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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 06.03.2002
Aktenzeichen: 1 ObOWi 41/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 249 Abs. 1 Satz 1
Fotos einer Radaranlage, die neben Fahrer und/oder Fahrzeug auch die gemessene Geschwindigkeit zeigen, gelten als technische Aufzeichnungen.
Tatbestand:

Der Betroffene überschritt am 27.4.2001 um 12.38 Uhr in M. auf der U-straße stadteinwärts fahrend aus Unachtsamkeit die höchstzulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 33 km/h. Das Amtsgericht hat ihn wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaft zu einer Geldbuße von 200 DM verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt.

Seine Rechtsbeschwerde war unbegründet.

Gründe:

Die vom Tatrichter getroffenen Feststellungen tragen rechtsfehlerfrei den Schuldspruch sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht.

Die Rechtsbeschwerde sieht eine rechtsfehlerhafte Verfahrensweise dar in, dass das Amtsgericht das anlässlich der Geschwindigkeitskontrolle mittels Radarmessung angefertigte Lichtbild, das auch das Messergebnis festgehalten hat, lediglich in Augenschein genommen, jedoch nicht durch Verlesung in die Hauptverhandlung ordnungsgemäß eingeführt habe. Der Tatrichter hätte deshalb seine Überzeugungsbildung nicht darauf stützen dürfen.

Die Rüge der Verletzung des § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG greift nicht durch. Zutreffend hat das Amtsgericht das Lichtbild mit der abfotografierten Geschwindigkeitsangabe als Augenscheinsobjekt durch Besichtigung in die Hauptverhandlung eingeführt und daraus rechtsfehlerfrei die Überzeugung gewonnen, dass der Betroffene mit einer Fahrgeschwindigkeit von 86 km/h gemessen wurde und er daher unter Abzug einer Messtoleranz von 3 km/h mindestens 83 km/h gefahren ist.

Für die Feststellung von Tatsachen, welche die Voraussetzungen des ordnungswidrigen Verhaltens begründen (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) oder für die Verhängung der Rechtsfolgen relevant sind, ist unter Einhaltung strenger Förmlichkeit der Beweiserhebung ein bestimmtes Beweisverfahren vorgesehen. Neben den Aussagen des Beschuldigten und der Mitbeschuldigten dürfen in diesem sog. Strengbeweisverfahren nur die gesetzlichen Beweismittel - Zeugen, Sachverständige, Urkunden und Augenschein - verwendet werden. Zur Gewährleistung der Justizförmigkeit der Beweisaufnahme zwingt dieser Katalog zur exakten Zuordnung zu einem der genannten Beweismittel und legt damit bindend fest, in welcher Weise der Beweis in der Hauptverhandlung zu erheben ist. Vorliegend geht es um die Abgrenzung von Urkunden- und Augenscheinsbeweis.

Während der Inhalt von Urkunden gemäß § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO durch Verlesen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wird, d.h. durch unmittelbares Umsetzen von Schrift- und Zahlenzeichen in Worte (bzw. in Gedanken in der Ersatzform des Selbstlesens nach § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO) erfolgt der Augenschein durch sinnliche Wahrnehmung (Sehen, Hören, Schmecken Riechen oder Befühlen; BGHSt 18, 51/53). Als Urkunden im Sinn der StPO gelten alle Schriftträger mit einem allgemein verständlichen oder durch Auslegung zu ermittelnden Gedankeninhalt (z.B. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45.Aufl. § 249 Rn.3). Durch das Erfordernis des Verlesens kommt zum Ausdruck, dass es nicht auf den optischen Eindruck des Schrift- bzw. Ziffernträgers ankommt (wäre das der Fall, müsste der Schriftträger zum Gegenstand der Inaugenscheinnahme gemacht werden), sondern auf den gedanklichen Inhalt, der den Verfahrensbeteiligten durch Verlesung zur Kenntnis gebracht werden soll (in diesem Sinn F.-W. Krause zum Urkundenbeweis im Strafprozess, 1966, S.114 f.). Zu den einer Verlesung nicht zugänglichen Augenscheinsobjekten zählen insbesondere die bei Geschwindigkeitskontrollen mittels Radarmessung automatisch aufgenommenen Lichtbilder, die lediglich den Fahrer und/oder Pkw abbilden (LR/Dahs StPO, 24.Aufl., § 86 Rn.17; Koffka JR 1966, 389/390; vgl. auch BayObLGSt 1965, 79 = NJW 1965, 2357; OLG Düsseldorf VRS 33, 447; OLG Hamm VRS 44, 117).

In der Hauptverhandlung wurden ausweislich des Sitzungsprotokolls im Anschluss an die Vernehmung des Betroffenen die auf Blatt 8 der Akte befindlichen Lichtbilder in Augenschein genommen. Das oberste der drei Lichtbilder zeigt neben dem abgebildeten Pkw und seinem Fahrer die - links oben im Bild eingeblendete - abfotografierte numerische Anzeige des Radarmessgeräts beginnend links mit einem Winkelzeichen und daran anschließend einer zweifach unterbrochenen Ziffernreihe (86 - 27.04 - 12.38.33). Der "Eingeweihte" weiß, wie auch die Darstellung in den Urteilsgründen belegt, dass die unterbrochene Ziffernreihe zunächst (hier: zweistellig) die gemessene Geschwindigkeit, dann vierstellig den Tag mit Monat und zuletzt sechsstellig Uhrzeit mit hundertstel Sekunden anzeigt. Das vorangestellte sich nach rechts öffnende Winkelzeichen zeigt an, dass der "lauflaufende" Verkehr gemessen wird. Die Fotografien einer Radarüberwachungsanlage sind technische Aufzeichnungen, soweit sie - wie im vorliegenden Fall das oberste der drei Lichtbilder - das Kraftfahrzeug nicht nur fotografisch abbilden, sondern zugleich auch die gemessene Geschwindigkeit festhalten (NK/Puppe § 268 Rn.15). Was eine technische Aufzeichnung ist, definiert § 268 Abs. 2 StGB als eine "Darstellung von Daten, Mess- oder Rechenwerten, Zuständen oder Geschehensabläufen, die durch ein technisches Gerät ganz oder zum Teil selbsttätig bewirkt wird, den Gegenstand der Aufzeichnung allgemein oder für Eingeweihte erkennen lässt und zum Beweis einer rechtlich erheblichen Tatsache bestimmt ist, gleich ob ihr die Bestimmung schon bei der Herstellung oder erst später gegeben wird". Technische Aufzeichnungen sind, soweit sie einen verlesbaren Text enthalten, als Urkunden i.S. des § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO zu behandeln, sonst als Augenscheinsobjekte (KK/Diemer StPO 4.Aufl. § 249 Rn.27; SK/ Schlüchter StPO § 249 Rn.34).

Das Winkelzeichen kann nicht verlesen, sondern nur durch Augenschein zur Kenntnis genommen werden. Ein Verlesen der Ziffernreihe 86 - 27.04 - 12.38.33 ist zwar möglich. Ihre Bedeutung bleibt jedoch für sich allein unverständlich. Aus der Existenz der Ziffernreihe mögen zwar Schlüsse gezogen werden können, eine über ihre bloße Existenz hinausgehende Aussage enthält die Ziffernreihe aber nicht. Ihre Verlesung vermag das, was sie inhaltlich aussagen und damit aus ihr beweiserheblich geschlossen werden soll, nicht zu vermitteln (vgl. BGHSt 27, 135/136; Alsberg/Nüse/Meyer Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl., S.244).

Dass die Ziffernreihe zunächst die gemessene Geschwindigkeit, dann Datum und Uhrzeit enthält, ergibt sich erst durch das Heranziehen anderer, außerhalb der Ziffernreihe liegende Erklärungsmittel. Einen inhaltlichen Sinn ergibt die Ziffernreihe erst nach ihrer "Entzifferung" (Decodierung) in die Alltagssprache. Mit anderen Worten: Die Ziffern sind zunächst nur Symbol (vgl. Binding Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Besonderer Teil, Zweiter Band, 2.Aufl., 1904 S.180). Eine inhaltliche Aussage, die durch Verlesen den Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis gebracht werden könnte, liegt dem gemäß nicht vor. Weil der Sinngehalt des Zeichens und der Ziffernreihe sich aus sich selbst heraus nicht erschließt, sind sie im Wege des Augenscheinsbeweises und nicht des Urkundenbeweises in die Hauptverhandlung einzuführen (vgl. BGHSt aaO; Alsberg/Nüse/Meyer aaO; F.-W. Krause Zum Urkundenbeweis im Strafprozeß, 1996, S.110, 114 f. sowie SK/Schlüchter StPO § 249 Rn.9).

Die von der Rechtsbeschwerde zitierte BGH-Rechtsprechung (BGH NStZ-RR 1999, 37) ist nicht einschlägig. Sie betrifft die inhaltliche Einführung von Kontoauszügen in die Hauptverhandlung. Der BGH hat in der genannten Entscheidung festgestellt, dass die Inaugenscheinnahme der Kontoauszüge nur dann eine zureichende Beweisaufnahme ist, wenn es nicht auf den Inhalt, sondern auf ihr Vorhandensein oder ihren Zustand der Urkunde ankommt. Im vorliegenden Fall kommt es auf den Inhalt an, der sich jedoch - im Gegensatz zur Verlesung eines Kontoauszugs - im Wege des Urkundenbeweises nicht erschließt.

Auch soweit sich die Rechtsbeschwerde auf BGH StV 2000, 655 beruft, betreffen beide auf der genannten Seite abgedruckten Entscheidungen eine andere Frage, nämlich die Verwertung nicht verlesener Schriftstücke.

Die Verfahrensrüge hat auch aus einem weiteren Grund keinen Erfolg. Ausweislich der Urteilsgründe wurde dem polizeilichen Messbeamten das Geschwindigkeitsmessblatt vorgehalten, aus dem sich ergibt, dass die beiliegende Lichtbildtafel mit Messfoto zum Gegenstand der Aussage des Polizeibeamten gemacht wurde. Gegenstand seiner Aussage war daher auch die gemessene Geschwindigkeit. Selbst bei einer rechtsfehlerhaften Einführung des Radarfotos in die Hauptverhandlung würde das Urteil jedenfalls hierauf nicht beruhen.

Der Rechtsfolgenausspruch begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Er entspricht der im Bußgeldkatalog vorgesehenen Regelfolge; von dieser Abstand zu nehmen besteht kein Anlass.

Zur Begründung wird auf die zutreffende Stellungnahme der Staatsanwaltschaft bei dem Rechtsbeschwerdegericht vom 23.1.2002 Bezug genommen. Ergänzend wird noch auf folgendes hingewiesen: Das Amtsgericht hat festgestellt, dass der Betroffene bei Verhängung eines einmonatigen Fahrverbots eine Entlassung nicht zu befürchten hat. Soweit diese Beweiswürdigung die Rechtsbeschwerde mit der Sachrüge angreift, hat sie keinen Erfolg. Mit der Sachrüge kann die Beweiswürdigung nur dann aussichtsreich beanstandet werden, wenn sie einen Rechtsfehler enthält. Ein solcher Rechtsfehler liegt aber noch nicht schon darin, dass das Gericht der Einlassung des Betroffenen, er verliere bei einem Fahrverbot seinen Arbeitsplatz als Abteilungsleiter bei der Allianz-Versicherung, nicht gefolgt ist. Rechtsfehlerhaft ist die Beweiswürdigung vielmehr nur dann, wenn sie lückenhaft, Widersprüche enthält oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Lücken, die sich auf die Unvollständigkeit der Beweiserhebung beziehen, sind mit der Aufklärungsrüge geltend zu machen. Eine solche ist nicht erhoben.

Ende der Entscheidung

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