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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 30.03.2006
Aktenzeichen: 12 B 04.1261
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 27 Abs. 1
SGB VIII § 34 Abs. 1
SGB VIII § 36 Abs. 1
SGB VIII § 36 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 B 04.1261

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilferechts;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. März 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 29. März 2006

am 30. März 2006

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. März 2004 wird die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt im Rahmen der Hilfe zur Erziehung vom örtlichen Jugendhilfeträger die Übernahme der Kosten für den Besuch eines Internats, in dem ihre Tochter in der Zeit vom 16. Februar bis zum 23. November 1999 untergebracht war.

Die allein personensorgeberechtigte Klägerin bat das Jugendamt des Beklagten Ende 1998 um Hilfe bei ihren Erziehungsproblemen. Nach dem von der Klägerin im Januar 1999 unterschriebenen Hilfeplanformular, das keine Aussagen zur Art der Hilfe und den notwendigen Leistungen enthält, verweigerte die damals 16-jährige Tochter der Klägerin, die die 8. Klasse einer Realschule besuchte und häufig unentschuldigt fehlte, jede Mitarbeit in schulischen Angelegenheiten. Die starken Stimmungsschwankungen unterworfene Jugendliche, die zusätzlich unter der Rivalität mit ihrem jüngeren hyperaktiven Bruder litt, drohte in die Drogenszene abzugleiten. Da das Jugendamt einen erzieherischen Bedarf im alltäglichen und schulischen Bereich feststellte, hielt es einen Umgebungswechsel für geboten. Der Beklagte schlug daher, nachdem zunächst der Besuch eines Landschulheimes in der näheren Umgebung erörtert worden war, die Unterbringung in der Mädchenwohngruppe in B. vor, was die Klägerin und ihre Tochter jedoch ablehnten. Statt dessen brachte die Klägerin ihre Tochter ab dem 16. Februar 1999 in einem privaten Internat in Hessen unter, das die Tochter der Klägerin am 23. November 1999 eigenmächtig verließ. Bereits am 9. Februar 1999 hatte das Jugendamt die Klägerin telefonisch davon verständigt, dass die Kosten der Unterbringung in diesem Internat nicht übernommen werden würden. Angesichts der Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen sei die Unterbringung in einer Einrichtung erforderlich, die eine kontinuierliche erzieherische und pädagogische Einflussnahme sicherstelle.

Ihre nach Erlass des Ablehnungsbescheids vom 8. Juli 1999 und dem Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2002 erhobene Klage hat die Klägerin damit begründet, dass das von ihr ausgewählte Internat, bei dessen Besuch keine unverhältnismäßigen Mehrkosten anfielen, ebenso geeignet gewesen sei, wie die vom Beklagten bevorzugte Einrichtung. Auf Anfrage des Verwaltungsgerichts Würzburg hat der Bevollmächtigte der Klägerin in einem 1999 durchgeführten Eilverfahren (Az. W 3 E 99.986) mitgeteilt, dass das Internat in Hessen bisher keine Vereinbarungen nach §§ 78 a ff. SGB VIII mit dem zuständigen Jugendhilfeträger geschlossen habe. Mit Urteil vom 30. März 2004 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, der Klägerin Hilfe zur Erziehung durch Unterbringung ihrer Tochter in dem Internat in Hessen in der Zeit vom 16. Februar bis zum 23. November 1999 zu gewähren. Den auf die Übernahme der angefallenen Kosten und Erstattung der Zinsen gerichteten Klageantrag hat das Verwaltungsgericht dagegen abgewiesen, weil die Klägerin ihren Auszahlungsanspruch an das Internat abgetreten habe.

Seine vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Berufung begründet der Beklagte im Wesentlichen damit, dass das von der Klägerin ausgewählte Internat nicht geeignet gewesen sei. Die sozialen und entwicklungsbedingten Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung der Tochter der Klägerin, die auch in der Stellungnahme des Kinderpsychiaters Dr. L. vom 26. März 1999 festgestellt worden seien, hätten die Unterbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung erforderlich gemacht. Wie sich aus dem Bericht des Geschäftsführers des Internats vom 11. Oktober 19999 ergebe, sei ein normales Internat mit dieser Aufgabe überfordert gewesen,

Der Beklagte beantragt,

unter Änderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. März 2004 die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Da das private Internat sozialpädagogisch ausgerichtet sei, habe der Beklagte ihrem Wunsch- und Wahlrecht entsprechen müssen. Eine Einschränkung des Wahlrechts nach § 36 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII komme nicht in Betracht, weil es im Jahr 1999 noch keine vertragsgebundenen Einrichtungen gegeben habe.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die zulässige Berufung hat Erfolg, weil der Beklagte nicht verpflichtet ist, im Rahmen der Hilfe zur Erziehung die Kosten für die Unterbringung der Tochter der Klägerin im Internat in G. zu übernehmen.

Die Parteien sind sich einig, dass eine dem Wohl der Jugendlichen entsprechende Erziehung wegen der im Jahr 1999 bestehenden Erziehungsprobleme nur durch eine Unterbringung in einer Einrichtung über Tag und Nacht gewährleistet werden konnte (§ 34 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Streit besteht lediglich über die Wahl der Einrichtung.

Über die im Einzelfall notwendige und geeignete Hilfe, die nach § 27 Abs. 1 SGB VIII zur Verfügung gestellt werden muss, hat der örtliche Jugendhilfeträger im Rahmen eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses zu entscheiden, wobei diese Entscheidung nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern eine angemessene Lösung für die festgestellte Belastungssituation zu enthalten hat, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (vgl. BVerwGE 112, 98 und 109, 155). Diesen Anforderungen entspricht die Entscheidung des Beklagten, die Tochter der Klägerin in der Mädchenwohngruppe in B., einer heilpädagogischen Einrichtung, unterzubringen. Nach den Feststellungen des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. L. litt die Tochter der Klägerin an gravierenden emotionalen Störungen (Unsicherheit, hohe Kränkbarkeit und ängstlich-phobische Reaktion). Um ihre sozialen und emotionalen Defizite zu bewältigen, benötigte die Jugendliche angesichts der problematischen Beziehung zwischen Mutter und Tochter den anhand eines Erziehungsplans mit nachprüfbaren Teilzielen strukturierten Rahmen einer heilpädagogischen Einrichtung. Dazu war das von der Klägerin ausgesuchte Internat nicht in der Lage. Dem Bericht des Internats vom 11. Oktober 1999 ist zu entnehmen, dass es trotz eines mehrmonatigen Aufenthalts nicht gelungen war, Mutter und Tochter die Einsicht in ihre Therapiebedürftigkeit zu vermitteln. Das Ausscheiden einer mit der Betreuung der Jugendlichen betrauten Sozialpädagogin, die nach Angaben des Internats an der Aufgabe gescheitert ist, der Tochter der Klägerin eine realistische Sichtweise auf die eigene Persönlichkeit zu vermitteln, hat Erziehungserfolge in Frage gestellt, die verlässliche Beziehungen der Jugendlichen zu den betreuenden Personen voraussetzen. Die ausschließlich auf die schulische Situation bezogenen Verbesserungen vermögen einen Anspruch der Klägerin auf Übernahme der Internatskosten nicht zu begründen. Denn das Wunsch- und Wahlrecht nach § 36 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII erstreckt sich lediglich auf Einrichtungen, die in der Lage sind, die im Einzelfall gebotene Hilfe zu erbringen.

Im Übrigen war das Wunsch- und Wahlrecht der Klägerin durch die zum 1. Januar 1999 in Kraft getretene Regelung des § 36 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII (Art. 2 Nr. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 3 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 29.5.1998, BGBl I S. 1188) beschränkt. Da mit dem Träger des Internats keine Leistungs- und Entgeltvereinbarungen nach den §§ 78 a ff. SGB VIII abgeschlossen waren, hätte der Wahl der Klägerin nur entsprochen werden können, wenn die Erbringung der Leistung in dieser Einrichtung nach Maßgabe des Hilfeplans geboten gewesen wäre. Der Einwand der Klägerin, dass zum damaligen Zeitpunkt keine vertragsgebundenen Einrichtungen zur Verfügung gestanden hätten und ihr Wahlrecht daher faktisch leer gelaufen wäre, greift nicht durch, weil - nach den Darstellungen des Beklagten - vor 1999 bestehende Vereinbarungen mit den Trägern von Jugendhilfeeinrichtungen zunächst fortgeführt worden sind.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO. Der Verwaltungsgerichtshof hat auf eine Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit verzichtet, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft zu vollstrecken.

3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Ende der Entscheidung

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