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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 01.07.2009
Aktenzeichen: 9 BV 09.743
Rechtsgebiete: EG, VO (EG) Nr. 258/97, Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000


Vorschriften:

EG Art. 249 Abs. 4
VO (EG) Nr. 258/97 vom 27. Januar 1997 (ABl Nr. L 043 S. 1)
Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 (2000/196/EG; ABl Nr. L 61/14)
Die Frage, ob eine an einen bestimmten Unternehmer gerichtete Entscheidung der Europäischen Kommission, dass ein bestimmtes Lebensmittel als neuartiges Lebensmittel oder als neuartige Lebensmittelzutat in der Gemeinschaft nicht zugelassen ist, Bindungswirkung gegenüber einem anderen Unternehmer hat, der dasselbe Lebensmittel in der Gemeinschaft in Verkehr bringt oder bringen will, hängt von der Auslegung des Art. 249 Abs. 4 EG und der Auslegung der Kommissionsentscheidung ab und wird daher dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

9 BV 09.743

In der Verwaltungsstreitsache

wegen lebensmittelrechtlicher Anordnung;

hier: Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 13. Mai 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 9. Senat, durch

den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Dr. Schechinger, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Bergmüller, die Richterin am Verwaltungsgerichtshof Krieger

aufgrund mündlicher Verhandlung vom 29. Juni 2009

am 1. Juli 2009

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Dem Europäischen Gerichtshof werden gemäß Art. 234 EG folgende Fragen zur Auslegung des Art. 249 Abs. 4 EG und der Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 (2000/196/EG) vorgelegt:

1. Schließt es Art. 249 Abs. 4 EG aus, eine nach ihrem Wortlaut nur an einen bestimmten Betroffenen gerichtete Entscheidung der Kommission so zu verstehen, dass sie auch gegenüber anderen Unternehmen verbindlich ist, die nach Sinn und Zweck der Entscheidung in gleicher Weise zu behandeln sind?

2. Ist die Entscheidung der Kommission vom 22.Februar 2000 über die Zulassungsverweigerung von "Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" als neuartige Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutaten (2000/196/EG; ABl Nr. L 61/14 vom 8.3.2000), nach deren Art. 1 "Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" als neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft nicht zugelassen sind, auch gegenüber der Klägerin verbindlich, die "Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" derzeit in der Gemeinschaft in Verkehr bringt?

II. Das Berufungsverfahren wird für die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens ausgesetzt.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt die Aufhebung des nationalen behördlichen Verbots, das Produkt "Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" in der Bundesrepublik Deutschland in Verkehr zu bringen. Die Beteiligten streiten darüber, ob es sich bei diesem Produkt um ein neuartiges Lebensmittel im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 258/97 vom 27. Januar 1997 (ABl Nr. L 043 S. 1; sog. Novel-Food-Verordnung) handelt, das nur nach vorheriger Durchführung eines gemeinschaftsrechtlichen Genehmigungsverfahrens in der Gemeinschaft in Verkehr gebracht werden darf.

Die Klägerin stellt verschiedene Teesorten her und vertreibt diese. Sie werden nach den Rezepturen einer Vorgängerfirma namens "********* ********************* GmbH" hergestellt; von deren Nachfolgefirma "****** ****** AG" hat die Klägerin Namen und Rezeptur der Teesorten übernommen. In verschiedenen Teesorten werden Bestandteile der südamerikanischen Stevia-Blätter als Süßungsmittel (in den Katalogen und Packungsaufschriften als "Greensweet" bezeichnet) verwendet.

Die Europäische Kommission hat mit Entscheidung vom 22. Februar 2000 (2000/196/EG) in Art. 1 festgestellt, das "Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" als neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft nicht zugelassen sind. Nach Art. 2 der Entscheidung ist diese an Prof. J. *****, KUL-Pflanzenphysiologisches Labor, in Belgien gerichtet. Die Klägerin war an diesem Verfahren nicht beteiligt.

Das Landratsamt B** ******************* beanstandete "Stevia rebaudiana Bertoni" mit Schreiben vom 17. April 2000 erstmals als neuartiges, in der Gemeinschaft nicht zugelassenes Lebensmittel. Sowohl die Vorgängerfirmen wie auch die Klägerin beharrten demgegenüber darauf, dass es sich nicht um ein neuartiges Lebensmittel handele, weil das Produkt schon vor Inkrafttreten der Novel-Food-Verordnung in der Gemeinschaft verwendet und in Verkehr gebracht worden sei.

Mit Bescheid vom 8. April 2003 untersagte das Landratsamt B** ******************* mit sofortiger Wirkung das Inverkehrbringen der Teesorten "E*****-Tee", "P********** Eistee", "A**** ****** Tee" und "A**** ***** ***** Kräuter Tee" und drohte für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 500 Euro an. Zur Begründung führte das Landratsamt aus, dass mit der Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 die Zulassung von "Stevia rebaudiana Bertoni" als neuartiges Lebensmittel verweigert worden sei. Diese für alle Mitgliedsstaaten verbindliche Entscheidung untersage somit ein Inverkehrbringen dieses Produktes. Die Klägerin habe nicht darzulegen vermocht, dass die beanstandeten Teesorten bereits vor dem Inkrafttreten der Novel-Food-Verordnung am 15. Mai 1997 in der Gemeinschaft in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr in Verkehr gebracht worden seien. Die von den Vorgängerfirmen der Klägerin und der Klägerin vorgelegten Unterlagen (insbesondere Kataloge aus den Jahren 1994 - 1997) seien hierfür nicht ausreichend.

Mit der dagegen erhobenen Klage trug die Klägerin insbesondere vor, die Produkte seien bereits Anfang der 90iger Jahre von der Rechtsvorgängerin der Klägerin entwickelt und schon vor Mai 1997 in hunderttausenden von Exemplaren in der Europäischen Gemeinschaft im Wege des Versandhandels und über Naturkostgeschäfte in Verkehr gebracht worden. Die Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 habe ihr gegenüber keinerlei Bindungswirkung.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit Urteil vom 13. Mai 2004 stattgegeben. Die Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 entfalte nur gegenüber dem in Art. 2 der Entscheidung genannten Adressaten Bindungswirkung. Bei den beanstandeten Teesorten handle es sich nicht um neuartige Lebensmittel im Sinne der Novel-Food-Verordnung. Dass "Stevia rebaudiana Bertoni" vor dem 15. Mai 1997 tatsächlich den Teemischungen beigefügt gewesen sei, ergebe sich aus den in den Akten befindlichen Ablichtungen des Katalogs 1994/95, des Hauptkatalogs 1995/96 und des Hauptkatalogs 1996/97. Zum Umfang der Herstellung und des Vertriebs der mit dem genannten Produkt versehenen Teemischungen bereits vor dem 15. Mai 1997 habe der frühere Produktmanager der Firma ********** ********************* GmbH" zutreffend und glaubhaft ausgesagt.

In dem vom Freistaat Bayern hiergegen angestrengten Berufungsverfahren hat die Klägerin u.a. die Vernehmung mehrerer Zeugen zum Beweis der Tatsache angeboten, dass "Stevia rebaudiana Bertoni" bereits vor dem 15. Mai 1997 in erheblichem Umfang in verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft zum menschlichen Verzehr in Verkehr gebracht worden sei.

Im Berufungsverfahren hat der Freistaat Bayern mitteilen lassen, dass angesichts des Urteils des Verwaltungsgerichts die Arbeitsgruppe "Neuartige Lebensmittel" der Europäischen Kommission erneut mit der Beurteilung von "Stevia rebaudiana Bertoni" befasst worden sei und diese die Einstufung des Produktes als neuartig im Sinne der Novel-Food-Verordnung bestätigt habe (Bl. 19 bis 21 der Akte 9 BV 04.2441).

II.

Die im Berufungsverfahren zu treffende Entscheidung, ob das Verbot des Inverkehrbringens von "Stevia rebaudiana Bertoni" rechtswidrig ist, hängt von den vorgelegten Fragen zur Auslegung des Art. 249 Abs. 4 EG und der Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 ab. Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich durch letztere daran gehindert, in die von der Klägerin begehrte Beweisaufnahme (insbesondere Vernehmung von Zeugen) einzutreten.

Der Beklagte stützt das Verbot des Inverkehrbringens von "Stevia rebaudiana Bertoni" auf Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 des Bayerischen Lebensmittelüberwachungsgesetzes - LÜG - vom 11. November 1997 (GVBl S. 738) in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung (§ 2 des Gesetzes vom 24.12.2002, GVBl S. 981). Die Vorschrift bestimmt:

Die Lebensmittelbehörden können zur Erfüllung ihrer Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen treffen, um

1. Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften ... zu verhüten oder zu unterbinden.

...

Der Beklagte sieht einen Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung - NLV - (in der Fassung der Bekanntmachung vom 14.2.2000, BGBl I S. 123, zuletzt geändert durch Gesetz vom 6.8.2002, BGBl I S. 3082, 3099) als gegeben an. Die Vorschrift lautet:

Lebensmittel und Lebensmittelzutaten im Sinne des Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 dürfen vorbehaltlich des Absatzes 2 von demjenigen, der für das Inverkehrbringen verantwortlich ist, nicht ohne eine nach den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 genannten Verfahren erteilte Genehmigung in den Verkehr gebracht werden.

Ein solches Genehmigungsverfahren wurde für "Stevia rebaudiana Bertoni" in dem der Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 zugrunde liegenden Fall durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass das Produkt als neuartiges Lebensmittel oder Lebensmittelzutat in der Gemeinschaft nicht zugelassen ist. Die Klägerin weigert sich, die Verbindlichkeit dieser Entscheidung für sich anzuerkennen oder für sich bei der Kommission ein solches Verwaltungsverfahren durchzuführen, weil "Stevia rebaudiana Bertoni" nicht neuartig im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 258/97 sei.

Deren Art. 1 Abs. 2 lautet wie folgt:

Diese Verordnung findet Anwendung auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft, die in dieser bisher noch nicht im nennenswerten Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und die unter nachstehende Gruppen von Erzeugnissen fallen:

...

(e) Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Pflanzen bestehen oder aus Pflanzen isoliert worden sind, ... außer Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die mit herkömmlichen Vermehrungs- oder Zuchtmethoden gewonnen wurden und die erfahrungsgemäß als unbedenkliche Lebensmittel gelten können;

...

Der Verwaltungsgerichtshof neigt zu der Auffassung, dass durch die Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 auch für den vorliegenden Rechtsstreit verbindlich geklärt ist, dass "Stevia rebaudiana Bertoni" ein neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebensmittelzutat ist und in der Gemeinschaft nicht in Verkehr gebracht werden darf. Das setzt allerdings eine Auslegung des europäischen Rechts voraus, die zu den beiden Vorlagefragen geführt hat.

Zur Vorlagefrage 1:

Nach Art. 249 Abs. 4 EG ist die Entscheidung der Kommission in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet.

In Abgrenzung zur Verordnung muss der Kreis der Adressaten bei der Entscheidung geschlossen sein (vgl. Nettesheim in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 2008, RdNr. 188 zu Art. 249 EGV m.w.N.). Im vorliegenden Fall ist die Entscheidung nach ihrem Wortlaut an eine einzelne Privatperson gerichtet. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Art. 249 Abs. 4 EG so zu verstehen ist, dass eine Entscheidung der Kommission nur für diejenigen verbindlich ist, die sie ausdrücklich bezeichnet oder ob eine ausdrückliche Benennung aller Adressaten nicht zwingend notwendig ist und den Anforderungen des Art. 249 Abs. 4 EG auch dann entsprochen wird, wenn sich aus dem Inhalt der Entscheidung ergibt, für wen sie Rechte und Pflichten begründen soll, ob es also ausreicht, wenn der adressierte Personenkreis individualisierbar ist (bejahend Nettesheim a.a.O., RdNr. 194 zu Art. 249 EGV m.w.N.). Der Verwaltungsgerichtshof neigt dieser Auffassung zu.

Zur Vorlagefrage 2:

Verneint der Gerichtshof die Vorlagefrage 1, so wäre eine Auslegung der Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 denkbar, dass sie nicht nur gegenüber dem in Art. 2 der Entscheidung ausdrücklich genannten Herrn Prof. J. ***** verbindliche Wirkung entfaltet, sondern auch gegenüber der Klägerin. Bereits der Wortlaut des Art. 1 der Entscheidung ("Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter" sind als neuartige Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft nicht zugelassen), spricht für eine Bindungswirkung auch gegenüber anderen Unternehmen. Es wird generell eine Pflanzenart angesprochen und nicht das individuelle Produkt eines bestimmten Herstellers. Auch eine Feststellung der Neuartigkeit des Lebensmittels wird im Wortlaut eindeutig als Regelungsinhalt dargestellt (Erwägungsgrund 4 Satz 1). Für eine Bindungswirkung über den entschiedenen Einzelfall hinaus spricht auch die in Art. 7 Abs. 3 Novel-Food-Verordnung vorgeschriebene Veröffentlichungspflicht einer solchen Entscheidung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften. Die Kommission selbst geht davon aus, dass sie u.a. über die Neuartigkeit von "Stevia rebaudiana Bertoni" mit verbindlicher Wirkung auch für andere Fälle entschieden hat, wie das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in seinem Bericht vom 30. September 2004 über die Sitzung der Arbeitsgruppe "Neuartige Lebensmittel" der Kommission darlegt. Auch nach ihrem Sinn und Zweck dürfte die Entscheidung so zu verstehen sein, dass sie die Verkehrsfähigkeit von "Stevia rebaudiana Bertoni" einschließlich ihrer Neuartigkeit für das Gebiet der Gemeinschaft generell regeln und eventuelle Konkurrenten in das Verkehrsverbot mit einbeziehen wollte. Ohne diese Gleichbehandlung könnte das Marktgeschehen ungerechtfertigt gestört werden. Der Aufwand einer Entscheidung auf europäischer Ebene stünde auch in einem Missverhältnis zur Wirkung, wenn jedermann auf nationaler Ebene die Richtigkeit der Kommissionsentscheidung bestreiten könnte.

Gegen die Verbindlichkeit der Entscheidung der Kommission auch der Klägerin gegenüber spricht auch nicht, dass die Klägerin an dem Verfahren der Kommission nicht beteiligt worden war. Spätestens seit Veröffentlichung der Entscheidung der Kommission bestand für die Klägerin die Möglichkeit, ein Verfahren nach der Novel-Food-Verordnung durchzuführen und dort unter Wahrung ihrer Beteiligungsrechte den Nachweis zu führen, dass das umstrittene Lebensmittel nicht neuartig oder jedenfalls für den Verbraucher unschädlich im Sinne der Verordnung und damit die Entscheidung der Kommission aufzuheben ist. Würde das durch die Kommission abgelehnt, so könnte die Klägerin unmittelbar gegen diese Entscheidung mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG vorgehen. Rechtsstaatliche Bedenken gegen die Verbindlichkeit der Entscheidung der Kommission vom 22. Februar 2000 auch für die Klägerin hat der Verwaltungsgerichtshof daher nicht.

Ende der Entscheidung

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