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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 30.01.2006
Aktenzeichen: 25 CS 05.2994
Rechtsgebiete: BayBO


Vorschriften:

BayBO Art. 6 Abs. 3
Vortretende Bauteile einer Dachfläche (z.B. Dachgauben) können bei Ermittlung der Abstandsfläche tendenziell umso weniger als untergeordnet außer Betracht bleiben, je mehr sich die übrige Dachfläche der 75-Grad-Grenze nähert.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

25 CS 05.2994

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Nachbarklage/Wohnhaus (Antrag nach § 80a Abs. 3 VwGO);

hier: Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 19. Oktober 2005,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 25. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schechinger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Dachlauer, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Petz

ohne mündliche Verhandlung am 30. Januar 2006

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. In Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Würzburg vom 19. Oktober 2005 wird die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Baugenehmigung des Landratsamts Haßberge vom 15. Juni 2005 angeordnet.

II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen; die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

III. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.750 Euro festgesetzt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde (§§ 146, 147 VwGO) ist begründet. Mit ihr wendet sich der Antragsteller gegen den vom Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss bestätigten Sofortvollzug der seinen Nachbarn - den Beigeladenen - erteilten Baugenehmigung zur Errichtung eines Einfamilienhauses. Diese Baugenehmigung ist nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 212 a Abs. 1 BauGB kraft Gesetzes sofort vollziehbar. Weil Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen und dadurch eine Rechtsverletzung des Antragstellers droht, ist in dessen überwiegendem Interesse gemäß § 80 a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung seines gegen sie erhobenen Widerspruchs anzuordnen.

Die rechtliche Beurteilung, die das Verwaltungsgericht im Anschluss an das Landratsamt vertritt, teilt der Senat in weitem Umfang. Das gilt für die Feststellung, dass die Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans wegen der Anzahl der Vollgeschoße und der zulässigen Dachneigung keine Nachbarrechte des Antragstellers betreffen, wie auch für die Ausklammerung des überdachten Eingangs und des die Abgrabung im Souterrain umgrenzenden Geländers aus der Längenberechnung der auf die gemeinsame Grundstücksgrenze gerichteten Außenwand des Vorhabens. Diese Bauteile halten mit ihren Wandhöhen die volle Tiefe der Abstandsfläche ein und sind schon deshalb für die Frage bedeutungslos, ob die Länge der Außenwand die Verkürzung der Abstandsflächentiefe aufgrund des 16-m-Privilegs gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO rechtfertigt. Das ist seit der Entscheidung des Großen Senats des Verwaltungsgerichtshofs vom 21. April 1986 (VGH n.F. 39, 9 = BayVBl 1986, 397) geklärt und gilt erst recht dann, wenn der zurücktretende oder niedrigere Bauteil nicht aus einer Wand, sondern - wie hier - im wesentlichen aus einem Geländer besteht. Das wird von der Beschwerdebegründung verkannt.

Das Landratsamt hat daher zutreffend eine Außenwandlänge von 14,86 m angenommen und als Abstandsflächentiefe die halbe Wandhöhe (Art. 6 Abs. 5 Satz 1, Abs. 4 Satz 1, Abs. 3 BayBO) für ausreichend erachtet. Diese Wandhöhe wurde jedoch in Bezug auf die Höhe des Daches aus rechtlichen Gründen zu niedrig angesetzt; der Abstand zwischen der Außenwand und der Grundstücksgrenze reicht deshalb in Wirklichkeit für die erforderliche Abstandsfläche nicht aus.

Das Vorhaben ist mit einem Mansarddach geplant. Nach den genehmigten Plänen soll dessen oberer Teil eine Höhe von 0,22 m und eine Dachneigung von ca. 4,9 Grad, der untere Teil eine Höhe von 2,995 m (= aufgerundet 3 m) und eine Neigung von 75 Grad erhalten. Gemäß Art. 6 Abs. 3 Satz 4 BayBO wird der Wandhöhe die Höhe von Dächern mit einer Neigung von mehr als 75 Grad voll, von Dächern mit einer Neigung von mehr als 45 Grad zu einem Drittel hinzugerechnet. Im vorliegenden Fall wäre zur geplanten Wandhöhe von 6,08 m somit ein Drittel der Höhe des mit 75 Grad geneigten Dachteils, das ist 3 m : 3 = 1 m, zu addieren; der Ausnahmefall, dass ein Drittel der Gesamthöhe des Daches addiert werden müsste, liegt nicht vor, weil die durchschnittliche Dachneigung des gesamten Daches nicht über 45 Grad liegt (vgl. Rauscher in Simon/Busse, BayBO, RdNr. 138 zu Art. 6; vgl. auch - ohne Berücksichtigung eines Ausnahmefalls - Dirnberger in Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, BayBO, RdNr. 91 zu Art. 6; Koch/Molodovsky/Famers, BayBO, Anm. 7.4.3.2 zu Art. 6). Hieraus ergäbe sich als Maß für H 7,08 m und die Hälfte davon (3,54 m) als notwendige Tiefe der Abstandsfläche (Art. 6 Abs. 3 Satz 6, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 BauBO). Diese könnte, wie das Verwaltungsgericht und das Landratsamt zutreffend erkannt haben, bei einem Abstand zwischen Außenwand und Grundstücksgrenze von 3,59 m dem Gesetz entsprechend auf dem Baugrundstück selbst liegen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO).

Das Verwaltungsgericht und das Landratsamt haben aber zu Unrecht die vor die Dachfläche tretenden Dachgauben sowie die beiden im Dachbereich ebenfalls noch senkrecht weitergeführten Giebelmauerscheiben als abstandsflächenrechtlich irrelevant angesehen. Zwar ist ihr Ansatz grundsätzlich richtig, dass die für Außenwände geltende Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO analog auch auf vortretende Bauteile von Dachflächen anzuwenden ist (Schwarzer/König, BayBO, 3. Aufl. 2000, RdNr. 44 zu Art. 6; vgl. auch BayVGH vom 20.2.1990 BayVBl 1990, 500 = BauR 90, 455 = BRS 50, 265; Koch/Molodovsky/Famers, BayBO, Anm. 7.4.2.1 zu Art. 6; Rauscher, a.a.O. RdNr. 139). Vor die Dachfläche vortretende Bauteile und Vorbauten bleiben daher außer Betracht, wenn sie im Verhältnis zu der ihnen zugehörigen Dachfläche untergeordnet sind. Das ist hier aber nicht der Fall. Untergeordnet sind Bauteile, wenn sie nach Art, Funktion, Umfang und Auswirkungen nicht nennenswert ins Gewicht fallen und als verhältnismäßig unbedeutend erscheinen (vgl. BayVGH vom 27.11.1974 VGH n.F. 28, 29 = BRS 29, 184; NdsOVG vom 26.11.1987 BRS 47, 252; OVG Berlin vom 22.5.1992 BRS 54, 274; Koch/Molodovsky/Famers, BayBO, Anm. 7.4.2.3 zu Art. 6; Rauscher, a.a.O. RdNr. 201 zu Art. 6; Dirnberger, a.a.O., RdNr. 100 zu Art. 6). Wie schon der Gesetzeswortlaut zeigt, lässt sich dabei eine generelle quantitative obere Grenze nicht festlegen (vgl. Rauscher, a.a.O.). Für die notwendige Einzelfallbeurteilung wird bei den in Literatur und Rechtsprechung mitgeteilten Beispielsfällen überwiegend auf das Verhältnis der Breite des Bauteils zur Breite des Daches bzw. der Gebäudefront abgestellt, wobei Werte zwischen 1/5 und 1/2 als Scheidelinie herangezogen wurden (vgl. Koch/Molodovsky/Famers, a.a.O.; Rauscher, a.a.O., RdNrn. 139, 211 ff., jeweils m.w.N.).

Es erscheint deshalb schon als zweifelhaft, wenn im vorliegenden Fall allein auf das Unterschreiten der Hälfte der Dachlänge (14,86 m : 2 = 7,43 m) durch die Breite der drei Dachgauben (2,33 m x 3 = 6,99 m) abgestellt wurde. Es hätte hier auch einbezogen werden müssen, dass die Mansardenfenster eine doppelt so große Fläche wie die Fenster in den übrigen Geschoßen dieser Fassade aufweisen sollen und dadurch optisch ein besonderes Gewicht erhalten. Ferner muss berücksichtigt werden, dass Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO hier entsprechend angewandt wird und deshalb die abstandsflächenrechtliche Besonderheit der Dachfläche nicht übergangen werden darf. Geplant ist hier eine Dachneigung von 75 Grad, die genau die Grenze bildet, bis zu der die Dachhöhe nur bis zu einem Drittel abstandsflächenrelevant ist; eine geringfügige Überschreitung hätte bereits die Folge, dass die volle Dachhöhe zur Wandhöhe addiert werden müsste (Art. 6 Abs. 3 Satz 4 BayBO). Weil die Mansardenfenster (und erst recht die senkrechten Teile der beiden Giebelmauerscheiben) die 75-Grad-Neigung unterbrechen, entsteht bei durchschnittlicher Betrachtung eine steilere Dachneigung, die nach der Wertung des Gesetzes bereits wie eine Verlängerung der Außenwand behandelt werden müsste. Das führt zu der Folgerung, dass bei der Frage der Unterordnung vortretender Teile der Dachfläche tendenziell umso mehr Zurückhaltung zu üben ist, je steiler das Dach geneigt ist. Gegen diese Anforderung verstößt das geplante Vorhaben. Es kann damit den nötigen Abstand zur Grundstücksgrenze nicht mehr einhalten, wobei offen bleiben kann, wie sich die Nichtanwendbarkeit des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO auf die genaue Berechnung der Abstandsfläche auswirkt. Denkbar wäre zum einen - hierzu scheint die Landesanwaltschaft in der Beschwerdeerwiderung zu neigen und es hätte den Vorteil einer einfachen Handhabbarkeit - der Ansatz der vollen Dachhöhe nach Art. 6 Abs. 3 Satz 4 BayBO, weil die vortretenden Bauteile nicht entsprechend Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO "außer Betracht bleiben" und damit die Neigung des Daches insgesamt über 75 Grad liegt. Zum anderen könnten für diese Bauteile aber auch wie bei einer "gegliederten Außenwand" jeweils eigene Abstandsflächen bezogen auf ihre Höhe und Breite anfallen. Im ersten Fall ergäbe sich für das gesamte Gebäude eine Abstandsflächentiefe von (6,08 m + 3,00 m = 9,08 m : 2 =) 4,54 m, im zweiten Fall für die einzelnen Bauteile ungefähr (0,40 m : 2 =) 0,20 m weniger, also ca. 4,34 m. In beiden Fällen kann somit der vorhandene Grenzabstand von 3,59 m eindeutig nicht ausreichen.

Eine mögliche Umplanung und Neugestaltung der Fassadenfenster ist zunächst Sache der Beigeladenen. Die Beachtung der vorstehenden Grundsätze bei der Reduzierung der Fensterflächen dürfte wegen der vorgesehenen Nutzung (Technikraum, Flur und Bad) keine besonderen Schwierigkeiten aufwerfen. Ergänzend wird noch bemerkt, dass dabei auch die vortretenden Giebelmauerscheiben nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Diese wurden - durch Revision der Genehmigungsbehörde - auf eine Breite von je 0,30 m festgelegt. Weil mehrere Bauteile wegen ihres Summeneffekts zusammengerechnet werden müssen (vgl. Rauscher, a.a.O., RdNr. 139 zu Art. 6; Koch/Molodovsky/Famers, a.a.O.), müssen zur Gesamtbreite der Dachgauben noch 0,60 m addiert werden. Das haben übrigens das Verwaltungsgericht und das Landratsamt bei ihren Entscheidungen übersehen, weshalb sie eigentlich auch bei Ansatz ihrer Hälfte-Grenze (14,86 m Dachlänge bei 7,59 m Breite aller vortretenden Bauteile) nicht mehr von untergeordneten Bauteilen hätten ausgehen dürfen.

Kostenentscheidung: § 154 Abs. 1, 3, § 162 Abs. 3 VwGO; Streitwert: § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.

Ende der Entscheidung

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