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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 18.04.2002
Aktenzeichen: 1 ObOWi 52/02
Rechtsgebiete: GG, MRK, StPO, OWiG


Vorschriften:

GG Art. 103 Abs. 1
MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
StPO § 44
StPO § 345 Abs. 1 Satz 1
StPO § 346
OWiG § 79
OWiG § 80
Das nicht am Ort des mittellosen Betroffenen sitzende Amtsgericht darf über die Verwerfung der nicht formgerecht eingereichten Rechtsbeschwerde nicht vor dem Bescheid über die beantragte Bestellung des Verteidigers und/oder eine beantragte Vorschusszahlung entscheiden.
Tatbestand:

Das Amtsgericht I. hat gegen den Betroffenen am 18.10.2001 wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit eine Geldbuße von 80 DM verhängt. Gegen dieses Urteil, das dem Betroffenen am 9.11.2001 zugestellt wurde, hat der Betroffene bereits am Tag der Urteilsverkündung "Beschwerde/Einspruch" eingelegt.

Mit Schreiben vom 13.11.2001, beim Amtsgericht I. eingegangen am 15.11.2001, hat der Betroffene seinen Rechtsmittelantrag begründet. Dabei hat er auch darauf hingewiesen, dass er als Sozialhilfeempfänger eine erneute Reise von G. nach I. für "nicht mehr verantwort- und tragbar" halte: "Falls erwünscht, wäre eine persönliche Vorsprache meinerseits zu Protokoll der Geschäftsstelle z.B. beim Amtsgericht G. möglich; eine unterzeichnete Schrift eines Rechtsanwalts wäre bei Kostenbewilligungshilfe Ihrerseits ebenfalls denkbar. Hierüber bitte ich gegebenenfalls um Bescheid Ihrerseits".

Mit Schreiben des Amtsgerichts I. vom 19.11.2001 wurde dem Betroffenen mitgeteilt, dass im Bußgeldverfahren weder eine Prozesskostenhilfe für den Betroffenen zum Zweck der Beauftragung eines Verteidigers noch die Beiordnung eines Verteidigers durch das Gericht gesetzlich vorgesehen sei. Unabhängig davon sei eine Rechtsbeschwerdebegründung innerhalb der Begründungsfrist durch einen Verteidiger beim Gericht anzubringen.

Daraufhin teilte der Betroffene mit Schreiben vom 26.11.2001, beim Amtsgericht I. eingegangen am 27.11.2001 mit, dass seine "Rechtsbeschwerde vom 13.11.2001 nebst Beschwerdeanträgen und Begründung" bestehen bleibe, und er beantragte, "meine eingelegte Rechtsbeschwerde vom 13.11.2001 ohne weiteres anzuerkennen oder persönliche Vorsprache meinerseits zu Protokoll der Geschäftsstelle beim Amtsgericht G. erklären zu dürfen. Bei persönlicher Vorsprache zu Protokoll der Geschäftsstelle beim Amtsgericht I. müsste ich Sie indes erneut um Fahrtkostenerstattung vorweg bitten."

Über den Antrag auf Vorschusszahlung hat das Amtsgericht nicht entschieden und mit Beschluss vom 27.12.2001, zugestellt am 8.1.2002, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde - in dieses zulässige Rechtsmittel war das Beschwerdeschreiben vom 18.10.2001 auszulegen, § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 300 StPO - als unzulässig verworfen, weil dieser nicht formgerecht begründet worden sei.

Hiergegen hat der Betroffene mit Schreiben vom 14.1.2002, beim Amtsgericht eingegangen am 15.1.2002, auf die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts angetragen.

Gründe:

Der Antrag des Betroffenen hatte Erfolg. Die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde zwar versäumt, aber ohne Verschulden des Betroffenen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG). Über den Antrag auf Vorschusszahlung ist nicht innerhalb der Rechtsmittelbegründungsfrist entschieden worden, nachdem das Gericht es abgelehnt hatte, dem Betroffenen zur Begründung seines Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde einen Verteidiger zu bestellen.

1. Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde war nicht nur, dass dieser, was der Betroffene getan hat, binnen einer Woche nach Verkündung des angefochtenen Urteils beim Amtsgericht I. eingelegt wurde (§ 341 Abs. 1 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG), sondern auch, dass der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils (§ 345 Abs. 1 Satz 2 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) begründet wurde. Dies konnte, worüber der Betroffene im Hauptverhandlungstermin vom 18.10.2001 mündlich und schriftlich mit Vordruck OWi 22 belehrt worden war, nur in einer von einem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts I. geschehen, § 345 Abs. 2 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG.

Eine diesen Formerfordernissen entsprechende Begründung des Rechtsmittels ist bei Gericht nicht eingegangen. Aus dem Recht des Betroffenen auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren (abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG, in Verbindung mit der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, und konkretisiert durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK; BVerfGE 63, 380/390; 66, 313/318; Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45.Aufl. Einleitung Rn. 19) und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör ergab sich aber die Verpflichtung des Amtsgerichts, über die Verwerfung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 346 Abs. 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 4 Satz 2 OWiG nicht vor dem Bescheid über den Antrag auf Vorschusszahlung zu entscheiden. Der Betroffene durfte darauf vertrauen - zumal das Amtsgericht dem Betroffenen für die Hauptverhandlung vom 18.10.2001 antragsgemäß einen Fahrgeldgutschein zugesandt hatte -, dass über seinen Antrag auf Vorschusszahlung so rechtzeitig entschieden wird, dass er noch innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist entweder selbst einen Verteidiger beauftragen oder die Beschwerdebegründung zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erklären kann (vgl. BayObLG NStZ 1995, 300/301; LR-Hanack 25.Aufl. § 346 Rn. 4 a.E.).

Nach dem klaren Wortlaut des § 345 Abs. 2 StPO, § 80 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG kann der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde - außer, durch Einreichung einer von einem Verteidiger oder Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift - wirksam nur durch eine zu Protokoll "der" Geschäftsstelle, d.h. der Geschäftsstelle des Gerichts, das das angefochtene Urteil erlassen hat, dagegen nicht zu Protokoll "einer" Geschäftsstelle (irgendeines deutschen Gerichts) begründet werden. In Rechtsprechung und Schrifttum ist daher auch anerkannt, dass der auf freiem Fuß befindliche Betroffene die Rechtsbeschwerde nicht zu Protokoll der Geschäftsstelle eines anderen Gerichts begründen kann als desjenigen, das den angefochtenen Beschluss erlassen hat (BayObLGSt 1995, 152/154 m.w.N.). An diese Rechtslage war das Amtsgericht I. gebunden. Für den weit entfernt vom Ort des erkennenden Gerichts wohnenden Betroffenen, der keinen Verteidiger gewählt hat, bringt die Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde daher nicht unerhebliche Schwierigkeiten mit sich und die für ihn mit der Rechtsmittelbegründung verbundenen Kosten können unter Umständen wesentlich höher sein können als die in Frage stehende Geldbuße. Dies berechtigt jedoch nicht die Gerichte, sich über die in der genannten Vorschrift getroffene Regelung hinwegzusetzen, sondern könnte allenfalls für den Gesetzgeber Anlass sein, das Gesetz zu ändern. Die in § 345 Abs. 2 StPO getroffene Regelung verstößt auch nicht gegen das Verfassungsrecht. Ein solcher Verstoß käme nur dann in Betracht, wenn einem weit entfernt wohnenden mittellosen Betroffenen die Erfüllung gesetzlicher Formerfordernisse der Rechtsmittelbegründung unmöglich oder in solchem Maß erschwert wäre, dass die Formerfordernisse auf eine faktische Rechtswegsperre hinausliefen. Dies ist nicht der Fall: Ein Betroffener, der nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel verfügt, um entweder einen Rechtsanwalt mit der Begründung der Rechtsbeschwerde zu beauftragen oder selbst zur Geschäftsstelle des erkennenden Gerichts zu fahren, kann beantragen, dass ihm ein Fahrgeldgutschein seitens der Staatskasse zur Verfügung gestellt wird (vgl. Kostenverzeichnis Nr. 9008 b). Einem derartigen Antrag wird das Gericht stattgeben müssen, wenn es nicht vorzieht, dem Betroffenen zur Begründung der Rechtsbeschwerde einen Verteidiger zu bestellen (vgl. BayObLG NStZ 1995, 300/301; KK-Maul StPO 4. Aufl. § 44 Rn. 20).

Die Wahrung des Rechts des Betroffenen auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren sowie sein Anspruch auf rechtliches Gehör erfordern hier deshalb die Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses vom 27.12.2001, weil mangels Nachholung der versäumten Handlung Wiedereinsetzung im vorigen Stand - vorerst - nicht gewährt kann (§ 345 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Die Nachholung der versäumten Handlung durch Einreichung einer Rechtsmittelbegründungsschrift ist dem Betroffenen erst zumutbar, wenn über seinen Antrag auf Vorschusszahlung entschieden worden ist.



Ende der Entscheidung

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