklagten, dem Kläger die für den Lb. für die Zeit vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 erbrachten Aufwendungen in Höhe von 43. 424,72 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz ab 19. Februar 2003 zu erstatten. Die zulässige Klage sei begründet, weil dem Kläger gemäß § 102 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 44 BSHG ein Anspruch auf Erstattung der für den Lb. im Zeitraum vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 aufgewendeten Wohnheimkosten gegen den Beklagten zustehe. Der Kläger sei für die streitgegenständliche Hilfeleistung nach § 44 Abs. 1 BSHG, der § 43 SGB I vorgehe, der vorläufig verpflichtete Leistungsträger. Der Beklagte habe für die streitgegenständlichen Unterbringungskosten ab 8. April 2000 bis zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung seine Leistungspflicht durchgehend verneint. Der Kläger habe während der Zeit einer beruflichen Rehabilitationsmaßnahme dem Lb. vorläufige Leistungen erbracht, ehe er nach deren Beendigung und seiner Eingliederung in die Werkstatt für Behinderte den Hilfefall ab 11. September 2002 in eigener Zuständigkeit übernommen habe. Es sei auch zu befürchten gewesen, dass notwendige Maßnahmen ohne Eingreifen des Klägers als Sozialhilfeträger nicht rechtzeitig durchgeführt würden, obwohl die Einrichtung als selbst nicht Verpflichteter tatsächlich die fragliche Hilfeleistung erbracht habe, da sie vom Kläger eine rasche Kostendeckung erwartet habe.

Der Beklagte sei als zur Leistung verpflichteter Leistungsträger im Sinne des § 102 Abs. 1 SGB X anzusehen. Seine Verpflichtung hierzu ergebe sich aus § 35 a Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 4 SGB VIII in der bis 8. Juli 2001 gültigen Fassung bzw. § 35 a Abs. 1 und 2 Nr. 4 SGB VIII in der ab 1. Juli 2001 gültigen Fassung. Der Lb. sei nicht als geistig wesentlich behinderter Mensch einzustufen, seine geistige Leistungsfähigkeit liege nach allen vorliegenden fachlichen Stellungnahmen im unteren Normbereich. Er sei durchaus in der Lage, einfachere Tätigkeiten selbständig durchzuführen. Einer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft stehe die bei ihm vorliegende Persönlichkeitsstörung und damit eine seelische Störung entgegen. Dies ergebe sich insbesondere aus den Stellungnahmen des den Lb. behandelnden Psychiaters, den Entwicklungsberichten der Werkstatt für Behinderte während des Arbeitstrainings und zuletzt auch der Aussage des sachverständigen Zeugen H.K. in der mündlichen Verhandlung am 15. Oktober 2003, der dem Lb. bestätigt habe, vom Intellekt her und den körperlichen Fähigkeiten für einfachere Tätigkeiten auf dem freien Arbeitsmarkt geeignet zu sein. Es fehle ihm jedoch die psychische Stabilität. Die Unterbringung des Lb. während der hier streitigen Zeiträume sei eine geeignete und erforderliche Maßnahme der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII und zur Förderung der angestrebten Gesamtrehabilitation unumgänglich gewesen. Dies gelte sowohl für das ursprünglich angestrebte Rehabilitationsziel einer Berufsausbildung für den allgemeinen Arbeitsmarkt als auch für das später ins Auge gefasste Rehabilitationsziel der Eingliederung in die Werkstatt für Behinderte.

Der Beklagte habe diese Hilfe für den zu Beginn der Maßnahme knapp 20-jährigen Lb. auch im Rahmen des § 41 SGB VIII zu erbringen gehabt. Aus dieser Vorschrift ergebe sich als absolute Grenze für Jugendhilfeleistungen lediglich die Altersgrenze aus der Begriffsbestimmung des jungen Volljährigen, dass das 27. Lebensjahr nicht vollendet sein dürfe (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII). Hinsichtlich der Zulässigkeit einer Jugendhilfemaßnahme im 21. Lebensjahr sei eine Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände geboten. Als Maßnahme im Sinne des Jugendhilferechts sei die ununterbrochen andauernde Jugendhilfemaßnahme in ihrer Gesamtheit zu sehen. Der Lb. sei seit 1987 im Wohnheim untergebracht gewesen. Ziel sei dabei bereits in den Berufsvorbereitungsjahren und der daran anschließenden Ausbildung zum Gartenwerker gewesen, ihm die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Dies habe sich mit dem Arbeitstraining fortgesetzt, dessen Ziel auch das Erreichen der Vermittelbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gewesen sei. Durchgehend sei auch eine Förderung durch das Arbeitsamt erfolgt. Der Zeitraum zwischen Abbruch der Lehre und der Empfehlung im Juni 2001, eine Arbeitstrainingsmaßnahme durchzuführen, sei insofern nicht als Unterbrechung anzusehen, sondern als Prüfungsphase, ob die Hilfe fortgesetzt werde. Es sei deshalb von einem begründeten Einzelfall im Sinne von § 41 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz SGB VIII auszugehen, bei dessen Vorliegen die Hilfe als Jugendhilfemaßnahme fortgesetzt werden könne.

Auch die erforderliche Erfolgsprognose habe nicht gefehlt. Ein Fortschritt im Entwicklungsprozess des Lb. sei auch noch nach Abbruch der Lehre am 7. April 2000 zu erwarten gewesen. Dies zeige allein die Tatsache, dass vom Arbeitsamt eine Arbeitstrainingsmaßnahme für erforderlich gehalten worden sei. Im ersten Entwicklungsbericht der Werkstatt für Behinderte sei sogar in Aussicht gestellt worden, dass die Vermittelbarkeit des Lb. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erreicht werden könnte. Auch der zweite Entwicklungsbericht sehe weitere Fördermöglichkeiten, wenn auch das Rehabilitationsziel nur mehr die Eingliederung in die Werkstatt für Behinderte gewesen sei. Auch die beiden in der mündlichen Verhandlung befragten sachverständigen Zeugen hätten geschildert, dass beim Lb. durch die Struktur im Heim und die Arbeitstrainingsmaßnahme erhebliche Verbesserungen eingetreten seien. Im Hinblick darauf, dass es sich um eine einheitliche Jugendhilfemaßnahme im Sinne der §§ 35 a, 41 SGB VIII handele, greife auch die Vor- und Nachrangregelung in § 10 Abs. 2 SGB VIII nicht ein. Nach alledem könne der Kläger, der seinen Anspruch gegenüber dem Beklagten rechtzeitig innerhalb der Ausschlussfrist des § 111 SGB X geltend gemacht habe, von ihm gemäß § 102 SGB X die Erstattung der für den Lb. im fraglichen Zeitraum erbrachten Leistungen verlangen.

5. Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Berufung des Beklagten. Er trägt vor, dass das Verwaltungsgericht entgegen der tatsächlichen Situation bei dem Lb. eine erkennbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung im Zeitraum vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 festgestellt habe. Wie der Zeuge K. in der mündlichen Verhandlung ausgeführt habe, habe der Lb . bei seinen Arbeitsleistungen eine schwankende Tagesform. Er habe im streitigen Zeitraum an einem Kettenarbeitsplatz zusammen mit zwei Lernbehinderten und zwei geistig Behinderten gearbeitet. Dort habe er Entscheidungsspielräume besessen, die er teilweise genutzt habe und teilweise nicht. Im Verhalten sei er einmal wie ein 23-jähriger, dann wieder trotzig wie ein kleines Kind. Diesbezüglich sei eine erkennbare Verbesserung nicht ersichtlich. Diese sei auch nicht von der Zeugin W. beschrieben worden. Dass der Lb. sein Zimmer im Gegensatz zu früher (ggf. mit Unterstützung anderer Personen) aufräume, reiche nicht aus, um von einer erkennbaren Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung zu sprechen. Auch spreche das selbständige Aufstehen und die regelmäßige Anwesenheit in der Werkstatt für Behinderte nicht zwangsläufig für eine erkennbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung und der eigenverantwortlichen Lebensführung. Zudem wolle der Lb. nach Aussagen der Zeugin W. noch ca. 10 bis 20 Jahre in einer begleiteten Wohnform verbleiben. Des Weiteren habe Frau W. eingeräumt, dass man ihm seine geistige Behinderung anmerke. Zum Zeitpunkt des Abbruchs der Jugendhilfemaßnahme seien alle intensiv-therapeutischen Versuche gescheitert, den Lb. im engsten Rahmen wieder einzugliedern. Die vom Gericht als Verbesserung der Persönlichkeitsstruktur beschriebenen Verbesserungen hätten sich im Laufe der langjährigen Betreuung nur bei sehr enger Führung gezeigt, würden aber nach Darstellung der damals zuständigen Fachkraft bei weiter gefassten Rahmenbedingungen sehr schnell wieder aufbrechen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 15. Oktober 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6. Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf das seiner Ansicht nach zutreffende Urteil des Verwaltungsgerichts.

7. Der Verwaltungsgerichtshof hat am 13. Oktober 2005 beschlossen, Beweis zu erheben über die Frage, ob beim Lb. in der Zeit vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 eine geistige Behinderung im Sinne des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (a.F.), § 2 Abs. 1 SGB IX vorgelegen hat, durch Einholung eines Sachverständigengutachtens, mit dessen Erstellung der Direktor der Heckscher-Klinik beauftragt wurde. Das unter dem 31. März 2006 von der Leitenden Oberärztin S. und der Fachärztin Dr. R. von der Heckscher-Klinik Abteilung Rosenheim erstattete Sachverständigengutachten gelangt zusammenfassend zu der Beurteilung, dass der Lb. im Zeitraum vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 aufgrund der vorliegenden Aktenlage sowie der Aussagen der zuständigen Betreuerinnen unter einer seelischen Behinderung gelitten habe, die auch zum jetzigen Zeitpunkt bestehe. Zusätzlich habe bestanden und bestehe noch eine körperliche Behinderung in Form von feinmotorischen Problemen und rechtskonvexer BWS-Skoliose. Im Vordergrund habe im zu beurteilenden Zeitraum eine ausgeprägte seelische Behinderung gestanden, länger als sechs Monate, die den Lb. in seiner Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dermaßen beeinträchtigt habe, dass er auch nicht in der Lage gewesen sei, eine seinem intellektuellen Entwicklungsstand entsprechende Ausbildung zu absolvieren und er immer auf einen beschützenden Rahmen angewiesen sein werde, wie er in einer Werkstatt für Behinderte und im Wohnbereich für Behinderte geboten werde. Insofern seien die Bedingungen des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (a.F.) und des § 2 Abs. 1 SGB IX erfüllt.

Zu dem Sachverständigengutachten führt der Kläger aus, dass eine geistige Behinderung des Lb. weder aktuell noch retrospektiv für den fraglichen Zeitraum bestätigt werde. Demgegenüber werde das Vorliegen einer seelischen Behinderung auch für den Zeitraum 1. März 2001 bis 10. September 2002 bestätigt, insbesondere gehe auch die Heckscher-Klinik in ihrer retrospektiven Begutachtung von einem in der seelischen Behinderung begründeten Betreuungsbedarf aus. Eine Zuständigkeit des Klägers könne dementsprechend aus § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII (§ 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F.) nicht hergeleitet werden, weil die Betreuung des Lb. im Wohnheim der Lebenshilfe nicht wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung erforderlich gewesen sei. Vielmehr ergebe sich die Zuständigkeit des Beklagten aus § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, weil für die vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 zu erbringenden Leistungen die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sowie ab dem 28. April 2001 aufgrund der Vollendung des 21. Lebensjahres die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII vorgelegen hätten. Der Lb. habe aufgrund seiner Persönlichkeits- und Entwicklungsdefizite der vollstationären Wohnheimbetreuung ab dem 1. März 2001 bedurft. Dieser Betreuungsbedarf habe auch nach Vollendung des 21. Lebensjahres fortbestanden. Die vollstationäre Betreuung habe seiner Stabilisierung gedient, um ihn zu befähigen, mit einer erhöhten Selbständigkeit an der gleichzeitig durchgeführten Arbeitstrainingsmaßnahme teilzunehmen und sie erfolgreich abschließen zu können. Hierfür sei die Stabilisierung der schwankenden Verhaltensstrukturen und ein Erlernen sozialer Fähigkeiten erforderlich gewesen. Dementsprechend habe die Fortführung der vollstationären Wohnheimbetreuung der weiteren Persönlichkeitsentwicklung und Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensführung in einem für ihn möglichen Rahmen gedient. Die Fortführung der Betreuung habe auch Aussicht auf Erfolg gehabt, weil erkennbare Verbesserungen insbesondere im Bereich der eigenverantwortlichen Tagesorganisation und Selbständigkeit tatsächlich eingetreten seien. Allein die Tatsache, dass die vor der Wohnheimaufnahme am 1. März 2001 erfolgten Betreuungsmaßnahmen für eine dauerhafte Verhaltensstabilisierung und Reifeentwicklung des Lb. nicht ausreichend gewesen seien, könne nicht dazu führen, dass auch für eine künftige intensivere Betreuung ein Entwicklungspotential ausgeschlossen werde.

Der Beklagte nimmt zu dem Sachverständigengutachten noch dahingehend Stellung, dass beim Lb. schon frühzeitig mit hinreichender Sicherheit feststellbar gewesen sei, dass die Ziele des Sozialgesetzbuches Achtes Buch nicht annähernd zu erreichen seien und er früher oder später zwangsläufig Sozialhilfe erhalten werde. So habe sich der Lb. immer wieder stark überfordert gezeigt, was bei ihm zu massiven Ängsten mit depressiven Verstimmungen geführt habe. Aus den verschiedenen Begutachtungen ergebe sich stets, dass er zwar nicht eindeutig geistig behindert sei, aber die adäquate Umgebung für ihn eine Werkstatt für Behinderte, gekoppelt mit einem entsprechenden Wohnheim sei. Nach anfänglichen Schwierigkeiten habe er sich dort gut eingelebt, es sei zu erwarten, dass er dieses für ihn günstige Setting auf Dauer benötige.

8. In der mündlichen Verhandlung wurden die beiden Sachverständigen zur Erläuterung des von ihnen erstellten Gutachtens einvernommen. Wegen des Ergebnisses ihrer Einvernahme wird auf die Sitzungsniederschrift, wegen der übrigen Einzelheiten des Sachverhalts auf die beigezogenen Akten der Beteiligten und die Gerichtsakten Bezug genommen (§§ 125 Abs. 1, 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Unrecht verpflichtet, dem Kläger die für den Leistungsberechtigten (Lb.) Klaus-Peter S. für die Zeit vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 erbrachten Aufwendungen in Höhe von 43.424,72 € zuzüglich Zinsen zu erstatten. Dem Kläger steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu.

1. Als Rechtsgrundlage für diesen Anspruch kommt nur § 102 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 44 Abs. 2 BSHG in Betracht. Nach § 102 Abs. 1 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Der Kläger hat zwar als überörtlicher Träger der Sozialhilfe (§ 96 Abs. 2 Satz 1 BSHG, § 3 Abs. 3 SGB XII, Art. 10 Abs. 1 AGSGB) nach seiner Meinung aufgrund von § 44 Abs. 1 BSHG vorläufig Sozialleistungen erbracht, in dem er mit Bescheid vom 26. September 2002 die Kosten des Aufenthalts des Lb. im Wohnheim der Lebenshilfe für die streitgegenständliche Zeit übernahm (nachstehend unter 1.1). Der Beklagte ist jedoch nicht der zu dieser Leistung verpflichtete Leistungsträger und deshalb gegenüber dem Kläger nicht erstattungspflichtig (nachstehend unter 1.2).

1.1 Nach § 44 Abs. 1 BSHG hat der Träger der Sozialhilfe dann, wenn spätestens vier Wochen nach Bekanntwerden des Bedarfs bei ihm nicht feststeht, ob ein anderer als der Träger der Sozialhilfe oder welcher andere zur Hilfe verpflichtet ist, die notwendigen Maßnahmen unverzüglich durchzuführen, wenn zu befürchten ist, dass sie sonst nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt werden. Nach § 44 Abs. 2 BSHG ist für Erstattungsansprüche § 102 SGB X maßgeblich.

Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 BSHG für eine vorläufige Hilfeleistung lagen bei Erlass des Kostenübernahmebescheids vom 26. Dezember 2002 vor. Der aktuelle Eingliederungshilfebedarf des Lb. in Gestalt der Wohnheimunterbringung war dem Kläger seit Erhalt des Schreibens des Beklagten vom 24. Mai 2000 am 29. Mai 2000 bekannt. Die Auffassung des Klägers, dass seine Zuständigkeit als Träger der Sozialhilfe für diesen Eingliederungshilfebedarf nicht offensichtlich und eindeutig feststand, sondern unklar war, ob nicht eine Fortsetzung der bis 31. Juli 2000 vom Beklagten als Träger der Jugendhilfe gewährten Eingliederungshilfe nach §§ 41, 35 a SGB VIII zu erfolgen hatte, war auch nicht völlig von der Hand zu weisen. Vier Wochen nach Bekanntwerden dieses Bedarfs, d.h. Ende Juni 2000, stand daher nicht fest, ob ein anderer als der Kläger als Sozialhilfeträger oder welcher andere zur Hilfe verpflichtet war. Die Hilfepflicht eines anderen steht nicht fest, wenn der Sozialhilfeträger ihn zwar für verpflichtet hält, der andere sich aber noch nicht positiv geäußert, d.h. seine Verpflichtung zur Hilfeleistung bejaht hat (vgl. Schoch in LPK-BSHG, 6. Auflage 2003, § 44 RdNr. 9). Dies war hier nicht der Fall, da der Beklagte seine Zuständigkeit seit Erlass des Bescheids vom 18. April 2000 durchgehend verneint und diesen Standpunkt dem Kläger mit dem bereits erwähnten Schreiben vom 24. Mai 2000 mitgeteilt hatte. Es war auch zu befürchten, dass die notwendigen Eingliederungshilfemaßnahmen ohne Eingreifen des Klägers als Sozialhilfeträger nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt werden. Dafür genügt es, dass das Wohnheim der Lebenshilfe den Kläger mit Schreiben vom 21. Dezember 2001 gebeten hat, ab 1. März 2001 für die Wohnheimkosten in Vorleistung zu treten, bis die Zuständigkeitsfrage zwischen den potentiellen Kostenträgern geklärt ist. Hierauf hat bereits das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen. Der Kläger war somit nach § 44 Abs. 1 BSHG zur vorläufigen Hilfeleistung verpflichtet.

§ 43 Abs. 1 SGB I ist insoweit nicht einschlägig, weil ihm § 44 BSHG als die speziellere Regelung nach § 37 SGB I vorgeht (vgl. den Beschluss des Senats vom 29. 1.1996 FEVS 46, 474/476 m.w.N.).

1.2 Der Beklagte war jedoch entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht der zur Leistung im Sinn des § 102 Abs. 1 SGB X verpflichtete Leistungsträger, weil die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Achtes Buch an den Lb. durch Übernahme der Wohnheimkosten im Zeitraum vom 1. März 2001 bis 10. September 2002 nicht vorlagen. Da der Lb. zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums das 18. Lebensjahr bereits vollendet hatte und somit nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII junger Volljähriger war, bestimmte sich die Gewährung für Jugendhilfe an ihn nach § 41 SGB VIII. Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Die Hilfe wird gemäß § 41 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt; in begründeten Einzelfällen soll sie für einen begrenzen Zeitraum darüber hinaus fortgesetzt werden. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten nach § 41 Abs. 2 SGB VIII § 27 Abs. 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt.

Da der Lb. während des streitgegenständlichen Zeitraums sein 21. Lebensjahr am 27. April 2001 vollendete, ist bei der rechtlichen Prüfung zwischen dem Zeitraum vom 1. März 2001 bis 27. April 2001 und dem daran anschließenden Zeitraum vom 28. April 2001 bis 10. September 2002 zu unterscheiden.

1.2.1 Die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige lagen bereits für den Zeitraum bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres des Lb. am 27. April 2001 nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 23.9.1999, BVerwGE 109,325) setzt eine Hilfe nach § 41 SGB VIII nicht voraus, dass Aussicht besteht, dass der junge Volljährige bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres seine Verselbständigung erreichen wird. Vielmehr genügt es, wenn die Hilfe eine erkennbare Verbesserung der Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung erwarten lässt. Eine Prognose dahin, dass die Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensführung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres oder bis zu einem begrenzten Zeitpunkt darüber hinaus erreicht wird, verlangt § 41 SGB VIII nicht. Zwar ist es Aufgabe und Zielrichtung der Hilfe für junge Volljährige, deren Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung zu fördern, und soll die Hilfe solange wie notwendig, aber in der Regel nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gewährt werden. Doch ist weder dem Wortlaut noch der Systematik noch dem Sinn und Zweck der Vorschrift zu entnehmen, dass ein Anspruch auf Hilfe nur gegeben ist, wenn Aussicht besteht, dass mit der Hilfe eine Verselbständigung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres erreicht werden kann. Da die Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden soll, ist der Abschluss einer positiven Persönlichkeitsentwicklung bzw. die Verselbständigung mit der Befähigung zu eigenverantwortlicher Lebensführung das, soweit möglich, anzustrebende Optimum. Nach § 41 SGB VIII soll dem jungen Volljährigen Hilfe "für die Persönlichkeitsentwicklung" und "zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung" gewährt werden. Sie ist also nicht notwendig auf einen bestimmten Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern auch schon auf einen Fortschritt im Entwicklungsprozess bezogen. Die Hilfe dazu muss aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII), aber auch - wiederum bezogen auf den Hilfezweck - geeignet sein. Sie muss geeignet sein, die Persönlichkeitsentwicklung und die Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung zu fördern (BVerwG a.a.O.). Erforderlich, aber auch ausreichend ist also, dass wahrscheinlich ein erkennbarer Entwicklungsprozess der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung gegeben ist, der gefördert werden kann, die Eignung der gewährten Hilfemaßnahmen also nicht völlig ausgeschlossen ist, unabhängig davon, wann dieser Entwicklungsprozess zum Abschluss kommen wird.

Diese Voraussetzungen lagen bezüglich der dem Lb. im Zeitraum vom 1. März 2001 bis 27. April 2001 gewährten Eingliederungshilfe nicht vor, weil sie keine erkennbare Verbesserung seiner Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung erwarten ließ und nicht einen Fortschritt im Entwicklungsprozess fördern konnte. Das ergibt sich insbesondere aus den Feststellungen in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeholten jugendpsychiatrischen Fachgutachten der Heckscher-Klinik vom 31. März 2006 und dessen Erläuterung durch die beiden Gutachterinnen in der mündlichen Verhandlung am 24. Mai 2006. Danach befand sich der Lb. bereits vor dem Wechsel in das Wohnheim der Lebenshilfe am 1. März 2001 ebenso wie während des sich hieran anschließenden Zeitraums bis September 2002 trotz der vorausgegangenen Eingliederungshilfe mit Betreuung im W.-L.-Heim und zusätzlicher psychotherapeutischer Behandlung erneut in einer kritischen Phase, die durch viele Konflikte mit Mitbewohnern und Betreuern gekennzeichnet gewesen ist. Er sei damals emotional sehr labil gewesen, habe häufig impulsive Durchbrüche gezeigt und sei oft weggelaufen. Erst nach diesem Zeitraum habe er wieder Boden unter den Füßen bekommen und sich langsam emotional stabilisiert. Man habe sich deshalb erst danach ein konkretes Bild von seinen Entwicklungsmöglichkeiten machen können.

Hieraus ergibt sich, dass beim Lb. während der Monate März/April 2001 kein weiter förderbarer Entwicklungsprozess erkennbar war, der eine Verbesserung seiner Persönlichkeitsentwicklung und Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung erwarten ließ. Diese Situation bestand beim Lb. im Wesentlichen bereits seit Abbruch seiner Ausbildung zum Fachwerker im Garten- und Landschaftsbau am 7. April 2000. Dafür sprechen auch die psychologischen Gutachten des Arbeitsamtes Traunstein vom 13. April 2000 und 16. Juni 2000, nach denen die psychischen Störungen des Lb. offensichtlich so erheblich sind, dass die unter den Rahmenbedingungen der Jugendsiedlung möglichen Hilfestellungen und Unterstützungsmöglichkeiten nicht ausreichen, um eine erfolgreiche Ausbildung wahrscheinlich zu machen. Selbst die ambulant durchgeführte psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung habe die psychische Stabilität und Leistungsfähigkeit des Hilfesuchenden nicht hinreichend herstellen können. Sein Leistungspotenzial werde er nur unter den geschützten Rahmenbedingungen einer Werkstatt für Behinderte entfalten und langfristig einsetzen können, nachdem die vielfältigen psychotherapeutischen/psychiatrischen und arbeitspädagogischen Maßnahmen, wie sie in den Beratungsunterlagen dokumentiert seien, nicht zu der psychischen Stabilisierung geführt hätten, wie sie für den allgemeinen Arbeitsmarkt erforderlich sei.

Die Beurteilung, dass bei dem Lb. während des Zeitraums März/April 2001 kein Entwicklungsprozess erkennbar war, wird durch die Aussage der sachverständigen Zeugin Andrea W. vor dem Verwaltungsgericht nicht in Frage gestellt. Die Zeugin W. hat zwar gegenüber dem Verwaltungsgericht bekundet, dass der Lb. im Rahmen der von ihr geleiteten Betreuung innerhalb der Wohngruppe im Heim der Lebenshilfe eine persönliche Entwicklung und Fortschritte gemacht habe, er sei gewachsen. Er könne jetzt mit Mitarbeitern reden. Auch räume er jetzt auf Aufforderung sein Zimmer entweder mit oder ohne Unterstützung von Mitarbeitern auf. Inzwischen stehe er auch selbständig auf und gehe in die Arbeit und habe sich in die Struktur des Wohnheims mit Hausdienst, Küchendienst etc. eingefügt.

Aus der von der Sachverständigen Dr. R. durchgeführten Befragung der Zeugin W. (S. 10/11 des Sachverständigengutachtens vom 31. März 2006) ergibt sich jedoch, dass sich die genannten Entwicklungsfortschritte des Lb. erst nach längerer Zeit eingestellt haben und im Zeitraum März/April 2001 nicht angelegt und absehbar waren. In den ersten achtzehn Monaten im Wohnheim der Lebenshilfe habe der Lb. viele Konflikte mit Betreuern und Mitbewohnern gehabt. Im ersten Jahr sei er häufig weggelaufen und habe sich nicht an Regeln gehalten. Erst nachdem er festgestellt habe, dass die Regeln ihm Sicherheit bieten, habe er sich zunehmend an sie gehalten. Erst nach 18 Monaten sei er wirklich in der Gruppe der Lebenshilfe angekommen und in der Lage gewesen, Aufforderungen direkt zu befolgen ohne vorher lange zu grübeln, alleine Zug zu fahren und auch einzukaufen.

Ähnlich hat die Betreuerin Frau S., die den Lb. bereits im W.-L.-Heim betreut hatte und dann in der Wohngruppe der Lebenshilfe erneut mitbetreute, bei ihrer Befragung durch die Sachverständige Dr. R. angegeben, dass der Lb. im W.-L.-Heim bis zuletzt große Ängste gezeigt und keine Fortschritte in der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung gemacht habe, ja sogar ein Wechsel in eine geschlossene Station angestanden habe, und auch der Wechsel in die Wohngruppe der Lebenshilfe den Lb. im März 2001 zunächst erneut sehr verunsichert habe. Die Konflikthäufigkeit habe zugenommen und auch seine Angst. Insgesamt habe er ca. eineinhalb Jahre gebraucht, um in der Wohngruppe anzukommen. Seit Herbst 2002 sei er emotional stabiler geworden und in der Lage gewesen, mit Betreuern und Mitbewohnern zu kooperieren, was am deutlichen Rückgang der Konflikthäufigkeit erkennbar gewesen sei.

Nach alledem kann nicht davon gesprochen werden, dass bereits im März/April 2001 förderbare Fortschritte in einem Entwicklungsprozess des Lb. angelegt und weiter zu erwarten gewesen sind. Vielmehr stagnierte seine Persönlichkeitsentwicklung während dieser Zeit, so dass Hilfe für junge Volljährige mangels Eignung und Erfolgsaussicht nicht hätte gewährt werden dürfen (vgl. BVerwG a.a.O.; OVG NRW vom 20. Februar 1997 Az.: 16 B 3118/96 FEVS 47, 505). Dem kann der Kläger nicht mit dem Hinweis auf die Argumentation des Verwaltungsgerichts entgegentreten, wonach entgegen den gutachterlichen Beurteilungen sich der angelegte und weiter förderbare Entwicklungsprozess allein sowohl aus den dann später erreichten Erfolgen im Wohnbereich wie auch der Tatsache der am 11. September 2000 begonnenen und am 11. September 2001 nochmals verlängerten Arbeitstrainingsmaßnahmen durch das Arbeitsamt T. ergebe, die entsprechende Indizien für einen doch vorliegenden und weiter förderbaren Entwicklungsprozess aufzeigten, die die Gutachter vernachlässigt hätten. Irgendwelche konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die im Wohnbereich später erzielten Erfolge im maßgeblichen Prognosezeitpunkt schon erkennbar angelegt gewesen seien, zeigt der Kläger nicht auf. Bei den Arbeitstrainingsmaßnahmen andererseits handelte es sich erkennbar um einen letzten Versuch der Arbeitsverwaltung, trotz der im Abbruch der Ausbildung zum Fachwerker für Gartenbau erkennbar gewordenen, einem Lernfortschritt in der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung entgegenstehenden starken seelischen Instabilität dem Lb. wegen der teilweise brauchbaren Leistungen bei der bisherigen Ausbildung nochmals eine Chance zu geben, eine Ausbildung zu erhalten und zu beenden, die ihm Chancen auf dem normalen Arbeitsmarkt eröffnen könnte. An diese Beurteilung ist der Beklagte nicht gebunden. Einer indiziellen Bedeutung für einen schon erkennbaren weiter förderbaren Entwicklungsprozess steht insoweit auch entgegen, dass dieser Versuch, der zunächst einigermaßen gut anlief, dann in der Verlängerung doch abgebrochen werden musste, da wegen der erneut auftretenden starken seelischen Instabilität eine weitere Förderung nicht mehr erfolgreich sein konnte, was nach den Gutachten vorhersehbar war.

1.2.2 Aber auch für die Zeit ab der Vollendung des 21. Lebensjahres, d.h. vom 28. April 2001 bis 10. September 2002, waren die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige nicht gegeben. Das folgt schon daraus, dass diese Hilfe nach der Vollendung des 21. Lebensjahres gemäß § 41 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 SGB VIII nur in begründeten Einzelfällen für einen begrenzten Zeitraum fortgesetzt werden soll. Eine Fortsetzung der Hilfe für junge Volljährige war jedoch nicht möglich, weil deren Voraussetzungen bereits für den vorangegangenen Zeitraum vom 1. März 2001 bis 27. April 2001 nicht vorlagen, wie oben dargestellt wurde. Nach der Vollendung des 21. Lebensjahres kann eine Hilfe für junge Volljährige nicht mehr begonnen werden (Wiesner, SGB VIII, 3. Auflage 2006, § 41 RdNr. 26).

Unabhängig davon war bei dem Lb. nach der Vollendung seines 21. Lebensjahres auch kein begründeter Einzelfall gegeben. Ab diesem Zeitpunkt stellt der Gesetzgeber erhöhte Anforderungen an die Notwendigkeit der Hilfegewährung für junge Volljährige (Wiesner a.a.O.). Es muss eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass ein erkennbarer und schon Fortschritte zeigender Entwicklungsprozess zur Erreichung der in § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII genannten Ziele vorliegt, der durch die Weitergewährung der Hilfemaßnahme gefördert werden könnte. Das war bei dem Lb. nach der Vollendung seines 21. Lebensjahres aber nicht der Fall. Zum einen sind die beim Lb. während seines Aufenthalts im Wohnheim der Lebenshilfe erkennbaren Verbesserungen der Persönlichkeitsentwicklung und der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung erst gegen Ende des streitgegenständlichen Zeitraums erstmals zutage getreten.

Zum anderen haben diese Entwicklungsfortschritte nichts an der beim Lb. bestehenden grundsätzlichen Problematik geändert. Diese besteht darin, dass für ihn jede neue Lebenssituation eine so große Belastung mit sich bringt, dass er selbst das bisher Gelernte und routinemäßig Ausgeführte nicht mehr beherrscht, die bisherigen Fortschritte also wieder zunichte gemacht werden und die wesentlichen Fähigkeiten von ihm nach Abklang der Krise jeweils wieder erneut gelernt werden müssen.

Diese bei dem Lb. bestehende, vom Beklagten betonte Gefahr hat die Sachverständige Dr. R. bei der Erläuterung des von ihr verfassten Gutachtens in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich bestätigt. Für diese Beurteilung spricht auch der Inhalt des zweiten Entwicklungsberichts der Werkstatt für Behinderte über das Arbeitstraining des Lb. vom 11. September 2001 bis September 2002, der vom 25. Juni 2002 datiert. Die darin geschilderte geringe psychische Belastbarkeit des Lb., seine niedrige Frustrationstoleranz, die Neigung, sich immer wieder zurückzuziehen und sein immer wiederkehrendes Angewiesensein auf Hilfe sind deutliche Hinweise auf die bei ihm bestehenden Schwierigkeiten für die Entwicklung der Persönlichkeit und die Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensführung. Die strengeren Voraussetzungen eines begründeten Einzelfalls lagen deshalb beim Lb. nach Vollendung seines Lebensjahres am 28. April 2001 nicht vor. Insoweit hat auch der Kläger trotz Hinweises des Senats nichts weiter vorgetragen.

2. Auf die von den Beteiligten kontrovers diskutierte Frage, ob im vorliegenden Fall gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. (nunmehr § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII) ein Vorrang von Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, gegenüber Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach dem Jugendhilferecht bestand, kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht an. Denn die Kollisionsnorm des § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. (§ 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII) ist nur anwendbar, wenn Jugendhilfeleistungen mit den in § 10 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. genannten Maßnahmen der (sozialhilferechtlichen) Eingliederungshilfe konkurrieren (BVerwG vom 23. 9.1999, a.a.O.). Das war hier aber nicht der Fall, weil während des streitgegenständlichen Zeitraums die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 SGB VIII für eine Hilfe für junge Volljährige nicht gegeben waren.

3. Nach alledem ist der Berufung stattzugeben und unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat auf eine Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung verzichtet, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine ohnehin nur in geringer Höhe angefallenen außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu vollstrecken.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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