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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 30.07.2002
Aktenzeichen: 1 ObOWi 15/02
Rechtsgebiete: StVO, StVZO


Vorschriften:

StVO § 22 Abs. 1
StVZO § 31 Abs. 2
Zur Frage der Berufung auf eine der Gefahrenabwehr dienende VDI-Richtlinie, die in Wissenschaft und Forschung weiterentwickelt wurde.
Tatbestand:

Der Betroffene ist Halter eines Kraftfahrzeugs mit einem zulässigen Gesamtgewicht von über 3,5 t. Dieses Fahrzeug wurde von dem Fahrer B. am 9.8.2000 auf öffentlichen Straßen geführt, obwohl durch unvorschriftsmäßige Sicherung der geladenen Stahlbetonrohre die Verkehrssicherheit wesentlich beeinträchtigt war. Der Betroffene hatte die ihm als Halter obliegende Pflicht, den Fahrer des Fahrzeugs vorschriftsgemäß einzuweisen und zu kontrollieren, verletzt.

Das Amtsgericht sprach den Betroffenen frei.

Nach Auffassung des Amtsgerichts war das Verhalten des Betroffenen für die eingetretene Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit nicht kausal. Die einschlägige VDI-Richtlinie sei "vollkommen unzureichend". Es müsse daher davon ausgegangen werden, "dass derzeit veröffentlichte Sicherheitsvorschriften, die bei Transporten dieser Art, Verkehrssicherheit herstellen können, nicht existieren". Dem Betroffenen könne daher "ein Verschulden in keinster Weise zur Last gelegt werden".

Die zugelassene Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft war begründet.

Gründe:

1. Nach § 31 Abs. 2 StVZO i.V.m. § 22 Abs. 1 StVO hat der Halter dafür Sorge zu tragen, dass die Ladung verkehrssicher verstaut und gegen Herabfallen besonders gesichert ist. Welche Sicherungsmaßnahmen im einzelnen zu treffen sind, ist in § 22 Abs. 1 StVO nicht ausdrücklich geregelt.

Ihre Auswahl hängt von der Art der Ladung und des zu dem Transport verwendeten Fahrzeugs im Einzelfall ab. Unter sachgerechter Sicherung der Ladung in diesem Sinn ist ihr Verstauen nach den in der Praxis anerkannten Regeln des Speditions- und Fuhrbetriebs zu verstehen. Der Inhalt der VDI-Richtlinie 2700 "Ladungssicherung auf Straßenfahrzeugen" umfasst die gegenwärtig technisch anerkannten Beladungsregeln und ist deshalb allgemein zu beachten.

Ihre Legitimation erhalten die allgemein anerkannten Regeln der Technik dadurch, dass sie auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, durch praktische Erfahrung erprobt sind und von unparteilichen Fachleuten aufgestellt werden. So werden beispielsweise die VDI-Richtlinien vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) aufgestellt. Sie werden damit zu einem allgemeinen Handlungsmaßstab für technisches Handeln. Obwohl derartige technische Regeln als Normen für technisches Handeln im Rechtsverkehr fungieren, gehören sie nicht zu den Rechtssätzen (OLG Koblenz VRS 82, 53/54). Es handelt sich um private normative Regelungen mit Empfehlungscharakter (Marburger VersR 1983, 600). Sie sind besonders qualifizierte technische Erfahrungssätze (Jessnitzer/Frieling Der gerichtliche Sachverständige 10. Aufl. Rn. 452). Ihnen kommt im Prozess die Bedeutung eines "objektivierten Sachverständigengutachtens" zu. Dementsprechend unterliegen sie der richterlichen Nachprüfung, erforderlichenfalls unter Anhörung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung und sind keinesfalls schematisch anzuwenden (OLG Celle NJW 1988, 424, 426, OLG Köln VersR 1988, 804/805; OLG Koblenz VRS 82, 53; BayObLG Beschluss vom 20.4.1999 - 2 ObOWi 175/9'9).

2. Rechtliche Wirkung erhält eine allgemein anerkannte technische Sicherheitsregel erst dann, wenn eine Verpflichtung besteht, sie anzuwenden. Diese Verpflichtung kann entweder, durch Vertrag oder aber, wie z. B. bei § 319 StGB, durch Gesetz begründet werden. Aber auch ohne eine ausdrückliche Bezugnahme im gesetzlichen Tatbestand besteht eine Verpflichtung, die allgemein anerkannten Regeln der Sicherheitstechnik anzuwenden, wenn es sich um eine Gesetzesnorm in der Form einer Geneialklausel handelt, die eine Gefährdung durch ein bestimmtes technisches Handeln verbietet, ohne dass die Mittel benannt werden, mit denen die Gefahr abgewehrt werden soll (vgl. Märburger aaO 607). Die Rechtspflicht zur Anwendung der allgemein anerkannten Regeln der Sicherheitstechnik folgt hier aus der allgemeinen Rechtspflicht, Dritte nicht zu gefährden.

Ist ein Schadenseintritt für den Normadressaten objektiv vorhersehbar, kann er seine Pflicht zur Gefahrenabwehr nur dann erfüllen, wenn er sich über die allgemein anerkannten Sicherheitsregeln, die für sein spezielles technisches Handeln gelten, kundig macht. Den Normadressaten trifft in diesem Fall deshalb auch die Pflicht, sich über die einschlägigen Sicherheitsregeln Kenntnis zu verschaffen. Er kann sich unter diesen Umständen nicht damit entlasten, er habe die Möglichkeit des Eintritts des schädigenden Ereignisses nicht voraussehen können (OLG Celle NJW 1995, 319).

Maßgeblich sind die im Zeitpunkt des Handelns geltenden technischen Sicherheitsregeln. Sind diese eingehalten, kann dem Handelnden in der Regel kein Schuldvorwurf gemacht werden. Weiß der Handelnde allerdings, dass aufgrund des Fortschritts von Wissenschaft und Technik eine bisher geltende technische Sicherheitsregel überholt ist, ist er verpflichtet, sein Handeln an dem neuen Stand der Technik auszurichten (vgl. Marburger aaO 607).

3. Bei § 31 Abs. 2 StVZO handelt es sich, ähnlich wie bei § 22 Abs. 1 StVO, um eine derartige Generalklausel. Denn der Gesetzgeber verpflichtet die Normadressaten zur Einhaltung der Ladungssicherheit, ohne im einzelnen vorzuschreiben, wie die Ladung zu verstauen ist. Die VDI-Richtlinie 2700 kommt daher grundsätzlich zur Anwendung.

Im vorliegenden Fall ist das Amtsgericht allerdings im Hinblick auf die Ausführungen eines Sachverständigen, wonach die einschlägigen VDI-Vorschriften "vollkommen unzureichend" seien, davon ausgegangen, dass der ursächliche Zusammenhang zwischen der unterlassenen Beachtung der VDI-Vorschriften und dem eingetretenen Erfolg entfallen sei. Selbst wenn der Betroffene seiner Verpflichtung nachgekommen" sei und den Fahrer zur Einhaltung der VDI-Vorschriften angehalten hätte, wäre der Erfolg "ebenfalls eingetreten".

Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zunächst einmal handelt es sich bei den VDI-Richtlinien - wie oben bereits ausgeführt - nicht um Rechtsnormen, deren Einhaltung die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens entfallen lässt. Die Beachtung der VDI-Richtlinien führt lediglich dazu, dass sich ein Betroffener in der Regel, sofern ihm nicht die Notwendigkeit von den Richtlinien abweichender Maßnahmen bekannt war, durch Einhaltung der Richtlinien entlasten kann. Zum anderen liegt eine Besonderheit des vorliegenden Falles darin, dass das Erfolgsunrecht des Pflichtenverstoßes in der Herbeiführung eines Gefährdungserfolges liegt, d. h. in der unzureichenden Ladungssicherung. An der Zurechnung dieses Erfolges könnte es allenfalls dann fehlen, wenn bei Anwendung der VDI-Richtlinien der gleiche Erfolg eingetreten wäre, d. h. sich keinerlei Verbesserung der Ladungssicherheit gegenüber den vom Betroffenen getroffenen Maßnahmen eingestellt hätte und dem Betroffenen die Unzulänglichkeit der VDI-Richtlinien nicht bekannt gewesen wäre, ihre Einhaltung ihn also grundsätzlich entlastet hätte. Dies wäre dann der Fall, wenn die von dem Betroffenen durchgeführten Maßnahmen der Ladungssicherung den gleichen Sicherheitsgrad bewirkt hätten, wie bei Einhaltung der VDI-Richtlinien. Allein darauf, dass die VDI-Richtlinie 2700 mittlerweile ihren Zweck nicht mehr erfüllen soll, kann sich der Betroffene mithin nicht zu seiner Entlastung berufen, solange nicht zusätzlich festgestellt ist, dass die Einhaltung der VDI-Richtlinien entweder überhaupt nichts zur Verbesserung der Ladungssicherheit beitragen oder aber zumindest keine Verbesserung der vom Betroffenen herbeigeführten Gefährdungslage herbeiführen konnte und dem Betroffenen nicht bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, dass der von der VDI-Richtlinie und seiner Art der Ladungssicherung in gleicher Weise erzielte Sicherheitsgrad nicht ausreichend war.

An derartigen Feststellungen fehlt es im angefochtenen Urteil. Aus ihm ergibt sich lediglich, dass der Betroffene nicht einmal die derzeit geltenden technischen Sicherheitsstandards für eine Beladung eingehalten und erst recht nicht die bei Geltung eines verschärften Sicherheitsstandards - wie ihn der Sachverständige für notwendig erachtet hat - bestehende Pflicht, für die verkehrssichere Beladung des Fahrzeugs zu sorgen, erfüllt hat.

Ende der Entscheidung

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