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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 09.02.2004
Aktenzeichen: 12 B 99.3472
Rechtsgebiete: BSHG


Vorschriften:

BSHG § 2 Abs. 1
BSHG § 11 Abs. 1
BSHG § 20
BSHG § 23 Abs. 1
BSHG § 25 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Im Namen des Volkes

12 B 99.3472

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Sozialhilfe;

hier: Berufung des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 19. Mai 1999,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat, durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau aufgrund mündlicher Verhandlung vom 5. Februar 2004 am 9. Februar 2004 folgendes

Urteil:

Tenor:

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten, ihm ab dem 1. Juli 1995 bis zum 31. Dezember 2002 Hilfe zum Lebensunterhalt durch ungekürzte Regelsatzleistungen sowie einen Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 20 % des Regelsatzes zu gewähren.

1. Der 1956 geborene Kläger erhält seit Jahren vom Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt. Am 8. Juli 1993 beantragte er unter Vorlage verschiedener ärztlicher Atteste die Gewährung eines Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit, der ihm erstmals mit Bescheid vom 11. Januar 1994 rückwirkend zum 1. Juli 1993 bewilligt wurde. Mit Bescheid vom 6. Februar 1995 wurde dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 31. Januar bis 31. Juli 1995 unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt. Der seit 1. Juli 1993 gewährte Mehrbedarfszuschlag für Erwerbsunfähige werde vorbehaltlich der Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme eines neutralen ärztlichen Dienstes bis 31. Juli 1995 weiter gewährt.

Nachdem der Kläger zu zwei für die Erstellung eines ärztlichen Gutachtens notwendigen Untersuchungsterminen nicht erschienen war, bewilligte ihm der Beklagte mit Bescheid vom 19. Juni 1995 Hilfe zum Lebensunterhalt für Juli 1995 und stellte gleichzeitig den Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit zum 30. Juni 1995 ein. Mit Bescheid vom 31. Juli 1995 wurde dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 1. Juli 1995 bis 30. Juni 1996 ohne Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt.

Auf Ersuchen des Beklagten erstellte die Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Universität M. am 16. April 1996 ein Gutachten zur Frage der Erwerbsunfähigkeit des Klägers, das zu dem Ergebnis kam, eine Erwerbsunfähigkeit des Klägers sei derzeit nicht festzustellen. Seine Erwerbsfähigkeit sei um etwa 50 % gemindert. Es sei dem Kläger zuzumuten, untervollschichtig leichte bis mittelschwere Tätigkeiten durchzuführen. In Anbetracht des festgestellten Schlafphasen-Syndroms sei es erforderlich, dass der Kläger eine Arbeit zeitlich frei einteilen könne.

Nach Erhalt des Gutachtens forderte der Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 17. Mai 1996 auf, sich beim Arbeitsamt als arbeitssuchend zu melden sowie sich selbst um Arbeit zu bemühen und monatlich mindestens fünf Bewerbungen vorzulegen. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem er vorbrachte, dass er erwerbsunfähig sei und das Gutachten erhebliche Fehler bzw. Lücken aufweise. Dieser und zwei weiteren Aufforderungen des Beklagten zur Arbeitsaufnahme (Schreiben vom 16.7.1996 und 2.8.1996) kam der Kläger nicht nach.

Der Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheiden vom 17. Juli 1996, 26. August 1996, 23. September 1996, 28. Oktober 1996, 15. Januar 1997, 19. Juni 1997, 2. Oktober 1997, 13. November 1997, 9. Januar 1998, 23. Februar 1998, 27. März 1998, 5. Mai 1998, 5. Juni 1998, 3. Juli 1998, 20. Juli 1998 und 13. Oktober 1998 weiterhin Hilfe zum Lebensunterhalt ohne den beantragten Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit.

Mit den Bescheiden vom 26. August 1996, 23. September 1996, 28. Oktober 1996, 19. Juni 1997, 13. November 1997 und 3. Februar 1998 gewährte der Beklagte Hilfe zum Lebensunterhalt durch gekürzte Regelsatzleistungen, weil der Kläger den Aufforderungen zur Arbeitsaufnahme und Vorlage von Stellungsgesuchen nicht nachgekommen war. Mit Bescheid vom 14. November 1996 wurde die Hilfe zum Lebensunterhalt aus dem gleichen Grund zum 1. Dezember 1996 eingestellt, bevor sie mit dem Bescheid vom 15. Januar 1997 ab dem 17. Dezember 1996 wieder gewährt wurde. Der Kläger hat gegen sämtliche genannten Bescheide Widerspruch eingelegt, worüber die Regierung von O. noch nicht entschieden hat.

2. Am 28. Juli 1997 erhob der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht München. Er beantragte,

die Bescheide des Beklagten vom 19. Juni 1995, 31. Juli 1995, 17. Mai 1996, 17. Juli 1996, 26. August 1996, 23. September 1996, 28. Oktober 1996, 14. November 1996, 15. Januar 1997, 9. September 1997, 19. September 1997, 13. November 1997, 9. Januar 1998, 3. Februar 1998, 23. Februar 1998, 27. März 1998, 5. Mai 1998, 5. Juni 1998, 3. Juli 1998, 20. Juli 1998 und 13. Oktober 1998 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm für die durch diese Bescheide geregelten Zeiträume ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt und einen Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit zu bewilligen.

Zur Begründung führte der Kläger aus, dass der Beklagte keine fundierte Begründung für die Notwendigkeit eines medizinischen Gutachtens gegeben habe. Der Beklagte habe gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen, weil er seit dem Bescheid vom 6. Februar 1995 die von ihm vorgelegten ärztlichen Atteste nicht mehr anerkannt habe.

Das Verwaltungsgericht hörte in der mündlichen Verhandlung am 17. Februar 1999 Herrn Dr. H. als Sachverständigen zur Erläuterung des Gutachtens vom 16. April 1996 und Frau B. vom Arbeitsamt M. als sachverständige Zeugin an.

3. Mit Urteil vom 19. Mai 1996 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Sie sei unzulässig, soweit der Kläger die Aufhebung des "Bescheides vom 17. Mai 1996" begehre. Bei diesem Schreiben handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt im Sinn des § 33 SGB X.

Die Klage sei wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses auch insoweit unzulässig, als sich der Kläger gegen die Kürzung seiner Hilfe zum Lebensunterhalt um mehr als 25 % des Regelsatzes in den Monaten Oktober bis Dezember 1996 und September 1997 wende. Der Beklagte habe in der mündlichen Verhandlung am 19. Mai 1999 zugesagt, die diese Monate betreffenden Bescheide dahingehend zu ändern, dass der Regelsatz jeweils nur noch um 25 % gekürzt und dem Kläger der sich danach ergebende Betrag nachgezahlt werde.

Schließlich sei die Klage unzulässig, soweit sich der Kläger gegen die Kürzung des Regelsatzes im Bescheid vom 3. Februar 1998 um 25 % für Februar 1998 wende, weil diese Kürzung vom Beklagten ebenfalls zurückgenommen worden sei.

Im Übrigen sei die Klage zulässig, aber unbegründet. Der Kläger habe für die Zeit ab 1. Juli 1995 keinen Anspruch mehr auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags wegen Erwerbsunfähigkeit. Aus § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG in der seit 1. August 1996 geltenden Fassung ergebe sich ein derartiger Anspruch nicht, weil der Kläger keinen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G besitze. Auf eine Besitzstandswahrung gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG könne er sich nicht berufen, weil er am 31. Juli 1996 keinen Anspruch auf Anerkennung dieses Mehrbedarfs gehabt habe. Die Feststellung der Erwerbsunfähigkeit bedürfe einer ärztlichen Untersuchung. Es verstoße nicht gegen Treu und Glauben, dass der Beklagte die Weiterbewilligung des Mehrbedarfszuschlags über den 1. Juli 1995 hinaus nicht nur auf die vom Kläger vorgelegten privatärztlichen Atteste, sondern auf ein neutrales Gutachten als Entscheidungsgrundlage habe stützen wollen. Der Kläger könne sich insoweit nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil auch ein einmal gewährter Mehrbedarfszuschlag regelmäßig daraufhin überprüft werden müsse, ob die Voraussetzungen für seine Gewährung noch vorlägen. Der Verfasser des Gutachtens vom 16. April 1996 habe in der mündlichen Verhandlung zur Erläuterung ausgesagt, dass er beim Kläger eine neurotische Persönlichkeitsentwicklung und ein verzögertes Schlafphasen-Syndrom diagnostiziert habe. Die Belastbarkeit des Klägers sei aufgrund seiner Erkrankung reduziert. Der Kläger sei aber trotz seiner Störungen grundsätzlich fähig, eine Tätigkeit wie die von ihm einmal erwähnte Lektorentätigkeit auszuüben. Auch andere Tätigkeiten, die nicht mit festen Arbeitszeiten verbunden seien, wie Telearbeit oder das Verteilen von Werbezetteln, seien für den Kläger zumutbar.

Der Kläger sei daher zumindest im Zeitraum 1995/96 nicht erwerbsunfähig gewesen. Seine verminderte Erwerbsfähigkeit könne auch bei Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht zu einer arbeitsmarktpolitischen Erwerbsunfähigkeit führen. Diese könne regelmäßig nur angenommen werden, wenn das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres keinen in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten könne. Es sei nicht feststellbar, dass dem Kläger 1995/1996 vom Arbeitsamt keine für ihn in Betracht kommende Tätigkeit habe vermittelt werden können, weil er sich in diesem Zeitraum nicht als arbeitssuchend gemeldet habe.

Selbst wenn man die Aussage der sachverständigen Zeugin des Arbeitsamtes berücksichtige, dass Stellen mit Teilzeitarbeit in freier Zeiteinteilung über das Arbeitsamt nicht angeboten würden, und davon ausgehe, dass dies auch 1995/96 der Fall gewesen sei, stehe die Erwerbsunfähigkeit des Klägers in diesem Zeitraum nicht fest. Er habe nicht den Nachweis erbracht, dass er sich selbst um Arbeit bemüht habe, es ihm aber trotz dieser Bemühungen nicht gelungen sei, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden.

Die Klage sei auch unbegründet, soweit sich der Kläger gegen die Kürzung seines Regelsatzes um 20 % bzw. 25 % wende. Die Kürzungen seien gemäß § 25 Abs. 1 BSHG rechtmäßig gewesen, weil er sich geweigert habe, zumutbare Arbeit zu leisten. Er habe auf die Aufforderungen des Beklagten vom 17. Mai 1996 und 17. Juli 1996 nicht reagiert bzw. sie nicht befolgt, obwohl er auf die Rechtsfolgen einer Arbeitsverweigerung hingewiesen worden sei.

4. Mit seiner vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung beantragt der Kläger,

das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 19. Mai 1999 und die Bescheide des Beklagten vom 19. Juni 1995, 31 Juli 1995, 17. Mai 1996, 17. Juli 1996, 26. August 1996, 23. September 1996, 28. Oktober 1996, 14. November 1996, 15. Januar 1997, 19. Juni 1997, 9. September 1997, 19. September 1997, 13. November 1997, 9. Januar 1998, 3. Februar 1998, 23. Februar 1998, 27. März 1998, 5. Mai 1998, 5. Juni 1998, 3. Juli 1998, 20. Juli 1998, 13. Oktober 1998 und 31. Mai 1999 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger ungekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt sowie einen Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 20 % ab 1. Juli 1995 zu bewilligen.

Er trägt zur Begründung vor, dass die Klage nicht unzulässig sei, soweit die Aufhebung des Bescheids vom 17. Mai 1996 begehrt werde. Dieser Bescheid konkretisiere gesetzliche Pflichten, stelle deshalb einen Verwaltungsakt dar und könne folglich angefochten werden.

Die Klage sei auch nicht wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, soweit sich der Kläger gegen die Kürzung von mehr als 25 % in den Monaten Oktober bis Dezember 1996 und September 1997 sowie Februar 1998 wende. Auch die Kürzung des Regelsatzes durch den Bescheid vom 3. Februar 1998 sei niemals zurückgenommen worden. Es existiere weder ein Änderungsbescheid noch sei der gekürzte Geldbetrag an den Kläger ausgezahlt worden.

Die Klage sei auch begründet. Er habe Anspruch auf den Mehrbedarfszuschlag, weil er erwerbsunfähig sei. § 23 Abs. 1 BSHG a.F. habe seinem Wortlaut nach ausdrücklich auf den Begriff der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung abgestellt. Es gebe in diesem Zusammenhang keinen eigenen sozialhilferechtlichen Begriff der Erwerbsunfähigkeit. Vielmehr habe sich dieser Begriff nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu richten. Insoweit wurde auf die Urteile des Bundessozialgerichts vom 17. Juli 1993 (Az. 13 RJ 1/92) und 24. März 1994 (Az. 5 RJ 4/93) hingewiesen. Danach lägen beim Kläger offensichtlich die Voraussetzungen der Erwerbsunfähigkeit vor. Er sei nach dem Gutachten vom 16. April 1996 nur unterhalb vollschichtig einsatzfähig. Dies führe für den für die Klage maßgeblichen Zeitraum dazu, dass Erwerbsunfähigkeit vorliege, weil der Kläger keinen Arbeitsplatz innegehabt habe. Es sei nicht erforderlich zu prüfen, ob eine Vermittlung durch das Arbeitsamt innerhalb einer Jahresfrist möglich gewesen wäre. Hinzu kämen bei dem Kläger gesundheitliche Beeinträchtigungen, die sich auf die betriebsüblichen Arbeitsbedingungen auswirkten. Er könne keine regelmäßigen Arbeitszeiten einhalten. Allein dies führe nach der sozialgerichtlichen Rechtsprechung zur Erwerbsunfähigkeit selbst bei einem vollschichtigen Leistungsvermögen, weil der Arbeitsmarkt insoweit als verschlossen gelte.

Die Kürzung der Hilfe zum Lebensunterhalt sei wegen der vorliegenden Grunderkrankung des Klägers nicht zulässig gewesen. Dies gelte nicht nur für die Ermessensausübung nach § 25 Abs. 2 BSHG, sondern auch für die Auslegung des Begriffs der Weigerung gemäß § 25 Abs. 1 BSHG. Insoweit seien die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Hilfeempfängers zu berücksichtigen. Der Kläger habe daher für den streitgegenständlichen Zeitraum sowohl Anspruch auf Anerkennung eines Mehrbedarfs als auch auf ungekürzte Gewährung der Hilfe zum Lebensunterhalt.

Der Beklagte hat sich zur Berufung nicht geäußert.

Im Zulassungsverfahren hatte er eingeräumt, dass die im Bescheid vom 3. Februar 1998 ausgesprochene Kürzung des Regelsatzes nicht zurückgenommen worden ist. Der Verwaltungsgerichtshof hat dem Kläger für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und zunächst Rechtsanwalt Dr. Lanz und nach dessen Mandatskündigung Rechtsanwalt Dr. Marschner beigeordnet.

Im Dezember 2002 stellte die LVA Oberbayern fest, dass der Kläger voll erwerbsgemindert im Sinne des Grundsicherungsgesetzes ist.

In der mündlichen Verhandlung am 5. Februar 2004 wurde der Zeuge H. zu der Frage einvernommen, ob er dem Kläger Geld, in welcher Höhe, zu welchem Zweck sowie zu welchem Zeitpunkt geliehen hat und welche Rückzahlungsmodalitäten vereinbart worden sind.

5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten verwiesen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet, weil das Verwaltungsgericht die Klage auf Verpflichtung des Beklagten, dem Kläger ab 1. Juli 1995 bis 31. Dezember 2002 Hilfe zum Lebensunterhalt durch ungekürzte Regelsatzleistungen sowie einen Mehrbedarfszuschlag wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 20 % des Regelsatzes zu gewähren, zu Recht abgewiesen hat. Der Kläger begehrt die Gewährung der genannten Leistungen bei sachverständiger Würdigung seines Rechtsschutzinteresses (§ 88 VwGO) nur bis zum 31. Dezember 2002, weil im Dezember 2002 seine volle Erwerbsminderung durch die LVA Oberbayern festgestellt wurde und er deshalb ab dem 1. Januar 2003, seine Hilfsbedürftigkeit vorausgesetzt, Anspruch auf Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz hat.

1. Das Verwaltungsgericht hat die Klage allerdings zu Unrecht als teilweise unzulässig angesehen. Soweit mit der Klage die Aufhebung des Schreibens vom 17. Mai 1996, mit dem der Kläger zur Arbeitsaufnahme und zur Vorlage von Bewerbungsgesuchen aufgefordert worden war, begehrt wird, ist sie nicht unzulässig, weil es sich bei diesem Schreiben um einen Verwaltungsakt handelt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Verwaltungsgerichtshof folgt (z.B. Urteil vom 4. Juni 1992, FEVS 43, 89), handelt es sich bei einer Arbeitsaufforderung gemäß § 20 BSHG um einen auch belastenden Verwaltungsakt.

Die Klage ist auch nicht wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses insoweit unzulässig, als sich der Kläger gegen die Kürzung seiner Hilfe zum Lebensunterhalt um mehr als 25 % in den Monaten Oktober bis Dezember 1996 und September 1997 wendet. Denn der Beklagte hat die in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts am 19. Mai 1999 angekündigte Änderung der diese Monate betreffenden Bescheide in der Folgezeit nicht vorgenommen und dem Kläger keine aus einer Herabsetzung der Kürzung resultierende Nachzahlung geleistet. Schließlich ist die Klage auch nicht insoweit unzulässig, als sich der Kläger gegen die Kürzung des Regelsatzes im Bescheid vom 3. Februar 1998 wendet, weil dieser Bescheid vom Beklagten nicht zurückgenommen worden ist.

2. Die Klage ist jedoch in vollem Umfang unbegründet.

2.1 Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung von ungekürzter Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeiträume September bis November 1996, 1. bis 16. Dezember 1996, Juli bis September 1997 und Februar 1998 sowie auf Aufhebung der dem entgegenstehenden Bescheide. Zwar waren die Bescheide des Beklagten, mit denen dem Kläger die Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 25 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BSHG für die angeführten Zeiträume gekürzt bzw. eingestellt wurde, rechtswidrig. Sie sind darauf gestützt worden, dass der Kläger den Aufforderungen des Beklagten zur Arbeitsaufnahme vom 17. Mai 1996, 16. Juni 1996 und 12. August 1996 nicht nachgekommen ist. Der Kläger hat diese Arbeitsaufforderungen, bei denen es sich wie bereits ausgeführt wurde, um Verwaltungsakte handelt, jeweils fristgerecht mit Widersprüchen angefochten, die nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung hatten, weil die angefochtenen Arbeitsaufforderungen nicht nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt worden waren. Auf Grund der aufschiebenden Wirkung dieser Widersprüche durfte der Beklagte nicht davon ausgehen, dass sich der Kläger weigerte, zumutbare Arbeit zu leisten (vgl. § 25 Abs. 1 Satz 1 BSHG). Auf die Frage einer Erwerbsunfähigkeit des Klägers kommt es insoweit deshalb nicht an.

Einem Anspruch des Klägers auf (nachträgliche) Gewährung von ungekürzter Hilfe zum Lebensunterhalt für die genannten Zeiträume steht jedoch der Grundsatz "Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" entgegen (vgl. BVerwGE 90, 154, 156; 96, 152, 154 ff.). Sozialhilfe ist nach ihrem Wesen, Sinn und Zweck Hilfe in gegenwärtiger Not. Nach Wegfall der Notlage ist die Gewährung von Sozialhilfe grundsätzlich ausgeschlossen. Entsprechend ihrer Eigenart als Hilfe in gegenwärtiger Not setzt die gerichtliche Verpflichtung zu einer Sozialhilfeleistung grundsätzlich voraus, dass die Notlage, insbesondere der Hilfebedarf, auch noch zur Zeit der (letzten) tatrichterlichen Entscheidung besteht (BVerwGE 99, 149, 156).

Das ist hier bezüglich der Gewährung von ungekürzter Hilfe zum Lebensunterhalt für die in der Vergangenheit liegenden Zeiträume September bis November 1996, 1. bis 16. Dezember 1996, Juli bis September 1997 und Februar 1998 nicht der Fall.

Ausnahmen vom Erfordernis eines tatsächlich noch bestehenden Bedarfs hat das Bundesverwaltungsgericht, dem der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung gefolgt ist, insbesondere bei einer zwischenzeitlichen Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder der Hilfe Dritter (vgl. § 2 Abs. 1 BSHG), immer bei zwei Fallgestaltungen zugelassen: In Eilfällen um der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Sozialhilfeanspruchs Willen und bei Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes Willen (vgl. BVerwGE 90, 154, 156; 94, 127, 133; 96, 152, 155 ff.).

Der Kläger beruft sich insoweit ohne Erfolg darauf, sich vom Zeugen H. in der Zeit vom 24. August 1995 bis 27. November 2001 insgesamt 8.200 DM geliehen zu haben, die er noch zurückzahlen müsse. Zwar schließt die Hilfe eines Dritten den Sozialhilfeanspruch dann nicht aus, wenn der Dritte vorläufig - gleichsam anstelle des Sozialhilfeträgers und unter Vorbehalt des Erstattungsverlangens - nur deshalb einspringt, weil der Träger der Sozialhilfe nicht rechtzeitig geholfen oder Hilfe abgelehnt hat (BVerwGE 96, 152, 157 m.w.N.). Der Zeuge H. ist nach seiner vom Verwaltungsgerichtshof für glaubwürdig erachteten Aussage in der mündlichen Verhandlung immer davon ausgegangen, dass ihm der Kläger seine Schulden zurückzahlen werde, wenn er seinen Prozess gewinnt oder seine finanzielle Lage es ihm sonst erlaubt. In dieser Annahme wurde der Zeuge dadurch bestärkt, dass ihm der Kläger die in der Zeit von Anfang 1995 bis August 1995 gewährten Darlehensbeträge nach relativ kurzer Zeit zurückbezahlt hat.

Nach der Aussage des Zeugen H. hat der Kläger seine Bitte um Gewährung eines Darlehens aber nicht mit der Notwendigkeit begründet, seinen Lebensunterhalt zu sichern, sondern mit dem Bestehen von Mietschulden und anderen Schulden, die er begleichen müsse. Dafür, dass der Kläger die vom Zeugen gewährten Darlehen zur Tilgung von anderen Schulden benötigt hat, spricht auch die Tatsache, dass er auch während des ersten Halbjahres 1995 Darlehen vom Zeugen aufgenommen hat, obwohl er damals vom Beklagten Hilfe zum Lebensunterhalt nach ungekürztem Regelsatz und den Mehrbedarfszuschlag erhalten hatte. Es ist aber nicht Aufgabe der Sozialhilfebehörden Schulden zu tilgen, die der Hilfsbedürftige eingegangen ist, es sei denn, dass die Entstehung der Schulden auf ein säumiges Verhalten der Sozialhilfebehörden zurückzuführen ist (st. Rspr., z.B. BVerwGE 21, 208, 209). Der sozialhilferechtliche Grundsatz der Bedarfsdeckung erfordert, dass die Sozialhilfeleistungen den sozialhilferechtlich anerkannten Bedarf unmittelbar decken. Bei der Tilgung von Schulden wird weder der Bedarf des Hilfesuchenden für den notwendigen Lebensunterhalt nach § 12 BSHG noch sein Mehrbedarf im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG gedeckt. Die für eine Schuldentilgung geliehenen Geldbeträge können daher nicht als "Sozialhilfeleistungen" gelten, die das Sozialamt des Beklagten dem Kläger seinerzeit zu Unrecht verweigerte und die deshalb der Zeuge an Stelle des Beklagten dem Kläger darlehensweise zur Verfügung stellte. Der Kläger hat auch nicht dargelegt, dass die von ihm gegenüber dem Zeugen H. genannten Mietschulden und anderen Schulden auf einem säumigen Verhalten des Beklagten beruhen. Aus diesem Grund scheitert das Begehren des Klägers auf nachträgliche Gewährung von ungekürzten Regelsatzleistungen an dem Grundsatz "Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit".

2.2 Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung eines Mehrbedarfszuschlags wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Juli 1995 bis 31. Dezember 2002. Nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BSHG ist für Personen, die unter 65 Jahren und voll erwerbsgemindert im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung sind und einen Ausweis nach § 69 Abs. 5 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch mit dem Merkzeichen G besitzen, ein Mehrbedarf von 20 vom Hundert des maßgebenden Regelsatzes anzuerkennen, soweit nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf besteht. Absatz 1 in der am 31. Juli 1996 geltenden Fassung (Bekanntmachung vom 23. März 1994 BGBl I S. 646) gilt gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG für Personen weiter, für die zu diesem Zeitpunkt ein Mehrbedarf nach dieser Vorschrift anerkannt war.

Da der Kläger keinen Ausweis nach § 69 Abs. 5 SGB IX mit dem Merkzeichen G besitzt, könnte er einen Mehrbedarf wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. August 1996 bis 31. Dezember 2002 nur dann beanspruchen, wenn dieser Mehrbedarf für ihn am 31. Juli 1996 anerkannt gewesen wäre. Das war jedoch nicht der Fall.

Zur Auslegung der Besitzstandsklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 25. Juli 2000 (Az. 12 ZB 00.506) ausgeführt:

"Die Auslegung der Besitzstandsklausel kann in atypischen Fällen insoweit Probleme bereiten, als der Gesetzgeber in § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG auf das Wort "Anerkannt" abstellt ... Die Gesetzesmaterialien (BT-Drs. 13/3904 vom 28.2.1996, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, S. 45 zu Art. 1 Nr. 7 a) machen deutlich, dass der Gesetzgeber die Besitzstandsklausel nur eingeführt hat, damit es im Einzelfall nicht zu einer "Leistungskürzung" kommen kann, d. h. der Sozialhilfeträger muss bisher auch tatsächlich geleistet haben (vgl. Eichhorn/Fergen, Praxis der Sozialhilfe, 3. Aufl. 1998, S. 460/461). So heißt es in Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit: "Auch bei erwerbsunfähigen Personen muss im Sinne einer treffsicheren Gewährung von sozialen Leistungen künftig darauf abgestellt werden, ob die Gründe der Erwerbsunfähigkeit auch zu persönlichen Beeinträchtigungen geführt haben. Liegt eine persönliche Beeinträchtigung vor, die zu Mehraufwendungen im täglichen Leben führt, so können diese Aufwendungen durch besondere Leistungen im Sinne von § 11 Abs. 3 oder nach § 68 Abs. 1 zielgenau übernommen werden. Dies soll jedoch im Einzelfall nicht zu einer Leistungskürzung führen, so dass in Absatz 1 a eine Besitzstandsklausel eingeführt wird, die auch die Übergangsregelung des bisherigen Absatzes 1 Satz 2 umfasst".

Nach dem Willen des Gesetzgebers kann sich der Kläger nicht auf die Besitzstandsklausel berufen. Nur derjenige, der den Mehrbedarf (im Rahmen der Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt) tatsächlich erhält, kann ein schutzwürdiges Vertrauen darauf haben, dass dieser weiter anerkannt bzw. weitergewährt wird."

An dieser Rechtsprechung hält der Verwaltungsgerichtshof auch nach nochmaliger Überprüfung fest. Da der Beklagte dem Kläger bereits ab dem 1. Juli 1995 keine Mehrbedarfszuschläge mehr geleistet hat, kann sich der Kläger für die Zeit ab 1. August 1996 nicht mit Erfolg auf die Besitzstandsklausel des § 23 Abs. 1 Satz 2 BSHG berufen.

Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf Nachzahlung des begehrten Mehrbedarfszuschlags für die Zeit vom 1. Juli 1995 bis 31. Juli 1996. Während dieser Zeit galt § 23 Abs. 1 Nr. 2 BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. März 1994 (BGBl I S. 646). Danach setzt die Anerkennung des Mehrbedarfs nicht den Besitz eines Schwerbehindertenausweises voraus. In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob der Kläger damals erwerbsunfähig im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung war, was sich nach der inzwischen weggefallenen Vorschrift des § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bestimmte. Denn der Kläger könnte auch bei damals gegebener Erwerbsunfähigkeit die Nachzahlung des Mehrbedarfszuschlages nicht beanspruchen, weil dem der Grundsatz "Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" entgegensteht. Insoweit kann auf die Ausführungen zum Begehren auf Nachzahlung ungekürzter Regelsatzleistungen verwiesen werden, die entsprechend gelten.

Nach alledem ist die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.

4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 10 ZPO.

5. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision (§ 132 Abs. 2 VwGO) liegen nicht vor.



Ende der Entscheidung

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