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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil verkündet am 09.10.2002
Aktenzeichen: 15 B 99.32230
Rechtsgebiete: AuslG


Vorschriften:

AuslG § 51 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Im Namen des Volkes

15 B 99.32230

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Verfahrens nach dem AsylVfG;

hier: Berufung des Beigeladenen gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 2. Juli 1999,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 15. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Happ, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Jerger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Wünschmann

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 8. Oktober 2002

am 9. Oktober 2002 folgendes

Urteil:

Tenor:

I. Unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 2. Juli 1999 wird die Klage abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beigeladene vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1. Der am ** **** 1969 in Kirkuk geborene Beigeladene ist irakischer Staatsangehöriger turkmenischer Volkszugehörigkeit. Am 12. März 1999 ist er auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Am 18. März 1999 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter. Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt), Außenstelle Bayreuth, machte er im Wesentlichen folgende Angaben: Seine Eltern hätten in Kirkuk ein Lebensmittelgeschäft. Er habe vier Jahre die Schule besucht. Er sei Analphabet, seit einem Jahr arbeitslos und habe einige Jahre als Bauarbeiter gearbeitet. Alle seine Verwandten lebten noch in Kirkuk. Verbindungen in den Nordirak habe er nicht. Er habe wie alle Iraker Probleme und noch das spezielle Problem, dass sein Bruder vor drei Monaten verhaftet worden sei. Dieser sei noch im Gefängnis. Der Geheimdienst habe sich zu Hause vor etwa einem Monat nach ihm erkundigt sowie seinen Ausweis und seinen Wehrpass mitgenommen. Er sei zu der Zeit bei Freunden gewesen. Daraufhin sei er nicht mehr nach Hause, sondern zu einem Onkel in ein anderes Stadtviertel in Kirkuk gegangen. Nach der Verhaftung seines Bruders, der nicht sehr angepasst gewesen sei und auf alles geschimpft habe, sei der Geheimdienst zwei- oder dreimal gekommen. Seine Mutter habe immer gesagt, er solle nicht zu Hause bleiben. Um durch die Kontrollen zu kommen, habe er sich einen falschen Personalausweis mit richtigen Personalien beschafft. Im Fall einer Rückkehr befürchte er, dass er hingerichtet werde.

Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 29. März 1999 den Asylantrag ab (Nr. 1). Es stellte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Iraks fest. Der Nordirak stelle keine inländische Fluchtalternative dar.

Auf die Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten hin hob das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 2. Juli 1999 den Bescheid auf, soweit darin die Feststellung nach § 51 Abs. 1 AuslG getroffen ist. In den Entscheidungsgründen führt das Verwaltungsgericht u. a. aus, der Beigeladene habe eine Vorverfolgung nicht glaubhaft gemacht. Ihm stehe in den nordirakischen Provinzen eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Als Turkmene könne er bei seiner Volksgruppe Zuflucht finden. Da sie eine Minderheit sei, halte sie im Allgemeinen mehr als die Kurden zusammen. Selbst wenn der Beigeladene keine Unterstützung finden sollte, sei sein Existenzminimum im Nordirak dadurch gesichert, dass ihm seine Verwandten Geld oder Lebensmittel in den Nordirak bringen könnten. Trotz der gegenteiligen Behauptung des Beigeladenen liege das Bestehen verwandtschaftlicher, familiärer oder freundschaftlicher Beziehungen in den Nordirak nahe.

2. Zur Begründung der vom Verwaltungsgerichtshof zugelassenen Berufung bezieht sich der Beigeladene auf seine Ausführungen im Zulassungsantrag und ergänzend auf die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 31. Juli 2001, Az.: 20 B 00.31977, sowie darauf, dass das Bundesamt und das Erstgericht von seiner irakischen Staatsangehörigkeit sowie seiner Herkunft aus dem Irak ausgegangen seien. Wegen Fehlens von Beziehungen in den Nordirak habe das Bundesamt eine inländische Fluchtalternative verneint.

Der Beigeladene beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 2. Juli 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und die Beklagte haben sich nicht geäußert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Akten des Bundesamtes Bezug genommen.

Die Erkenntnismittel (Liste Stand: Mai 2002 sowie in der mündlichen Verhandlung vom 8. Oktober 2002 übergebene Liste) waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Sitzungsniederschriften vom 11. April 2002 und 8. Oktober 2002 verwiesen. Das Urteil des Senats vom 22. Mai 2000 (Az. 15 B 98.31916) liegt den Beteiligten vor.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beigeladenen ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid der Beklagten vom 29. März 1999 zu Unrecht aufgehoben, soweit darin die Voraussetzungen des § 51 AuslG festgestellt worden sind. Dem Beigeladenen droht wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. In den faktisch autonomen, derzeit von den Kurden kontrollierten Gebieten des Irak (im Wesentlichen identisch mit den Provinzen Dohuk, Arbil und Sulaimanya; im Folgenden: Nordirak) steht ihm keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

1. Nach § 51 Abs. 1 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Begriff des Verfolgten im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG ist, was die Verfolgungsmaßnahmen, die geschützten Rechtsgüter und den politischen Charakter der Verfolgung angeht, mit dem entsprechenden Begriff in Art. 16 a Abs. 1 GG identisch (vgl. BVerwG vom18.2.1992 DÖV 1992, 582). Politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG ist grundsätzlich staatliche Verfolgung durch Zufügung gezielter Rechtsverletzungen, die den Betroffenen ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzt (vgl. BVerfG vom 10.7.1989 BVerfGE 80, 315/345). Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG greift - weitergehend - auch dann ein, wenn politische Verfolgung wegen eines asylrechtlich unbeachtlichen Nachfluchtgrundes droht.

2. Dem Beigeladenen droht allerdings wegen der von ihm geschilderten Geschehnisse im Zusammenhang mit seinem Bruder keine politische Verfolgung. Das Verwaltungsgericht hat seinen Einlassungen nicht geglaubt, und der Beigeladene ist im Zuge des Berufungsverfahrens dem in keiner Weise entgegengetreten.

3. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (dazu BVerwG vom 17.1.1989 BVerwGE 81, 170/174 f. sowie vom 5.11.1991 BVerwGE 89, 162) droht dem Beigeladenen bei einer Rückkehr in den Irak wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise politische Verfolgung. Der Senat hat das in seinem Urteil vom 22. Mai 2000 Az. 15 B 98.31916 im Einzelnen begründet. Es gibt keine Erkenntnisse, die eine Änderung dieser Einschätzung rechtfertigen könnten.

a) In seinem Urteil vom 22. Mai 2000 hat der Senat zur Verfolgungsgefahr wegen eines Asylantrags ausgeführt:

"Nach Art. 180 des Irakischen Strafgesetzbuchs Nr. 111/1969 (Wortlaut zitiert bei amnesty international - ai -, Bericht Irak vom Oktober 1996, S. 16), kann mit Gefängnis und/oder Geldstrafe, in Kriegszeiten mit Zuchthaus bis zu sieben Jahren bestraft werden, wer im Ausland falsche oder tendenziöse Nachrichten über die inneren Verhältnisse des Staates verbreitet, die geeignet sind, u.a. seine internationale Achtung und sein Ansehen zu schädigen. Art. 202 Irakisches Strafgesetzbuch sieht wegen Geringschätzung oder Missachtung gegenüber dem irakischen Staat bis zu zehn Jahre Haft vor. Art. 225 Irakisches Strafgesetzbuch bedroht eine Beleidigung des Präsidenten mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahren. Nach dem Dekret Nr. 840 vom 4. Dezember 1996 wird Kritik und Beleidigung des Präsidenten, der Baath-Partei und von Regierungsinstitutionen mit dem Tode bestraft (vgl. Auswärtiges Amt - AA -, Auskunft vom 13.6.1997 an VG Freiburg).

Diese Bestimmungen erfassen zwar nicht ausdrücklich das Stellen eines Asylantrags. Es besteht aber eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die irakischen Sicherheits- und Justizbehörden die Kenntnis oder den Verdacht eines solchen Vorgangs zum Anlass nehmen werden, gegen den Beigeladenen nach den genannten Bestimmungen vorzugehen. Die Auskunftslage zu dieser Frage ergibt, dass kaum praktische Erfahrungen vorliegen (siehe auch Deutsches Orient-Institut - DOI -, Stellungnahme vom 30.6.1998 an VG Aachen, S. 11). Erfolglose Asylbewerber werden seit langer Zeit auch von anderen europäischen Ländern nicht in den Irak abgeschoben (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.1999, S. 14; AA, Auskunft vom 25.5.1998 an VG Aachen). Das Auswärtige Amt (Auskunft vom 22.1.1997 an VG München) hält eine Bestrafung von Asylantragstellern für "nicht ausgeschlossen". amnesty international - ai - (Stellungnahme vom 30.12.1996 an VG München, S. 3) geht davon aus, dass die irakischen Behörden den Asylantrag als "groben Akt der Illoyalität gegenüber dem irakischen Staat" ansehen, der für die Betroffenen "durchaus strafrechtliche Konsequenzen zur Folge haben" kann. UNHCR (Stellungnahme vom 12.5.1997 an VG München, S. 2) stellt fest, dass ein in den Irak (gemeint: Zentralirak) zurückkehrender Asylbewerber verhört und bestraft werde. Für alle Aktivitäten mit politischem Bezug gibt es im Übrigen letztlich keine berechenbaren Rechtsgrundlagen; es existiert eine Unzahl von Erlassen, Gesetzen und Beschlüssen, die ständig geändert, aufgehoben und neu erlassen werden (vgl. Bundesamt, Merkmalskatalog, Rechtswesen, S. 2). Die gesetzesähnlichen, häufig unklar formulierten und damit weiter Auslegung zugänglichen Dekrete des RKR umfassen u.a. die Kriminalisierung von Handlungen, die im Strafgesetz nicht als Straftaten behandelt werden, die Erhöhung des Strafmaßes für existierende Straftatbestände sowie die Einschränkung der regulären Gerichtsbarkeit (vgl. PRO ASYL, Bericht "Irak-Republik des Schreckens", August 1999, S. 19). Die Strafen reichen bis hin zu körperlichen Verstümmelungen und Todesstrafe (vgl. Anhang zum Bericht des Sonderberichterstatters der UN-Menschenrechtskommission, Max van der Stoel, vom 15.2.1995).

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung ergibt sich letztlich aus der Charakteristik des irakischen politischen Systems. Der Irak ist ein totalitärer Staat (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.1999, S. 4; im Ergebnis auch PRO ASYL a.a.O., S. 14 ff.). Saddam Hussein's Machtausübung, gekennzeichnet durch ein unbedingtes Streben nach Machterhalt und einen permanenten Kampf gegen Oppositionelle und separatistische Kräfte, ist unbeschränkt, unterliegt keiner demokratisch legitimierten Kontrolle (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 17, unter Hinweis auf eine Feststellung der International Commision of Jurists - ICJ -, "Iraq and the Rule of Law", Genf 1994) und umfasst verfassungsmäßig verankerte weitestgehende Befugnisse zur Kontrolle aller Lebensbereiche. Als Vorsitzender des Revolutionären Kommandorats (RKR), nach Art. 42 der Provisorischen Verfassung in der Fassung des Jahres 1990 zugleich höchste legislative und exekutive Instanz, ist er gleichzeitig Präsident der Republik (seit 16.7.1979), Regierungschef (seit 1994), Oberbefehlshaber der Armee und Generalsekretär des Regionalen Kommandos der Baath-Partei (seit 1991 höchstes Parteiorgan).

Die im Juli 1968 durch einen (weiteren) Staatstreich unter maßgeblicher Beteiligung von Saddam Hussein endgültig an die Macht gekommene und seither regierende Baath-Partei versteht sich als einzig legitime Vertreterin der Interessen des irakischen Volkes und erhebt den alleinigen politischen Führungsanspruch im Irak (vgl. Lagebericht Zentralirak der Niederlande vom 15.4.1999, S. 11 ff.; PRO ASYL a.a.O., S. 19). Der politischen Grundeinstellung des Baath-Staates, dass alle Bereiche gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens eine Einheit bilden, in deren Zentrum die Nation steht, entspricht eine vollständige Gleichsetzung von Nation und Staat. Verzweigungen der Baath-Partei in allen Untergliederungen der Gesellschaft führen zu einer vollständigen Durchdringung und Erfassung der Bürger (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 22, bezugnehmend auf eine Feststellung der ICJ; Lagebericht Zentralirak der Niederlande a.a.O.). Die weitestgehende Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Baath-Partei hat zwangläufig Auswirkungen auf die Bewertung dessen, was den Interessen der Baath-Regierung zuwiderläuft und damit als politisch relevant erscheint. Wie weit die Vereinnahmung aller gesellschaftlichen Bereiche durch den irakischen Staat als politisch relevant reicht, zeigt beispielsweise, dass eine Grenze zwischen "wirtschaftlichen" und "politischen" Vergehen schwerlich zu ziehen ist. So werden selbst einfache Eigentumsdelikte wegen "Angriffs auf die nationale Wirtschaft" als politische Straftaten mit schwersten Strafdrohungen (bis hin zur Todesstrafe) behandelt und teilweise sogar bei Sondersicherheitsgerichten zur Aburteilung zugelassen (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 25 m.w.N.). Die Rolle der zahlreichen staatlichen Geheimdienste (vgl. zur Organisation - Bundesamt, Länderreport Irak, Stand: 15.12.1996, S. 58 bis 60; Lagebericht Zentralirak der Niederlande a.a.O., S. 19 bis 21) reicht unter der Herrschaft der Baath-Partei über die Funktion der Sicherung des Staates und der Verfolgung Oppositioneller hinaus. Kontrolle und Terror werden nicht als Mittel, sondern als notwendige Form der Herrschaft und ständig präsenter, sichtbarer Teil der Herrschaft verstanden (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 29). Gefürchtet ist insbesondere der den übrigen Diensten übergeordnete, unmittelbar Saddam Hussein unterstehende Geheimdienst der Baath-Partei "Mukhabarat" (vgl. Bundesamt, Länderreport, a.a.O., S. 59; Lagebericht Zentralirak der Niederlande a.a.O., S. 19; PRO ASYL a.a.O., S. 30). Die Aufgabe des Mukhabarat ist nicht alleine auf repressive und präventive Staatsschutzmaßnahmen beschränkt; mit seinen Agenten und Zuträgern soll er vielmehr ein System vollständiger Kontrolle, allgemeiner Angst und stetiger Bedrohung der Bevölkerung mit Verhören und Repressionen erzeugen, das praktisch die Allgegenwart des Baath-Staates und den postulierten Anspruch totaler Einheit zwischen Staat und Volk umsetzt (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 16, 29). In seiner Stellungnahme vom 8. Mai 1996 (an VG Augsburg) spricht das Deutsche Orient-Institut von einem gespenstischen Sicherheits- und Überwachungsapparat. Die professionelle Vollkontrolle der Bevölkerung werde zusätzlich noch durch eine Art Blockwartsystem abgesichert. Jeder bespitzele jeden. Man spreche nicht über Politik und senke auch wegen alltäglicher Sorgen die Stimme, um den Eindruck zu vermeiden, man habe das Regime für die Misere verantwortlich gemacht.

Die Handlungsweise der irakischen Sicherheits- und Justizbehörden wird als willkürlich beschrieben; die irakischen Sicherheitsdienste agieren häufig außerhalb polizeilicher Vorschriften und gehen mit äußerster Brutalität vor (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.1999, S. 4; AA, Auskunft vom 22.7.1996 an VG Magdeburg; Bundesamt, Merkmalskatalog, Rechtswesen, S. 2; ähnlich Bundesamt für Flüchtlinge Bern, Bericht vom 1.2.1996). Die Menschenrechtslage im Zentralirak ist alarmierend; der menschenrechtliche Mindeststandard ist nicht gewährleistet; politische Grundrechte können weder in Anspruch genommen noch eingeklagt werden. Unabhängige Menschenrechtsorganisationen können sich im Irak nicht frei bewegen (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.1999, S. 4). Aus allen einschlägigen Erkenntnisquellen ergibt sich übereinstimmend, dass die Menschenrechte im Zentralirak permanent und in großem Umfang verletzt werden (vgl. Berichte des Sonderberichterstatters der UN-Menschenrechtskommission, Max van der Stoel, vom 19.2.1993, UNHCR-Schreiben hierzu vom 16.6.1993, Berichte vom 15.2.1995, 21.2.1997, 10.3.1998 und 14.10.1999; ai, Bericht vom April 1996 "Irak, staatliche Misshandlung: Brandmarken, Amputation und Todesstrafe; ai-Koordinationsgruppe Irak, Bericht "Irak" vom 1.3.1999; ai, Bericht vom November 1999 "Iraq, Victims of Systematic Repression"; ai, Jahresberichte 1996 (S. 239-244), 1997 (S. 247-252), 1998 (S. 269-274) und 1999 (S. 259-264); PRO ASYL a.a.O., S. 33 ff.; Lagebericht Zentralirak der Niederlande a.a.O., S. 53 ff., S. 65 f.; Bundesamt für Flüchtlinge Bern a.a.O.). Nicht nur nach der Einschätzung von PRO ASYL (a.a.O., S. 33) und des niederländischen Außenministeriums (a.a.O., S. 65), sondern nunmehr auch des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 25.10.1999, S. 12) wenden irakische Verfolgungsbehörden systematisch Folter an. Der Eingriff in den Körper durch Folter und Körperstrafen entspricht dem Eingriff des irakischen Staates in das gesamte gesellschaftliche Leben. Mit Folter wird nicht (nur) Dissidenz und Devianz geahndet, sondern das Individuum geformt, körperlich verändert oder auch zerstört. Körperliche Eingriffe sind Zeichen der allgegenwärtigen Macht und konkreter Ausdruck des totalen Anspruchs des irakischen Staates (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 33). Der Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission berichtet ständig über zahlreiche Fälle willkürlicher, extralegaler und im Schnellverfahren vorgenommener Eingriffe wie Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen, Verschwindenlassen, zwangsweiser Deportationen und Umsiedlungen sowie Zerstörung von Häusern. Er schätzt die Zahl der extralegalen Hinrichtungen aus politischen Gründen (insbesondere in den Gefängnissen Abu Ghraib und Radwaniyah; vgl. Bericht vom 10.3.1998, S. 6) allein für den Zeitraum von Herbst 1997 bis Ende 1998 auf über 2.500 (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.1999, S. 4, unter Bezug auf den Bericht des Sonderberichterstatters vom 26.2.1999). Nach den weiteren Erkenntnissen des Sonderberichterstatters bleibt der Irak mit 16.496 bekannten, nicht untersuchten Fällen (vgl. ai, Bericht vom 1.3.1999, S. 3) das Land mit der höchsten Zahl verschwundener Personen. Betroffen waren insbesondere Kurden nach der sog. al-anfal-Kampagne 1988 und Kurden sowie schiitische Moslems nach den März-Aufständen des Jahres 1991; betroffen sollen nunmehr vor allem Gruppen von Minderheiten sein (vgl. Bericht vom 14.10.1999, Nrn. 10-12). Schwere und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen ereigneten sich ferner im Herbst 1996, nachdem reguläre Bagdader Truppen auf Seiten der KDP in die Auseinandersetzungen mit der PUK eingegriffen und Arbil sowie (kurzfristig) Sulaimanya erobert hatten. Amnesty international nennt in diesem Zusammenhang (Jahresbericht 1997 S. 247) mindestens 100 extralegale Hinrichtungen und mehrere Hundert Verhaftungen.

Die irakischen Gerichte genießen in der Praxis keine Unabhängigkeit. Die Strafgerichte in den Provinzen unterliegen dem Einfluss der Baath-Partei, der Sicherheitsämter, der Nachrichtendienste und des Gouverneurs. Das Gericht kann nicht freisprechen, wenn der Betroffene von den Sicherheitsdiensten und der Partei als unerwünschte Person eingestuft wird (vgl. Bundesamt, Merkmalskatalog, Rechtswesen, S. 7). Das Präsidialbüro von Saddam Hussein kann jedes Gerichtsurteil verwerfen (vgl. Lagebericht Zentralirak der Niederlande a.a.O., S. 10).

Vor diesem Hintergrund eines allgegenwärtigen, bedingungslose Anpassung mit allen Mitteln fordernden Staatswesens ist davon auszugehen, dass die irakischen Sicherheits- und Justizbehörden das Stellen des Asylantrags als Herabsetzung des Irak und seiner Institutionen bewerten und dementsprechend als politisch unerwünschtes, oppositionelles Verhalten einstufen und bestrafen werden."

An der damit umschriebenen Charakteristik des irakischen Staates hat sich nichts geändert (vgl. z.B. AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 6); auch die Menschenrechtslage ist unverändert (vgl. z.B. amnesty international, Jahresberichte 2000 und 2001; AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 5 f., 10 ff., 16 f., 19 ff.; Bericht des Sonderberichterstatters der UN-Menschenrechtskomission, Andreas Mavrommatis, vom 14.8.2000, S. 2, 7 ff.; UNHCR/ACCORD, Final Report on the 6th Country of Origin Information, Final Report, Mai 2001, S. 53 ff., 62 ff., 72 ff.; Monika Kadur, Menschenrechtssituation im Irak, Oktober 2001, S. 2 ff.; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 3.6.2002 an VG Leipzig, S. 2 ff.).

b) Zur Verfolgungsgefahr wegen der illegalen Ausreise hat der Senat in seinem Urteil vom 22. Mai 2000 ausgeführt:

"Einer Strafverfolgung ist der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch deshalb ausgesetzt, weil er sein Heimatland illegal verlassen hat. Irakische Staatsangehörige dürfen generell ohne Ausreisegenehmigung staatlicher Behörden den Irak nicht verlassen (vgl. ai vom 10.12.1996 an VG Magdeburg). Auch wenn der Beigeladene für seine Ausreise bei Zakho über den "offiziellen" Grenzübergang Ibrahim-Khalil/Habur (vgl. hierzu AA, Auskunft vom 25.6.1998 an VG Augsburg, S. 2; DOI vom 31.3.1998 an VG Augsburg, S. 6) von den KDP-Stellen Ausreisepapiere erhalten haben sollte, betrachtet der irakische Staat einen solchen Grenzübertritt (Entsprechendes gilt für die Wiedereinreise) als illegal (vgl. PRO ASYL a.a.O., S. 100). Sämtliche Erkenntnisquellen gehen davon aus, dass die illegale Ausreise aus dem Irak mit Strafe bedroht ist (vgl. AA, Lagebericht vom 25.10.1999, S. 19; DOI vom 6.12.1999 an VG Regensburg, S. 3; ai vom 10.12.1996 an VG Magdeburg). Das Auswärtige Amt spricht von einem Strafmaß für illegale Grenzüberschreitungen von etwa sieben bis acht Jahren Gefängnis (Lagebericht vom 25.10.1999, S. 19; Auskunft vom 25.5.1998 an VG Aachen). Amnesty international (Stellungnahme vom 10.12.1996 an VG Magdeburg) referiert, illegale Ausreise werde "streng bestraft". Nach den Erkenntnissen des UNHCR (Stellungnahme vom 12.5.1997 an VG München, S. 2) können Personen, die beschuldigt werden, die Bestimmungen des irakischen Passgesetzes Nr. 84 von 1983 über Auslandsreise übertreten zu haben, gemäß Art. 25 des Strafgesetzes Nr. 111 von 1969 mit Haftstrafen zwischen fünf und 15 Jahren bestraft werden; zusätzlich können die Behörden den gesamten Besitz des Beschuldigten konfiszieren."

An dieser Sachlage hat sich nichts Entscheidendes geändert. Aus neueren Gutachten von Hajo/Savelsberg (3.6.2002 an VG Leipzig, S. 2) und Monika Kadur (Menschenrechtssituation im Irak, Oktober 2001, S. 9) geht im Gegenteil hervor, dass im November 1999 wiederum Strafen von bis zu 10 Jahren Haft sowie Konfiszierung des gesamten Besitzes angedroht wurden für Personen, die das Land illegal verlassen.

Das Dekret Nr. 110 des Revolutionären Kommandorats (RKR) vom 28. Juni 1999, das die vollständige Beendigung aller gesetzlichen Maßnahmen gegen Iraker anordnet, die den Irak illegal verlassen haben, gibt keinen Anlass, die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung des Beigeladenen in Abrede zu stellen. Der Senat hat zu diesem Dekret in seinem Urteil vom 22. Mai 2000 ausgeführt:

"Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung des Beigeladenen wegen seines Asylantrags und seiner illegalen Ausreise besteht auch in Ansehung von Amnestien. Für eine Amnestie wegen der Straftatbestände, die im Zusammenhang mit dem Asylantrag stehen, haben sich keine Hinweise ergeben. Wegen der Strafbarkeit einer illegalen Ausreise verweist das Auswärtige Amt in seiner Anlage zum Lagebericht vom 25. Oktober 1999 auf ein Dekret Nr. 110 des Revolutionären Kommandorats (RKR) vom 28. Juni 1999, das die vollständige Beendigung aller gesetzlichen Maßnahmen gegen Iraker anordnet, die den Irak illegal verlassen haben. Nach Informationen des Auswärtigen Amtes (Auskunft vom 24.3.2000 an VG Ansbach) wurden diese Regelungen angewandt. Angesichts der in der Vergangenheit wiederholt erkennbar gewordenen willkürlichen, jedenfalls aber unzuverlässigen Handhabung von irakischen Amnestien (vgl. hierzu DOI, Stellungnahme vom 30.6.1998 an VG Aachen, S. 10; vom 28.1.1999 an VG Regensburg, S. 11; AA, Auskunft vom 25.5.1998 an VG Aachen) ist die bereits im Lagebericht vom 25. Oktober 1999 (S. 9 f.) zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber diesem Dekret gerechtfertigt. Was bisher dazu bekannt ist, schließt jedenfalls die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nicht aus. Im Übrigen bezieht sich das Dekret nach seinem Wortlaut nur auf die Einstellung bereits eingeleiteter Verfahren wegen illegalen Verlassens des Landes. Schließlich ist auch nicht erkennbar, wie lange das genannte Dekret (seine Wirksamkeit und Umsetzbarkeit sowie Anwendbarkeit bereits auf die Fälle bloßer Tatbestandsverwirklichung unterstellt) Geltung beansprucht (vgl. auch AA, Auskunft vom 24.3.2000 an VG Ansbach)."

Für eine abweichende Beurteilung dieses Dekrets gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte. Das Auswärtige Amt spricht in seinem Lagebericht vom 20. März 2002 von Irak-Rückkehrern aus dem Iran und aus Jordanien, die "nach den Erkenntnissen des UNHCR von den irakischen Behörden unter Zugrundelegung von Dekret Nr. 110 abgewickelt" würden. Auch dem IKRK lägen keine Hinweise für systematische Repressionen wegen illegaler Landesflucht gegenüber Rückkehrern vor; es rufe im Iran unter Verweis auf das Dekret zur Rückkehr in den Irak auf und messe dem Dekret damit hohe Glaubwürdigkeit zu. Das IKRK hat dem Senat dazu unter dem 2. Mai 2002 mitgeteilt, dass es seit Ende des Irak-Iran-Krieges an einer möglichst raschen Rückführung von Kriegsgefangenen arbeite. Vor der eigentlichen Heimführung bemühe sich das IKRK, alle Kriegsgefangenen einschließlich der bereits früher Freigelassenen zu einem vertraulichen Gespräch zu treffen, um in erster Linie abzuklären, ob sie von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, repatriiert zu werden. Es sei nicht Aufgabe des IKRK, über die Situation im Herkunftsland zu informieren oder eine Empfehlung zur Rückkehr - oder dagegen - auszusprechen. - Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Ausführungen im Lagebericht vom 20. März 2002 für die Verfolgungsprognose illegal nach Deutschland ausgereister Asylbewerber nicht als hilfreich: Weder geht es beim IKRK um Asylbewerber im westlichen Ausland noch geht es um illegal ausgereiste Personen. UNHCR hat dem Senat unter dem Datum Juni 2002 mitgeteilt, man bemühe sich um die Repatriierung von etwa 386.500 in den Iran geflüchteten Irakern. Bisher seien etwa 6.700 Iraker arabischer Volkszugehörigkeit aus dem Iran in das von der irakischen Zentralregierung beherrschte Gebiet zurückgekehrt. Rückkehrer würden bei ihrer Ankunft im Irak von UNHCR lediglich in Empfang genommen. Man bemühe sich gegenwärtig in Gesprächen mit der irakischen Regierung, Zugang zu allen Rückkehrern und die Möglichkeit einer systematischen Beobachtung der Rückkehr zu erhalten. Eine Rückkehr in den Irak finde auch von Jordanien und Syrien aus statt. Diese Bewegungen erfolgten ohne jede Involvierung von UNHCR; UNHCR könne auch nicht beurteilen, ob das Dekret Nr. 110 auf diese Rückkehrer ebenso angewendet werde wie auf Rückkehrer aus dem Iran. - Diese Äußerung zeigt, dass es auch bei UNHCR keine Erfahrungen über eine gewisse Verlässlichkeit des Dekrets Nr. 110 gibt, welche die in zahlreichen gutachterlichen Aussagen geäußerten erheblichen Zweifel an dem Dekret entkräften könnten (vgl. DOI, Stellungnahmen vom 1.7.2002 an den Unabhängigen Bundesasylsenat Wien, S. 2. ff., vom 3.6.2002 an das VG Augsburg, S. 6 ff.; Monika Kadur, Menschenrechtssituation im Irak, Oktober 2001, S. 8 ff.; von der Osten-Sacken/Uwer, PRO ASYL Bericht "Irak - Republik des Schreckens, August 1999, S. 102 unter Hinweis auf den Sonderberichterstatter der UN). Die Zweifel an dem Dekret werden im Gegenteil dadurch erhärtet, dass das irakische Regime - wie dargestellt - im November 1999 wiederum überaus harte Strafen für die illegale Ausreise angedroht hat.

c) Zur gutachterlichen Einschätzung der Verfolgungsgefahr wegen eines Asylantrags und illegaler Ausreise hat der Senat in seinem Urteil vom 22. Mai 2000 ausgeführt:

"Das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 25.10.1999, S. 12) vertritt die Auffassung, man müsse davon ausgehen, dass auch dem irakischen Regime bewusst sei, dass vorrangig die allgemein schlechten Lebensbedingungen viele irakischer Asylbewerber zum Verlassen des Landes veranlasst haben, und schätzt es, falls nicht besondere Umstände im Einzelfall vorliegen, deshalb nicht als wahrscheinlich ein, dass Asylantragstellern im Falle der Rückkehr Repressalien drohen. Bei dieser nicht näher begründeten Einschätzung bleibt außer Betracht, dass die drohende strafrechtliche Verfolgung wegen eines Asylantrags nicht auf die Motive zurückgeht, die den Betroffenen bewogen haben könnten, den Irak zu verlassen, sondern auf eine Bewertung des Asylantrags und der damit einhergehenden Berufung auf politische Verfolgung und Menschenrechtsverletzungen als Herabsetzung des Irak und seiner Institutionen sowie als Ausdruck einer politisch unzuverlässigen Haltung. Das Deutsche Orient-Institut stellt in seiner Stellungnahme vom 30. Juni 1998 (an VG Aachen, S. 3) fest, der Asylsuchende mache, indem er Asylschutz beanspruche, in gewisser Weise sein Land schlecht, weil er zur Begründung seines Begehrens regelmäßig negative Behauptungen aufstelle. Dem Institut sei aus eigener Erfahrung im Umgang mit irakischen Staatsangehörigen bekannt, dass diese, wenn sie legal aus dem Irak ausgereist seien, unter allen Umständen einen Asylantrag in Deutschland vermeiden. Dies geschehe nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der zurückbleibenden Familie. Auch die illegal ausgereisten irakischen Staatsangehörigen könnten für den Fall des Asylantrags im Ausland befürchten müssen, dass die Familie sekkiert werde. Nach der Erfahrung des Instituts werden auch diese Leute in aller Regel vermeiden, einen Asylantrag zu stellen. In einer Stellungnahme vom 30. April 1999 (an VG Frankfurt a. Main, S. 3) kommt das Deutsche Orient-Institut erneut zu dem Ergebnis, dass diejenigen Iraker, die nicht nur vorübergehend das Land verlassen, um durch ein Ausweichen - beispielsweise nach Jordanien - den wirtschaftlichen Folgen des UN-Embargos zu entgehen, sondern endgültig ausreisen wollen, um sich durch einen Asylantrag dem Schutz eines anderen Landes zu unterstellen, bei der Rückkehr in ihr Heimatland befürchten müssen, vom Irak, einem Staat ohne Auswanderungs- und Ausreisetradition, als Abtrünnige oder gar Landesverräter angesehen und behandelt zu werden. In allen Medien versuche die offizielle irakische Propaganda permanent, die Bevölkerung des Irak "als verschworene Gemeinschaft gegen den westlichen Imperialismus und die amerikanische Arroganz" darzustellen, die "geschlossen hinter Saddam Hussein stehe und sich mit Tapferkeit und enormen Verlusten der feindlichen Übermacht erwehre". Wer aus dieser verschworenen Gemeinschaft ausschere, erweckt nach der Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts mit seiner endgültigen Ausreise den Eindruck des Landesfeindlichen, weil er sich von dem Zusammenhalt zwischen irakischer Führung und irakischem Volk abwende und mit seinem Asylantrag - insbesondere in Deutschland, das die Politik der Anti-Irak-Koalition in vollem Umfang mittrage - implizit gegen das irakische Regime Stellung beziehe. An dieser Einschätzung hat das Deutsche Orient-Institut unter dem 31. Januar 2000 (an OVG M-V) festgehalten. Für eine Änderung der Bewertung etwa dann, wenn der irakischen Führung bewusst werde, dass der Asylantrag auch bei ganz unpolitischen Flüchtlingen vielfach die einzige Möglichkeit für einen längeren Auslandsaufenthalt mit gewissen Erfolgschancen ist, sieht das Deutsche Orient-Institut (Stellungnahme vom 30.4.1999 an VG Frankfurt a.Main, S. 7) derzeit noch keine greifbaren Anhaltspunkte. - Diese Einschätzung ist überzeugend."

Die gutachterliche Einschätzung der Verfolgungsgefahr hat sich nicht relevant geändert. Das Deutsche Orient-Institut (Stellungnahme vom 1.7.2002 an Unabhängigen Bundesasylsenat Wien, S. 3 ff.) enthält sich einer konkreten Stellungnahme: Es sieht das zentrale Problem nicht "für sich genommen" in der Asylantragstellung oder der illegalen Ausreise, sondern in der unbegründeten länger währenden Abwesenheit im westlichen Ausland und spricht sich gegen schematische Lösungen aus, ohne weitere Differenzierungskriterien zu nennen. In der Stellungnahme vom 3. Juni 2002 (an das VG Augsburg, S. 5) verneint das Deutsche Orient-Institut die Frage, ob die irakische Regierung die unerlaubte Ausreise anders bewerte als früher. UNHCR (vgl. UNHCR-Stellungnahme zur Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach Asylantragstellung und Aufenthalt im Ausland, Juni 2002, S. 2) spricht sich dafür aus, die Rückkehrgefährdung irakischer Staatsangehöriger nach illegaler Ausreise und Asylantragstellung einzelfallbezogen festzustellen. Nach längerem illegalem Auslandsaufenthalt müssten Iraker bei Rückkehr mit besonderer Aufmerksamkeit der irakischen Sicherheitsbehörden rechnen. Willkürakte seien dabei "nicht auszuschließen". Monika Kadur, a.a.O., S. 10, vertritt die Auffassung, illegaler Auslandsaufenthalt führe unweigerlich zu Verdächtigungen seitens des irakischen Staates; das wiederum ziehe Repressionsmaßnahmen nach sich. In gleicher Weise äußern sich Hajo/Savelsberg (Gutachten vom 3.6.2002 an VG Leipzig, S. 2 ff.). Als "längeren" Auslandsaufenthalt bezeichnet das Deutsche Orient-Institut (Stellungnahme vom 3.6.2002 an VG Augsburg, S. 12 f.) einen Aufenthalt von mehreren Monaten (s. auch NdsOVG vom 21.6.2002 Az. 9 LB 3662/01). Insgesamt gesehen gibt es damit bei den Gutachtern zwar gewisse Unterschiede in der Einschätzung im Detail. Unverändert besteht aber Einigkeit über die Charakteristik des staatlichen Systems als einer totalitären Diktatur, die sich auf einen rücksichtslos agierenden Sicherheitsapparat stützt, einen Sicherheitsapparat, der außerhalb jeglicher rechtsstaatlicher Kontrolle agiert und willkürlich und mit äußerster Brutalität vorgeht (vgl. AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 5, 10 f., 13 f., 19 f.). Vor diesem Hintergrund sind detaillierte Differenzierungen nicht angezeigt. Es ist unverändert beachtlich wahrscheinlich, dass irakische Asylbewerber wegen einer illegalen Ausreise und eines Asylantrags in Deutschland vom irakischen Staat politisch verfolgt werden. Damit befindet sich der Senat in weitgehender Übereinstimmung mit der jüngeren Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. VGH BW vom 11.4.2002 Az. A 2 S 712/01; OVG RhPf vom 4.6.2002 Az. 7 A 10365/02.OVG; NdsOVG vom 21.6.02 Az. 9 LB 3662/01; SächsOVG vom 13.9.02 Az. 4 B 269/02; a.A. nur OVG NRW vom 19.7.2002 Az. 9 A 1346/02.A) und der mit Rechtsstreitigkeiten irakischer Asylbewerber befassten weiteren Senate des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. 23. Senat vom 6.6.2002 Az. 23 B 02.30536; 20. Senat vom 22.10.2001 Az. 20 B 01.30732).

4. Dem Beigeladenen ist eine Rückkehr in sein Heimatland nicht zumutbar. Er wäre zwar nicht landesweit von politischer Verfolgung bedroht, sondern im Nordirak auf absehbare Zeit vor politischer Verfolgung hinreichend sicher (vgl. Urteil des Senats vom 22.5.2000 Az. 15 B 98.31916). Auf eine inländische Fluchtalternative kann er aber gleichwohl nicht verwiesen werden, weil ihm im Nordirak nach dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit andere Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und so am Herkunftsort nicht bestehen (vgl. BVerwG vom 5.10.1999 BVerwGE 109, 353/355 f.). Solche anderen Nachteile und Gefahren drohen, wenn der Asylsuchende auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt oder wenn er dort nichts anderes als ein "Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums" zu erwarten hat (vgl. BVerwG vom 31.7.2002 InfAuslR 2002, 455 m.w.N.). Der Beigeladene kann sein wirtschaftliches Existenzminimum weder aus eigener Kraft sichern (a) noch von der turkmenischen Volksgruppe (b) oder von seinen Verwandten aus Kirkuk (c) erhalten. Er müsste sich im Nordirak - um zu überleben - in ein Lager für Binnenvertriebene begeben. Dort erwartet ihn ein perspektiveloses Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums und damit eine Lage, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommt und so am Herkunftsort nicht besteht (d).

a) Nach der im Kern übereinstimmenden Einschätzung aller fachkundigen Stellen kann ein ortsfremder Kurde, der im Nordirak nicht länger gelebt hat, über keine gesellschaftlich-familiären Bindungen verfügt oder kein Barvermögen in beträchtlicher Höhe besitzt, dort - abgesehen von der noch zu erörternden Frage eines Aufenthalts in einem Lager für Binnenvertriebene - nicht leben, ohne in existenzielle Not zu geraten (vgl. AA, Lageberichte vom 31.8.1998, 27.1.1999 und 25.10.1999; AA, Auskunft vom 27.3.1998 an VG Mainz; UNHCR, Stellungnahmen vom 2.12.1996 an VG Augsburg, und vom 12.5.1997 an VG München; DOI, Stellungnahmen vom 31.3.1998 an VG Mainz, vom 30.6.1998 an VG Aachen, vom 6.8.1998 an VG Koblenz und vom 6.12.1999 an OVG M-V). Die wirtschaftliche Lage und die materiellen Lebensbedingungen der eingesessenen Bevölkerung im Nordirak haben sich zwar gegenüber der Lage in den 90er Jahren verbessert (vgl. AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 23; Stellungnahme des DOI vom 20.11.2001 an OVG LSA, S. 1 ff.). Die vorhandenen Ressourcen sowie die Möglichkeiten, irgendwie Geld zu verdienen, werden jedoch unter den meist großen Familien aufgeteilt. Nur den Angehörigen eingesessener Sippen und Stämme ist damit ein Überleben möglich. Ein Ortsfremder dagegen, der auf die familiär - klientelistischen Verbindungen nicht zurückgreifen kann, muss dort in existentielle Not geraten, weil für ihn keine Möglichkeit einer Teilhabe offen steht. Der Beigeladene kann sich im Nordirak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine wirtschaftliche Existenz durch eigene Arbeit aufbauen, denn es herrscht eine extrem hohe Arbeitslosigkeit (Urteil des Senats vom 28.9.2001 Az. 15 B 99.32079; Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002: 70 % der Gesamtbevölkerung; Council of the European Union, 6.6.2001, S. 153; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Lageanalyse Nordirak vom 31.1.2000, S. 19).

b) Für den Beigeladenen als einen irakischen Staatsangehörigen turkmenischer Volkszugehörigkeit besteht keine Möglichkeit, sein Existenzminimum durch die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen turkmenischer Parteien oder Organisationen zu sichern. Die Hilfemöglichkeiten turkmenischer Parteien sind äußerst gering. KDP und PUK verlangen von ihnen eine Bürgschaft, dass für den Lebensunterhalt und die Unterkunft betroffener Flüchtlinge aufgekommen wird, sollten diese außerhalb eines Lagers leben wollen (UNHCR, Stellungnahme vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 3; Thomas Uwer, Gutachten vom 27.1.2002 an das VG Magdeburg, S. 7). Die turkmenischen Parteien verfügen, anders als KDP und PUK, nicht über eigene Verwaltungsstrukturen und sind selbst nicht in der Lage, Unterkunft und Arbeit anzubieten (Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 18.4.2002 an VG Leipzig, S. 5 f.). Es gibt weder spezifisch turkmenische Projekte zum (Wieder-)Aufbau von Dörfern noch verteilen turkmenische Parteien und Organisationen regelmäßig Nahrungsmittel. Lediglich wichtige Funktionäre und sonstige für die Parteien bedeutsame Personen - hierzu gehört der Beigeladene nicht - können mit Hilfeleistungen der Parteien rechnen. Eine Existenzsicherung von Turkmenen aus dem Zentralirak würde die finanziellen Ressourcen der kleinen Volksgruppe der Turkmenen im Nordirak (vgl. DOI, Stellungnahme vom 2.6.2000 an VG Regensburg) angesichts der seit Jahren anhaltenden Fluchtbewegung aus dem Zentralirak überschreiten (vgl. Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 18.4.2002 an VG Leipzig, S. 6; Norwegian Refugee Council, Profile of Internal Displacement: Iraq, vom 10.6.2002, - NRC - ,S. 21, 24, 29 ff., 49; AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 17 f.).

c) Der Beigeladene könnte auch nicht über seine Verwandten aus Kirkuk die erforderlichen Unterstützungsleistungen in Form von Unterkunft und Lebensmitteln erhalten. Für eine Unterkunft im Nordirak sind verwandtschaftliche Beziehungen nach Kirkuk von vornherein völlig unbehelflich. Nur mit tragfähigen Beziehungen zu nordirakischen Verwandten oder zu kurdischen Parteien kann eine Unterkunft erlangt werden. Solche hat der Beigeladene glaubhaft verneint. Weshalb das Erstgericht tragfähige Beziehungen als naheliegend angenommen hat, lässt sich den Entscheidungsgründen nicht entnehmen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die widerspruchsfreien Angaben des Beigeladenen vor dem Bundesamt und vor dem Erstgericht, keine Beziehungen in den Nordirak zu haben, unzutreffend sein könnten. Der Beigeladene kann mangels ausreichender Beziehungen keine Aufenthaltserlaubnis für einen Ort im Nordirak außerhalb eines Lagers erhalten (UNHCR, Stellungnahme des vom 23.11.2001 an das OVG LSA, S. 3; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 1.4.2002 an BayVGH, S. 1, vom 18.4.2002 an VG Leipzig, S. 4, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 6; Thomas Uwer, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 5: Wer keine Aufenthaltserlaubnis erhält,... wird in ein Flüchtlingslager verbracht."). Unabhängig davon scheidet eine halbwegs verlässliche Sicherung der Existenz mittels Geld und Lebensmitteln durch die Eltern und Verwandten des Beigeladenen auch deshalb aus, weil diese selbst als Turkmenen aus dem Bereich Kirkuk - einer Region, in der im Zuge der Arabisierungspolitik des irakischen Regimes täglich fünf bis sechs kurdische, turkmenische und assyrische Familien in den Nordirak vertrieben werden (NRC, a.a.O., S.29) - der akuten Gefahr einer Vertreibung durch das irakische Regime ausgesetzt sind.

d) Auf einen noch in Betracht zu ziehenden Aufenthalt in den Lagern für Binnenvertriebene braucht sich der Beigeladene bei der gebotenen generalisierenden Betrachtungsweise nicht verweisen zu lassen. Dort würde ihn dauerhaft ein perspektiveloses Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums erwarten.

aa) Die Leistungen aus dem Oil-for-Food-Programm (Lebensmittelrationen) sichern lediglich ein Überleben der Lagerbewohner auf niedrigem Niveau (vgl. auch NRC, a.a.O., S. 68: 800.000 Binnenflüchtlinge werden aufgrund des Oil-for-Food-Programms im Nordirak ernährt; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 1.4.2002 an BayVGH, S. 1; Savelsberg, Niederschrift des Verwaltungsgerichtshofs, 15. Senat, über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 4 f.). Die monatlich zur Verteilung kommenden Lebensmittelrationen in Form von Lebensmittelpaketen bestehen aus Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchten, Speiseöl, Milchpulver, Tee, Zucker, Salz, Waschpulver, Seife und für Kleinkinder bis zu einem Jahr auch Baby-Milchpulver; Fleisch, Eier, Obst und Gemüse fehlen (vgl. z.B. DOI, Stellungnahmen vom 20.11.2001 an OVG LSA, S. 5, sowie vom 3.4.2002 an VG Greifswald, S. 5, und vom 6.5.2002 VG Leipzig, S. 2). In welcher Höhe der tägliche Kalorien- und Proteinbedarf eines Lagerbewohners durchschnittlich gedeckt wird, lässt sich nicht ermitteln, weil regelmäßig bestimmte Komponenten des Warenkorbs ausfallen oder an Qualitätsmängeln leiden. Die Gutachter verweisen insoweit auf immer wieder auftretende Defizite sowie auf sonstige in Zusammenhang mit der Lebensmittelversorgung stehende Umstände wie eine unzureichende Wasser- und Elektrizitätsversorgung (AA, Lagebericht vom 20.3.2002, S. 18; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 1.4.2002 an BayVGH, S.2 f.; Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 2; Savelsberg, Niederschrift des Verwaltungsgerichtshofs, 15. Senat, über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 5; DOI, Stellungnahmen vom 20.11.2001 an VG Greifswald, S.10 f., vom 3.4.2002, S. 8 f., vom 6.5.2002 an VG Leipzig, S. 2; Staatliche Einwanderungsbehörde Schweden, Bericht über die Fact-Finding-Reise in den Nordirak vom 6. bis 14.1.1999, S. 5; Schweizerisches Bundesamt für Flüchtlinge, Bericht über die Dienstreise vom 7. bis 27. März 2001, Nr. 2.2; Inga Rogg, Gutachten vom 28.3.2002 an BayVGH, S. 11; UNHCR vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 3: bis 90 % des "normalen" Tagesbedarfs an Kilokalorien und bis 84 % an Proteinen). Fehlende Komponenten und Qualitätsmängel der Lebensmittelrationen führen auch nicht zu Ersatzlieferungen (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 2). Die bereits im Warenkorb nicht vorgesehenen Komponenten sowie die mengen- und qualitätsmäßigen Defizite der Rationen können wegen eines fehlenden familiären und sozialen Beziehungsgeflechts sowie wegen fehlender Selbsthilfemöglichkeiten nicht ausgeglichen oder abgemildert werden. Schwundquoten oder unvollständige Lieferungen zu regionalen Verteilstellen führen vor Ort nicht zu einer anteilsmäßigen Verringerung der Komponenten des Warenkorbs für die Lagerbewohner, sondern zum vollständigen Ausfall von Komponenten (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 2; Savelsberg, Niederschrift des Verwaltungsgerichtshofs, 15. Senat, über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 5: Komponenten fehlten regelmäßig). Gleichwohl ist, wie insbesondere die Einvernahme der Sachverständigen ergeben hat, in den Lagern bei generalisierender Betrachtungsweise das Existenzminimum bei der Ernährung insgesamt noch gewährleistet, wenn auch der Lebensstandard deutlich unter dem Lebensstandard der eingesessenen Bevölkerung im Nordirak liegt (UNHCR, Stellungnahme zur Relevanz der Anwesenheit von Binnenvertriebenen für die Frage des internen Relokationsprinzips, März 2002, S. 4).

bb) Die Unterkünfte der Lagerbewohner liegen allenfalls im untersten Bereich dessen, was noch als "Unterkunft" bezeichnet werden kann (vgl. zur allgemeinen Situation Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 5: kaum als menschenwürdig zu bezeichnen, Infrastruktur der Lager ist katastrophal; Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 2 f., sowie die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Fotodokumentation; NRC, S. 39: Überblick; S. 43 f. zum Zustand der Unterkünfte, der Infrastruktur, der Versorgungseinrichtungen sowie zur Belegungsdichte; S. 74: zum Soforthilfebedarf aus dem Jahresbericht 2001 des IFRC). Die Flüchtlingslager entstanden regelmäßig außerhalb von Städten und bestehen nahezu ausschließlich aus Elendsquartieren in einem katastrophalen baulichen Zustand (vgl. Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S.3). Im Allgemeinen handelt es sich bei den Unterkünften um fensterlose Hütten, zweckentfremdete, partiell zerstörte Bauten, wie früher militärisch genutzte Gebäude, halbverfallene Regierungsgebäude oder Hotels, Zelte oder Kombinationen von Hütten und Zelten (vgl. auch Inga Rogg, Gutachten vom 28.3.2002 an BayVGH, S. 10; NRC, S. 43 f.: Tausende aus Kirkuk und anderen Gebieten Vertriebene leben in Zelten oder früher militärisch genutzten zwischenzeitlich verfallenen Einrichtungen; S. 73 f.). Die Unterkünfte sind meist von den Bewohnern selbst aus Beton - oder Bruchsteinen, Lehmziegeln mit Ästen, Holz - und Plastikabfällen, Pappe, geflochtenem Pflanzenmaterial usw. gebaut worden. Die Fugen sind mit Lehm, Erdreich oder anderen Materialien ausgefüllt. Zelte sind vielfach aus Plastikfolien, Zeltbahnen, Planen, geflochtenem Pflanzenmaterial und Abfallprodukten errichtet worden. Es werden aber auch größere Zelte für mehrere Personen zur Verfügung gestellt (vgl. insbesondere die Fotodokumentation der Sachverständigen Hajo und Savelsberg). Die Unterkünfte sind im Winter nur unzureichend heizbar (z.B. kein Glas in den Fensteröffnungen; keine Türen, keine dichten Wände und Dächer). In den selbst gebauten Hütten und Zelten ist es von Mai bis August mit Temperaturen von 50 Grad und mehr unerträglich heiß (vgl. z. B. Inga Rogg, a.a.O., S. 10). Die Dächer schützen nicht zuverlässig vor Regen. Das unbefestigte Gelände in den Lagern verschlammt im Herbst und Winter (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation, S. 3). Die von der UN (Habitat) durchgeführten Bauprogramme führen zu keiner allgemeinen Entlastung bei der Unterbringung von Binnenflüchtlingen. So konnten bisher lediglich 1,32 % der Binnenflüchtlinge in Wohneinheiten untergebracht werden. Die UN gehen selbst davon aus, dass die große ständig ansteigende Zahl der Flüchtlinge ihre Kapazität, neuen Wohnraum zu schaffen, übersteigt (Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4; UNHCR, Stellungnahme vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 4: "Weiterhin wird berichtet, dass die vorgesehene Bereitstellung von 26.000 weiteren Notunterkünften ... ungenügend ist."). Im Übrigen sind Hauptnutznießer gerade dieser Unterkünfte Rückkehrer aus dem Iran, PKK-Opfer sowie Opfer aus den Auseinandersetzungen der kurdischen Parteien, meist Peshmerga sowie Witwen mit Kindern (vgl. Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 5).

Die Zahl der Binnenflüchtlinge nimmt ständig zu (NRC, S. 29, 44; Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4). So kommen weiterhin allein 10 bis 20 Familien aus dem Zentralirak wöchentlich nach Arbil (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 1; UNHCR/ACCORD, Final Report on the 6th Country of Origin Information, Final Report, Mai 2001, S.58; UNHCR, Stellungnahme vom 23,11.2001 an OVG LSA, S. 3, NRC, S. 47 f.). Die Flüchtlingslager sind durchweg überfüllt (Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4: "Lager hoffnungslos überfüllt."; vom 18.4.2002 an VG Leipzig, S. 5: "Tendenz steigend"). Die Untergebrachten verfügen in den Unterkünften etwa über eine Fläche von nicht mehr als zwei Quadratmetern (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2001, S. 3). Gekocht wird im Wohnraum oder im Hof oder in zwei bis drei Quadratmeter großen Kochnischen auf zwei elektrischen Herdplatten. Die meist selbstgebauten sanitären Anlagen im Freien sind extrem primitiv. In den Lagern gibt es regelmäßig kein funktionierendes Abwassersystem (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 3, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 4; Inga Rogg, Gutachten vom 28.03.2002 an BayVGH, S. 10: " ... in zahlreichen Lagern marode und bedarf dringend der Sanierung, die nicht geleistet werden kann"; Stellungnahme des UNHCR vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 4: Kanalisations- und sanitären Anlagen entweder nicht vorhanden oder in einem Zustand des beträchtlichen Zerfalls; ebenso Thomas Uwer, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 8). Das Abwasser fließt zwischen den Unterkünften ab, versickert und verunreinigt teilweise das Trinkwasser. In der Mehrzahl der Flüchtlingsunterkünfte ist die Wasserversorgung unzureichend. Verunreinigtes Wasser ist im Nordirak ein immer noch verbreitetes Problem. In ländlichen Gebieten geht die bakteriologische Verunreinigung über die von der World Health Organization (WHO) erstellten Grenzwerte hinaus (UNHCR, Stellungnahme des vom 23.11.2001 an das OVG LSA, S. 3). In den Lagern ist nicht immer Wasser vorhanden, so dass Wasser aus entfernt liegenden Flüssen und Brunnen geholt oder in Tankwagen angeliefert werden muss (vgl. Hajo/Savelsberg, Gutachten vom 27.1.2002 an VG Magdeburg, S. 5; Inga Rogg, Gutachten vom 28.3.2002 an BayVGH, S.10). Es ist vielfach verunreinigt und im Sommer kochend heiß, wenn Wassertanks der Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind. Die Müllentsorgung ist unzureichend. Ratten verschlimmern die ohnehin schon problematische sanitäre Situation (Inga Rogg, Gutachten vom 28.3.2002 an BayVGH, S. 10). Eine Stromversorgung besteht nur stundenweise (Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 3).

cc) Die Bewohner eines Lagers für Binnenvertriebene erwartet dort unter den vorerwähnten Bedingungen ein Lagerleben auf Dauer ohne irgendeine realistische Perspektive auf eine Eingliederung in ein normales gesellschaftliches Leben (vgl. auch UNHCR, Stellungnahme vom 23.11.2001 an OVG LSA, S. 3, unter Hinweis auf United Nations. Security Council, Report of the Secretary General pursuant to paragraph 5 of resolution 1302 [2000] S/2000/1132, 29. November 2000, Abs. 4). Die Sachverständige Savelsberg hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mitgeteilt, die meisten Lagerbewohner, mit denen man gesprochen habe, hätten sich bereits vier bis sechs Jahre in dem Lager aufgehalten (Niederschrift des Verwaltungsgerichtshofs, 15. Senat, über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 4). Selbst Überlebende aus der al-anfal-Kampagne von 1987 bis 1988 leben noch in den Lagern (Inga Rogg, a.a.O., S. 3, 9). Eine Integration der Lagerbewohner wird von den kurdischen Regionalregierungen vor dem Hintergrund des Ungleichgewichts der Bevölkerungszahlen (Gesamtbevölkerung von 3.515.921 Einwohnern im Nordirak, davon 805.505 Binnenvertriebene nach UN-Habitat, Oktober 2000; zitiert nach Hajo/Savelsberg, Vorabinformation vom 1.10.2002, S. 1) bewusst verhindert, weil sie - nachvollziehbar - sozial und ökonomisch nicht in der Lage seien, einen massenhaften Zuzug zu verkraften; zudem würde die Arabisierungspolitik der Zentralregierung in kurdischen Siedlungsgebieten unterstützt. Die kurdischen Parteien versuchen, Deportierte und Flüchtlinge aus städtischen Ballungsräumen zu verdrängen (Thomas Uwer, Gutachten vom 27.1.2002 an das VG Magdeburg, S. 5 f., m.w.N.). Es besteht, zumal in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit unter der eingesessenen Bevölkerung, für die Lagerbewohner keinerlei realistische Möglichkeit, sich selbst oder mit behördlicher Hilfe (vgl. Inga Rogg, Gutachten , a.a.O., S. 10; Thomas Uwer, a.a.O., S. 6 f.) eine Lebensgrundlage außerhalb eines Lagers aufzubauen.

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich an den umschriebenen gegenwärtigen Lebensverhältnissen in den Lagern in absehbarer Zeit etwas zu Gunsten der Lagerbewohner ändern könnte. Es fehlen die wirtschaftlichen Voraussetzungen in den kurdischen Gebieten sowie ein Integrationswille und eine Hilfebereitschaft innerhalb der Bevölkerung und der maßgebenden kurdischen Parteien (Thomas Uwer, a.a.O., S. 6 f.; Inga Rogg, Gutachten an BayVGH vom 28.3.2002, S. 12).

dd) Auf ein solches perspektiveloses Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums wäre der Beigeladene am Herkunftsort nicht verwiesen. Zwar zeigt die Auskunftslage, dass die Versorgung der Bevölkerung mit einer ausreichenden Ernährung auch im Zentralirak mangelhaft ist, wenngleich andrerseits viele Gesprächspartner der Sachverständigen Hajo und Savelsberg in den Lagern an ihren Herkunftsorten im Zentralirak zumindest kleine Läden betreiben konnten (vgl. Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 8.10.2002, S. 4). Bereits im Hinblick auf die Unterkunft unterscheidet sich die Lage in den Flüchtlingslagern aber deutlich von den Verhältnissen im Zentralirak. Von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass den Beigeladenen im Nordirak ein dauerhaftes Lagerleben außerhalb oder am Rande der Gesellschaft ohne irgendeine Perspektive einer sozialen Integration erwartet.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, Abs. 3 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylVfG.

6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.

7. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

Ende der Entscheidung

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