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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 06.10.2004
Aktenzeichen: 12 CE 04.1789
Rechtsgebiete: VwGO, BSHG, BayEUG


Vorschriften:

VwGO § 123 Abs. 1
VwGO § 123 Abs. 3
BSHG § 2 Abs. 1
BSHG § 39 Abs. 1
BSHG § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
BayEUG Art. 21 Abs. 3
BayEUG Art. 41 Abs. 1 Satz 1
Dem Anspruch auf Eingliederungshilfe in Form der Finanzierung einer schulbegleitenden Maßnahme kann nicht entgegengehalten werden, diese sei bei einem Besuch der Förderschule entbehrlich, soweit der in der allgemeinen Schule anfallende Förderbedarf im Rahmen des Art. 21 Abs. 3 BayEUG durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste gedeckt werden kann.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

12 CE 04.1789

In der Verwaltungsstreitsache

wegen

Sozialhilfe (Antrag nach § 123 VwGO);

hier: Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Juni 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dhom als Vorsitzenden, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 6. Oktober 2004 folgenden

Beschluss:

Tenor:

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten im Rahmen der Eingliederungshilfe über die Notwendigkeit von Fördermaßnahmen im Zusammenhang mit dem Besuch der Grundschule.

Die Antragstellerin, die an einer beidseitigen mittelgradigen Schwerhörigkeit leidet, wurde im Schuljahr 2001/2002 in Absprache mit dem Schulleiter an der Grundschule ihres Heimatortes eingeschult. Die Pädagogisch-Audiologische Beratungsstelle an der Landesschule für Gehörlose empfahl den Eltern die Landesschule für Gehörlose in M.-J., respektierte aber deren Wunsch auf integrative Beschulung. Da der Mobile Sozialpädagogische Dienst für Hörgeschädigte (MSDH) die Antragstellerin wegen des großen Einzugsbereichs und der hohen Zahl der Schüler nur etwa alle vier bis sechs Wochen betreuen kann, empfahl die Beratungsstelle, die Antragstellerin zusätzlich durch eine Integrationshelferin zu unterstützen. Daraufhin übernahm der Antragsgegner im Rahmen der Eingliederungshilfe für das erste Schuljahr die Kosten für die wöchentliche Betreuung durch eine Heilpädagogin. Neben einer von ihr vermittelten Sprachförderung und Gesprächen mit den Eltern besucht die Heilpädagogin mit der Antragstellerin den Unterricht, um den Klassenlehrer in Zusammenarbeit mit dem MSDH zu beraten. Die Volksschule und die Pädagogisch-Audiologische Beratungsstelle sprachen sich in der Folge für die Fortsetzung der Maßnahme aus, weil zu erwarten sei, dass die Antragstellerin die Grundschule weiterhin mit Erfolg besuche. Für das Schuljahr 2003/2004 bewilligte der Antragsgegner die Maßnahmen unter dem Vorbehalt einer abschließenden Prüfung. Gestützt auf ein Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus vom 16. September 2003, wonach kein Anspruch auf Eingliederungshilfe bestehe, wenn ein Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ohne zusätzlichen Betreuungsaufwand an einer Förderschule unterrichtet werden könne, stellte der Antragsgegner mit Bescheid vom 30. März 2004 die unterrichtsbegleitenden Maßnahmen zum 3. April 2004 ein. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass der Antragstellerin als "Selbsthilfemöglichkeit" der kostenfreie Besuch der Landesschule für Gehörlose offen stehe, in der die Unterstützung durch zusätzliche Fachkräfte nicht erforderlich sei. Durch den Einsatz der Heilpädagogin fielen demgegenüber unverhältnismäßige Mehrkosten an, die der Antragsgegner nicht übernehmen müsse.

Auf den Eilantrag der Antragstellerin hin hat das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 8. Juni 2004 den Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig vom 20. April bis zum 30. Juli 2004 Eingliederungshilfe durch Kostenübernahme von wöchentlich zwei Behandlungseinheiten durch die Integrationshelferin zu gewähren. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hätten die Schulbehörden bisher nicht festgestellt, dass die Landesschule für Gehörlose für die Antragstellerin gleichermaßen geeignet sei wie die Grundschule. Daher könne der Nachranggrundsatz keine Anwendung finden.

Mit ihrer Beschwerde begehrt der Antragsgegner die Aufhebung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung und die Ablehnung des Eilantrags. Zur Begründung verweist er darauf, dass wegen des Nachranggrundsatzes die Antragstellerin keinen Anspruch auf Eingliederungshilfe habe. Nach der Feststellung der für die Förderschulen zuständigen Regierung vom 28. Juni 2004 könne die Antragstellerin auch an der Landesschule eine angemessene Schulbildung erhalten, ohne dass der Einsatz von zusätzlichen Fachkräften erforderlich wäre. Auch mit dem Integrationsgebot des § 4 Abs. 3 SGB IX lasse sich der Anspruch nicht begründen, weil nach § 7 SGB IX die Leistungsvoraussetzungen sich ausschließlich aus den einschlägigen Leistungsgesetzen ergäben.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 8. Juni 2004 aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt sie im wesentlichen vor, dass sie nicht auf eine Selbsthilfemöglichkeit verwiesen werden könne. Denn die zuständige Grundschule habe sie weder an eine Förderschule überwiesen noch das erforderliche Verfahren dafür eingeleitet. Darüber hinaus sei die integrative Beschulung wegen § 4 Abs. 3 SGB IX und dem Benachteiligungsverbot von Behinderten in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geboten.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

II.

1. Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet, weil das Verwaltungsgericht in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung (vgl. BayVGH vom 26.2.2004 Az. 12 CE 03.3053) zu Recht angenommen hat, dass die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch auf vorläufige Gewährung von Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für die Schulbegleitung glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).

a) Bezüglich des Vorliegens eines Anordnungsgrundes verweist der Verwaltungsgerichtshof auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss, denen er folgt und die auch vom Antragsgegner in seiner Beschwerde nicht in Zweifel gezogen wurden.

b) Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihr steht dem Grunde nach ein Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, § 47 BSHG i.V.m. § 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung zu, was zwischen den Beteiligten ebenfalls nicht streitig ist. Die Begleitung der Antragstellerin während des Schulbesuchs durch eine Integrationshelferin stellt eine Maßnahme der Eingliederungshilfe zur Erreichung einer angemessenen Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht dar (§ 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG).

Dieser dem Grunde nach gegebene Anspruch der Antragstellerin scheitert entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht daran, dass die Antragstellerin die Möglichkeit hätte, die für sie kostenlose Bayerische Landesschule für Gehörlose zu besuchen und ihrem Begehren deshalb der Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 BSHG entgegenstünde. Eine "angemessene Schulbildung" im Sinn von § 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG erhält die Antragstellerin allein in der Volksschule ihres Heimatorts. Halbsatz 2 dieser Vorschrift, wonach die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht unberührt bleiben, stellt klar, dass auch der Träger der Sozialhilfe an schulische Entscheidungen der hierfür zuständigen Stellen gebunden ist (BVerwG vom 16.1.1986 NDV 1986, 291). Entspricht die vom Hilfesuchenden angestrebte oder bereits durchgeführte Schulbildung nicht den Anforderungen der landesgesetzlichen Schulrechtsvorschriften oder steht sie zu diesen in Widerspruch, wird die Hilfe nicht zu einer angemessenen Schulbildung begehrt (BayVGH vom 14.5.2001 Az. 12 B 98.2022, FEVS 53, 361/363). Ob der Besuch einer allgemeinen Schule dem behinderten Kind eine angemessene Schulbildung vermittelt, hat nicht der Träger der Sozialhilfe zu entscheiden, vielmehr richtet sich dies allein nach dem Schulrecht (VGH BW vom 14.1.2003, FEVS 54, 218).

Die Antragstellerin ist nach den schulrechtlichen Vorschriften nicht verpflichtet die Förderschule zu besuchen, sondern dazu berechtigt, ihre Schulpflicht durch den Besuch einer allgemeinen Schule, hier der Volksschule, zu erfüllen. Die Schulpflicht der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, zu denen die an einer beidseitigen Schwerhörigkeit leidende Antragstellerin unstreitig gehört, wird durch Art. 41 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl 414), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. März 2003 (GVBl S. 262) geregelt. Nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayEUG haben Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die am gemeinsamen Unterricht in der allgemeinen Schule nicht aktiv teilnehmen können oder deren sonderpädagogischer Förderbedarf an der allgemeinen Schule auch mit Unterstützung durch Mobile Sonderpädagogische Dienste nicht oder nicht hinreichend erfüllt werden kann, eine für sie geeignete Förderschule zu besuchen. Die Antragstellerin kann am gemeinsamen Unterricht in der allgemeinen Schule aktiv teilnehmen, wie sich aus den Stellungnahmen der von ihr besuchten Volksschule und der Pädagogisch-Audiologischen Beratungsstelle zweifelsfrei ergibt.

Auch die zweite Voraussetzung für eine Verpflichtung zum Besuch der Förderschule liegt nicht vor, weil der sonderpädagogische Förderbedarf der Antragstellerin an der allgemeinen Schule mit Unterstützung des Mobilen Sonderpädagogischen Dienstes hinreichend erfüllt werden kann. Nach Art. 21 Abs. 3 BayEUG, der den Einsatz der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste zeitlich begrenzt, können für die Fördermaßnahmen einschließlich des anteiligen Lehrerstundeneinsatzes je Schüler in der besuchten allgemeinen Schule im längerfristigen Durchschnitt nicht mehr Lehrerstunden aufgewendet werden, als in der entsprechenden Förderschule je Schüler eingesetzt werden. In Bezug auf Art. 41 Abs. 1 BayEUG kann daraus entnommen werden, dass der sonderpädagogische Förderbedarf an der allgemeinen Schule nicht mehr zu erfüllen ist, wenn damit ein Lehrerstundeneinsatz verbunden wäre, der über die dort genannten Grenzen erheblich hinausgeht. Als an der allgemeinen Grundschule erfüllbar kann er angesehen werden, wenn mit den Vorgaben in Art. 21 Abs. 3 BayEUG dieser Förderbedarf gedeckt werden kann (Dirnaichner/Karl, Förderschulen in Bayern, Stand: 1. August 2004, Kennz. 11.60 Nr. 9.3). Die Vorgaben des Art. 21 Abs. 3 BayEUG können am Beispiel einer Grundschulklasse verdeutlicht werden, die aus 25 Schülern besteht, für die 28 Lehrerstunden wöchentlich aufgewendet werden, so dass je Schüler 1,12 Lehrerstunden zur Verfügung stehen. Dem gegenüber stehen für eine Förderschulklasse mit 10 Schülern wöchentlich 28 Lehrerstunden, d.h. je Schüler 2,80 Lehrerstunden zur Verfügung. Daraus kann als Richtwert abgeleitet werden, dass für ein Kind in der Grundschulklasse über den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst bis zu zwei Wochenstunden zur Verfügung gestellt werden können (Dirnaichner/Karl, a.a.O., Kennz. 11.30 Nr. 2).

Dass der sonderpädagogische Förderbedarf der Antragstellerin durch Fördermaßnahmen von zwei Wochenstunden gedeckt werden kann, zeigt gerade die in diesem Umfang erfolgte Unterrichtbegleitung der Antragstellerin durch die Integrationshelferin, die nach den o.g. Stellungnahmen der Volksschule und der Beratungsstelle ausreicht, um ihr die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht der Volksschule zu ermöglichen. Der Umstand, dass der Mobile Sonderpädagogische Dienst aufgrund seiner zu geringen personellen Ausstattung und seines überregionalen Einsatzgebietes tatsächlich nicht in der Lage ist, Schüler in kürzeren Abständen als alle 4 bis 6 Wochen zu besuchen, ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen des Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayEUG nicht vorliegen. Würde die Pflicht zum Besuch der Förderschule von der tatsächlichen Betreuung der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste abhängen, könnte der Zielsetzung in § 4 Abs. 3 SGB IX und der Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen vom 24. März 2003 nicht Rechnung getragen werden, das die Voraussetzungen für die Unterrichtung behinderter Schüler an allgemeinen Schulen verbessern wollte (vgl. LT-Drucksache 14/9152, Begründung, Allgemeiner Teil, S. 19).

Da die Antragstellerin nach alledem berechtigt ist, die allgemeine Schule zu besuchen, ist für eine Anwendung des Nachranggrundsatzes kein Raum. Das Verwaltungsgericht hat den Antragsgegner somit zu Recht verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig vom 20. April 2004 bis zum 30. Juli 2004 Eingliederungshilfe durch Kostenübernahme für wöchentlich zwei Behandlungseinheiten durch Integrationshelferin zu gewähren.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.

3. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).



Ende der Entscheidung

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