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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 18.07.2007
Aktenzeichen: 12 B 06.955
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 86 Abs. 6
SGB VIII § 89 a
SGB VIII § 89 e Abs. 1
1. Die Zuständigkeit des Pflegestellenorts setzt divergierende Zuständigkeiten nach § 86 Abs. 6 und § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII voraus (wie BVerwG vom 23.10.2002 Az. 5 B 12/02; a.A. OVG RhPf vom 17.12.2004 FEVS 56, 420).

2. Dem nach § 89 a SGB VIII erstattungspflichtigen Träger kommt über § 89 a Abs. 2 SGB VIII der Schutz der Einrichtungsorte (§ 89 e SGB VIII) zugute (wie BVerwG vom 11.12.2003 FEVS 55, 289).


Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

12 B 06.955

Verkündet am 18. Juli 2007

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Kinder- und Jugendhilfe;

hier: Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 13. Februar 2006,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juli 2007

folgendes Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Frage, welcher Jugendhilfeträger die Aufwendungen für die Vollzeitpflege eines Jugendlichen in der Zeit vom 10. Mai 2003 bis zum 15. März 2004 zu tragen hat.

Der 1987 geborene Steve S., dessen Vater nicht bekannt ist, lebte seit seiner Geburt bei einer Pflegefamilie im Zuständigkeitsbereich der Klägerin. Seit dem 1. Januar 1991 gewährte diese der ebenfalls im Zuständigkeitsbereich der Klägerin wohnenden Mutter von Steve Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege. Die Mutter von Steve, die unter Betreuung stand, zog am 11. Juni 1996 in den Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen um, wo sie in der A.-Straße eine eigene Wohnung anmietete. Die Beigeladene erkannte ihre Kostenerstattungspflicht nach § 89 a Abs. 1 SGB VIII an und übernahm die Kosten der Vollzeitpflege. Nachdem sich der Zustand von Steves Mutter zunächst verbessert hatte und ihre Betreuung im Juli 2000 aufgehoben worden war, musste im Januar 2002 erneut eine Betreuerin bestellt werden, die die Mutter von Steve in einer Seniorenpension im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen unterbrachte. Am 9. Mai 2003 wechselte sie in ein Pflegeheim im Zuständigkeitsbereich des Beklagten, wo sie bis zum 15. März 2004 untergebracht war.

Nachdem der Beklagte die Übernahme der Kosten unter Hinweis auf den Schutz des Einrichtungsortes nach § 89 e SGB VIII abgelehnt hatte, den die Beigeladene im Rahmen des § 89 a SGB VIII allerdings nicht für anwendbar hielt, hat die Klägerin den Beklagten auf Erstattung der ab 10. Mai 2003 anfallenden Aufwendungen verklagt. Das Verwaltungsgericht Ansbach hat die am 20. Februar 2004 eingegangene Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. Februar 2006 abgewiesen. Da § 89 a SGB VIII nur zur Anwendung komme, wenn die Zuständigkeit von einem bisher zuständigen Träger auf den für den Pflegestellenort zuständigen Träger übergegangen sei, scheide ein Erstattungsanspruch der Klägerin aus. Denn die Klägerin sei auch ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII von Beginn des Hilfefalls an zuständig gewesen, so dass es an einem Zuständigkeitswechsel fehle. Auf die Frage, ob § 89 e SGB VIII auf Fälle nach § 86 Abs. 6 SGB VIII anwendbar sei, komme es daher nicht an.

Die vom Verwaltungsgerichtshof zugelassene Berufung begründet die Klägerin im Wesentlichen damit, dass der Erstattungsanspruch nach § 89 a Abs. 3 SGB VIII keinen tatsächlichen Zuständigkeitswechsel von einem Jugendhilfeträger auf einen anderen voraussetze. Es genüge, dass die Zuständigkeit der Klägerin sich nach § 86 Abs. 6 SGB VIII bestimme. Auch § 89 e SGB VIII stehe dem Erstattungsanspruch nicht entgegen, weil diese Vorschrift nicht eingreife, wenn der Jugendhilfeträger für die Hilfegewährung nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig sei.

Sie beantragt,

den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 13. Februar 2006 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für die Jugendhilfe für Steve S. in der Zeit vom 10. Mai 2003 bis zum 15. März 2004 in Höhe von 7.574,85 Euro zuzüglich Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Februar 2004 zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Ein Erstattungsanspruch gegen ihn scheide aus, weil die Klägerin nach § 89 a Abs. 2 i.V.m. § 89 e SGB VIII direkt die Beigeladene in Anspruch nehmen müsse.

Die Beigeladene, die keinen Antrag stellt, verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg. Zwar steht der Klägerin grundsätzlich ein Erstattungsanspruch nach § 89 a Abs. 3 SGB VIII zu, doch richtet sich dieser Erstattungsanspruch nicht gegen den Beklagten, sondern nach § 89 a Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 89 e SGB VIII gegen die Beigeladene.

1. § 89 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII knüpft den Erstattungsanspruch daran, dass ein örtlicher Träger Leistungen aufgrund der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII erbringt. Allerdings setzt § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII voraus, dass bei Anwendung der Pflegestellenzuständigkeit und der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII unterschiedliche Jugendhilfeträger zuständig wären. Führen die Vorschriften der § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII und die des § 86 Abs. 6 SGB VIII dagegen zur Zuständigkeit desselben Trägers, bedarf es der vom System des § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII abweichenden Regelung des § 86 Abs. 6 SGB VIII mit der daran anknüpfenden Kostenentlastung des § 89 a SGB VIII nicht. § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII bringt das auch mit den Worten zum Ausdruck " ... so ist oder wird abweichend von den Absätzen 1 bis 5 der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat". § 89 a SGB VIII setzt daher auch in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGB VIII (vom 15.12.1995, BGBl I S. 1775), die in der Überschrift und in Absatz 3 auf den Begriff des Zuständigkeitswechsels verzichtet hat, divergierende Zuständigkeiten und damit - vereinfacht gesprochen - einen Wechsel von einem nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII zuständigen Träger auf einen nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII zuständigen Träger voraus (vgl. BVerwG vom 23.10.2002 Az. 5 B 12/02; BayVGH vom 14.3.2006 Az. 12 B 04.1991 <beide in juris>; a.A. OVG RhPf vom 17.12.2004 FEVS 56, 420). Im vorliegenden Fall bedeutet das, dass die Klägerin nicht bereits am 1. April 1993 mit Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Änderung des SGB VIII (vom 16.2.1993, BGBl I S. 239) nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zuständig geworden ist, obwohl Steve bereits seit mehr als zwei Jahren bei der Pflegefamilie wohnte und sein Verbleib bei der Pflegefamilie auch zu erwarten war. Vielmehr wurde die Klägerin erst am 11. Juni 1996 nach § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII zuständig, als die Mutter von Steve ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach Nürnberg verlegte. Mit ihrem erneuten Umzug am 10. Mai 2003 in den Zuständigkeitsbereich des Beklagten wäre nach § 89 a Abs. 3 SGB VIII grundsätzlich dieser zur Erstattung verpflichtet gewesen.

2. Da aber der Beklagte seinerseits einen Erstattungsanspruch nach § 89 e SGB VIII gegen die Beigeladene gehabt hätte, richtet sich nach § 89 a Abs. 2 SGB VIII der Erstattungsanspruch der Klägerin gegen diese. Zwar schützt § 89 e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII den für den Einrichtungsort zuständigen Träger nur, wenn dessen Zuständigkeit sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern oder des Kindes richtet und dieser in einer Einrichtung begründet worden ist. Da sich die Zuständigkeit im vorliegenden Fall entsprechend § 86 Abs. 6 SGB VIII nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Pflegefamilie bestimmt, liegen die Voraussetzungen des § 89 e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht vor. Allerdings lässt es § 89 a Abs. 2 SGB VIII für den Durchgriff auf den letztlich zur Kostentragung verpflichteten Träger genügen, dass der nach § 89 a Abs. 1 oder 3 SGB VIII erstattungspflichtige Träger während der Gewährung einer Leistung selbst einen Erstattungsanspruch gehabt hätte. Es ist daher nicht erforderlich, dass dem nach § 89 a Abs. 1 oder 3 SGB VIII erstattungspflichtigen Träger tatsächlich ein Erstattungsanspruch zusteht, was im vorliegenden Fall an den Voraussetzungen des § 89 e SGB VIII scheitert. Vielmehr genügt es für § 89 a Abs. 2 SGB VIII, wenn dem erstattungspflichtigen Träger, falls er selbst geleistet hätte, ein Erstattungsanspruch gegen einen anderen Träger zustehen würde (vgl. BVerwG vom 11.12.2003 FEVS 55, 289; BayVGH vom 27.4.2006 Az. 12 B 04.3126 <juris>). Das ist vorliegend der Fall. Hätte die Vollzeitpflege der Beklagte gewährt, dessen Zuständigkeit sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt der Mutter von Steve in einer Einrichtung in seinem Zuständigkeitsbereich bestimmt hätte (§ 86 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB VIII), so hätte ihm gegen die Beigeladene ein Erstattungsanspruch nach § 89 e Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zugestanden. Denn die Mutter von Steve hatte vor ihrer Aufnahme in das Pflegeheim im Bereich des Beklagten und in das Seniorenheim im Bereich der Beigeladenen ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb einer Einrichtung in einer selbst angemieteten Wohnung im Zuständigkeitsbereich der Beigeladenen, so dass die Einrichtungskette nicht bis zur Klägerin zurückreicht und daher die Beigeladene erstattungspflichtig ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO. Für eine Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nach § 162 Abs. 3 VwGO besteht kein Anlass, da diese im Berufungsverfahren keinen Antrag gestellt hat.

Auf die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung hat der Senat verzichtet, weil er davon ausgeht, dass der Beklagte nicht beabsichtigt, seine außergerichtlichen Kosten vor Eintritt der Rechtskraft des Urteils geltend zu machen.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.

Beschluss:

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 7.574,87 Euro festgesetzt (§ 52 Abs. 3, § 47 Abs. 1 Satz 1 GKG).

Ende der Entscheidung

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