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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 13.04.2005
Aktenzeichen: Au 3 K 04.617
Rechtsgebiete: SGB X


Vorschriften:

SGB X § 44
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

12 ZB 05.262

In der Verwaltungsstreitsache

wegen Vollzugs des Grundsicherungsgesetzes;

hier: Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Dezember 2004,

erlässt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, 12. Senat,

durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgerichtshof Werner, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Grau, den Richter am Verwaltungsgerichtshof Traxler

ohne mündliche Verhandlung am 13. April 2005

folgenden Beschluss:

Tenor:

I. Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

1. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung ab 1. Januar 2003 (bis 30. Juni 2004) unter Berücksichtigung von Unterkunftskosten nach der Rechtsauffassung des Gerichts und ohne Anrechnung von Kindergeld zu gewähren und den Bescheid des Beklagten vom 23. September 2004 und den Widerspruchsbescheid der Regierung von Schwaben vom 8. März 2004 aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen. Gegen das Urteil hat der Beklagte die Zulassung der Berufung insoweit beantragt, als er darin verpflichtet wurde, dem Kläger Leistungen der Grundsicherung vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2004 zu gewähren. Der so beschränkte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 1, 3 und 4 VwGO liegen nicht vor.

a) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bestehen nicht. Der Beklagte hat dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2003 mit Bescheid vom 23. Juni 2003 und für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2004 mit Bescheid vom 9. August 2003 Leistungen der Grundsicherung gewährt unter Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen und ohne Berücksichtigung angemessener Unterkunftskosten. Der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 9. August 2003 war verfristet, so dass ihn die Regierung von Schwaben mit Widerspruchsbescheid vom 8. März 2004 als unzulässig zurückwies. Nach der Begründung des Zulassungsantrages steht nur noch die Auffassung des Verwaltungsgerichts in Streit, auch der bestandskräftige Bescheid vom 9. August 2003 sei aufzuheben, weil er - wie der Bescheid vom 23. Juni 2003 - bezüglich der Nichtberücksichtigung der angemessenen Unterkunftskosten und der Anrechnung des Kindergeldes auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung beruhe und deshalb vom Beklagten nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit hätte zurückgenommen werden müssen. Der Senat teilt die Meinung des Verwaltungsgerichts, § 44 SGB X sei im Recht der Grundsicherung anwendbar. Dem steht insbesondere nicht die vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung (z.B. vom 13.11.2003 FEVS 55, 320) vertretene Auffassung zur Nichtanwendbarkeit des § 44 SGB X im Sozialhilferecht entgegen. Diese Rechtsprechung ist wegen des konzeptionellen Unterschieds zwischen Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherungsleistungen auf das Recht der Grundsicherung nicht übertragbar. § 44 Abs. 1 und 4 SGB X gilt nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts für zu Unrecht nicht erbrachte Sozialhilfeleistungen deshalb nicht, weil sich aus dem Bundessozialhilfegesetz ergebe, dass Sozialhilfe Nothilfe ist und ein Anspruch auf Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen gegenwärtigen Bedarf voraussetzt. Habe ein Bedarf, für den das Bundessozialhilfegesetz Hilfeleistungen bestimmt, in der Vergangenheit bestanden, bestehe er aber jetzt nicht (mehr fort), fehle es an einer für den Sozialhilfeanspruch wesentlichen Anspruchsvoraussetzung; es bestehe kein Anspruch auf Hilfe für die Vergangenheit. Weil § 44 Abs. 1 und 4 SGB X - so das Bundesverwaltungsgericht weiter - allein die sonst aus der Bestandskraft erwachsende Rechtssicherheit einschränke, aber die materiell-rechtlichen Besonderheiten der einzelnen besonderen Sozialleistungsbereiche unberührt lasse, sei die Vorschrift nur anwendbar, wenn und soweit auch zur Zeit der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X ein Anspruch auf "Sozialleistungen nach den besonderen Teilen dieses Gesetzbuches" noch bestehe. Im Sozialhilferecht bestehe aber in den Fällen des § 44 Abs. 1 und 4 SGB X, also bei durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagter Leistung, gerade kein Bedarf aus der Vergangenheit und damit auch kein Sozialhilfeanspruch fort, auf den nach § 44 Abs. 4 SGB X Leistungen nacherbracht werden könnten. Nach dem Bundesssozialhilfegesetz seien Regelsatzleistungen Hilfe zum Lebensunterhalt. Sie setzten einen aktuellen Regelbedarf zum Lebensunterhalt voraus und seien dazu bestimmt, ihn zu decken. Vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen bestehe der Regelbedarf für eine monatliche Regelsatzleistung nur im jeweiligen aktuellen Monat. Diese vom Bundesverwaltungsgericht herausgestellte Eigenart der Sozialhilfe, dass nämlich der Sozialhilfefall "gleichsam täglich neu regelungsbedürftig" ist, ist dem Recht der Grundsicherung nicht immanent. Das am 31. Dezember 2004 außer Kraft getretene Grundsicherungsgesetz und die §§ 41 ff. SGB XII verfolgen andere Zwecke. Das Recht der Grundsicherung ist anders konzipiert. Wie schon die Gesetzesbezeichnungen zum Ausdruck bringen, wollen die Regelungen alte und auf Dauer erwerbsgeminderte Menschen aus dem Sozialhilfebezug ausgliedern mit dem erklärten Ziel, diesen Personenkreis besser zu stellen als Sozialhilfeempfänger. Anders als die Sozialhilfe, die nur den nach den Besonderheiten des Einzelfalles "notwendigen" Lebensunterhalt nach dem Bedarfsdeckungsprinzip sicherstellt, sieht das Recht der Grundsicherung als eigenständige soziale Leistung lediglich eine "bedarfsorientierte Grundsicherung" vor, die den grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherstellen, eine "verschämte Altersarmut" verhindern (Zeitler, NDV 2002, 381) und im Regelfall die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf die Sozialhilfe vermeiden soll (BT-Drucksache 14/5146 S. 48). Aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung lässt der Gesetzgeber eine beschränkt individuelle Bedarfsermittlung genügen. Damit wird - anders als in der Sozialhilfe - keine Einzelfallgerechtigkeit, sondern nur eine Bedarfsorientierung verfolgt. Folglich ist die Grundsicherung zwar bedarfsorientiert, nicht aber am sozialhilferechtlichen Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet. Anders als der Regelfall in der Sozialhilfe, kann also bei der Grundsicherung zur Zeit der Rücknahme nach § 44 Abs. 1 SGB X und der Leistungserbringung nach § 44 Abs. 4 SGB X durchaus ein Anspruch auf die Grundsicherungsleistung noch bestehen, weil die Grundsicherung eben nicht am sozialhilferechtlichen Bedarf ausgerichtet ist.

Für die Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Recht der Grundsicherung spricht auch dessen Konzeption als eine auf Dauer angelegte Sozialleistung. Abweichend von der üblicherweise monatsweisen Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt werden Leistungen der Grundsicherung für zwölf Kalendermonate bewilligt (§ 6 Abs. 1 GSiG; § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Der Bewilligungsbescheid über Grundsicherung ist deshalb ein Dauerverwaltungsakt (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, Stand: 2005, RdNr. 1 zu § 44; Rothkegel, Strukturprinzipien des SGB XII/BSHG). Anders als die "gleichsam täglich neuregelungsbedürftige" und deshalb üblicherweise monatsweise bewilligte Hilfe zum Lebensunterhalt, sind die auf einen jährlichen Bewilligungszeitraum gerichteten Leistungen der Grundsicherung bei Änderung in den Voraussetzungen von Amts wegen neu festzusetzen. Nach Änderung der Verhältnisse muss der alte Bescheid gerade wegen seiner Dauerwirkung aufgehoben und ein neuer erlassen werden. Stellt sich nachträglich heraus, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder - wie hier - nicht in der zustehenden Höhe zuerkannt worden ist, muss der rechtswidrige Bescheid gemäß § 44 Abs. 1 SGB X zurückgenommen werden können (vgl. Kunkel - Das Grundsicherungsgesetz, ZFSH/SGB 2003, 330; auch Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, a.a.O., RdNr. 1 zu § 44). Die Grundsicherung ist dann - anders als die Sozialhilfe - nach § 44 Abs. 4 SGB X rückwirkend zu erbringen (vgl. Kunkel, a.a.O.).

Schließlich sehen aber auch die Vorschriften des Grundsicherungsrechts selbst Leistungen für die Vergangenheit vor. Für die Erstbewilligung regelte § 6 Satz 2 GSiG eine Ausnahme für den Beginn der Bewilligung. Hier war die Leistung bei einer Änderung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren, also auch dann, wenn der Antrag erst am Ende des Monats gestellt worden war. Auch nach § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII beginnt bei der Erstbewilligung oder bei einer Änderung der Leistung der Bewilligungszeitraum am Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für die Änderung eingetreten oder mitgeteilt worden sind. Auch danach ist die Leistung rückwirkend zum Ersten des Antragsmonats zu gewähren.

b) Nach alledem ist eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht ersichtlich. Das Urteil des Verwaltungsgerichts weicht auch nicht von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. November 2003 ab (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Wie oben unter Buchstabe a ausgeführt, können die vom Bundesverwaltungsgericht zum Sozialhilferecht entwickelten Grundsätze wegen des konzeptionellen Unterschiedes auf das Recht der Grundsicherung nicht übertragen werden.

2. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO).

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

Ende der Entscheidung

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