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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 13.08.2003
Aktenzeichen: 1Z AR 83/03
Rechtsgebiete: ZPO, InsO


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
InsO § 3 Abs. 1 Satz 1
InsO § 3 Abs. 1 Satz 2
Die Zuständigkeit des Insolvenzgerichts am Ort des Mittelpunkts der selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin ist nicht gegeben, wenn der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt des Eingangs des Insolvenzantrages bei Gericht seine wirtschaftliche Tätigkeit eingestellt hat (Fortführung von BayObLG vom 25.7.2003, 1Z AR 72/03 = BayObLGZ 2003 Nr. 34).
Gründe:

I.

Die Schuldnerin ist eine im Handelsregister des Amtsgerichts Memmingen eingetragene GmbH. Mit notariellem Vertrag vom 16. 4.2003 veräußerte der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer A. sämtliche Geschäftsanteile der unter A.- GmbH firmierenden Gesellschaft an B., der sofort eine Gesellschafterversammlung abhielt, in der er A. als Geschäftsführer abberief, ihm Entlastung erteilte, sich selbst zum neuen Geschäftsführer bestellte und die Firma der Gesellschaft in B.- GmbH und den Unternehmensgegenstand änderte. Die Anmeldung der Änderungen zum Handelsregister des Amtsgerichts Memmingen erfolgte am 25.4.2003. Eine Verlegung des im Amtsgerichtsbezirk Memmingen gelegenen Sitzes der Gesellschaft wurde nicht vorgenommen. B. beantragte mit einem an das Amtsgericht Memmingen gerichteten Schreiben der Schuldnerin vom 5.5.2003, eingegangen am 6.5.2003, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens und zugleich dessen Verweisung an das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg. Er führte aus, er habe mit Übernahme der Geschäftsanteile das Gewerbe wegen völliger Betriebseinstellung abgemeldet, die Geschäftsräume aufgegeben, den Mitarbeitern gekündigt und sämtliche Geschäftsunterlagen an seinen in Berlin gelegenen Wohnsitz verbracht, von wo aus er die Abwicklung der Gesellschaft unter Einschaltung der C.- GmbH vornehmen wolle.

Das Amtsgericht Memmingen - Insolvenzgericht - hat sich ohne jede Ermittlung mit Beschluss vom 13.5.2003 für örtlich unzuständig erklärt und das Verfahren an das Amtsgericht Charlottenburg - Insolvenzgericht - verwiesen mit der Begründung, sämtliche weiteren Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Abwicklung des Insolvenzverfahrens würden ausschließlich von Berlin aus erfolgen. Das Amtsgericht Charlottenburg - Insolvenzgericht - hat sich die Übernahme des Verfahrens vorbehalten und B. aufgefordert, Unterlagen gemäß § 20 InsO einzureichen. Dieser teilte mit, dass er am 22.5.2003 die Gesellschaftsanteile an den in Spanien wohnhaften D. übertragen habe. Aus dem vorgelegten notariellen Vertrag vom 22.5.2003 ergibt sich, dass D. sofort eine Gesellschafterversammlung abhielt, in der er B. als Geschäftsführer abberief, ihm Entlastung erteilte und sich selbst zum neuen Geschäftsführer bestellte. Die an D. gerichtete Aufforderung des Amtsgerichts Charlottenburg, Unterlagen gemäß § 20 InsO vorzulegen, blieb ohne Reaktion.

Mit Beschluss vom 22.7.2003 hat sich das Amtsgericht Charlottenburg - Insolvenzgericht - für örtlich unzuständig erklärt und die Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Zur Begründung hat das Amtsgericht Charlottenburg unter anderem ausgeführt, das Amtsgericht Memmingen habe das Verfahren nicht unter Hinweis auf § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO an das Amtsgericht Charlottenburg verweisen dürfen, weil noch völlig unklar gewesen sei, wo der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin zum Zeitpunkt der Antragstellung gelegen habe. Ein solcher könne im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg nicht festgestellt werden. Der Antragsteller habe aktive Abwicklungsmaßnahmen im Bezirk des Amtsgerichts Charlottenburg nicht vorgetragen, sondern lediglich pauschal einen Katalog denkbarer Abwicklungstätigkeiten aufgelistet, die unter Einschaltung der C.- GmbH beabsichtigt seien. Die Firma C.- GmbH Berlin habe wiederholt in der Presse (u.a. FAZ) "mit Hilfe im Insolvenzfall binnen 24 Stunden" durch Sitzverlegung, Geschäftsführerwechsel und Entlastung der alten Geschäftsführer geworben. Sie sei aus einer Vielzahl von Parallelverfahren bekannt und halte für die angeworbenen Unternehmen lediglich eine Briefkastenanschrift vor. Aus den gesamten Umständen ergäben sich schwerwiegende Indizien dafür, dass es sich um einen Fall der Zuständigkeitserschleichung handle, deren Ziel es sei, die ehemaligen Gesellschafter und Geschäftsführer der Aufmerksamkeit der Gläubiger am früheren Firmensitz zu entziehen, ihren Namen nicht durch Veröffentlichung in der Lokalpresse zu belasten und dem räumlich entfernten Insolvenzgericht die Aufklärung etwaiger Anfechtungs- und Haftungsansprüche zu erschweren.

II.

1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist zur Entscheidung des negativen Zuständigkeitsstreits zwischen dem zunächst befassten bayerischen Amtsgericht Memmingen und dem Berliner Amtsgericht Charlottenburg gemäß § 4 InsO, § 36 Abs. 2 ZPO, § 9 EGZPO berufen.

2. Die Voraussetzungen für die gerichtliche Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Memmingen als auch das Amtsgericht Charlottenburg haben sich rechtskräftig im Sinne dieser Vorschrift für unzuständig erklärt. Das letztgenannte hat die Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts gemäß § 37 Abs. 1 ZPO vorgelegt.

3. Zuständig für die Entscheidung über den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist das Amtsgericht Memmingen, weil in seinem Bezirk der in das Handelsregister eingetragene Sitz der Schuldnerin liegt und weil der Verweisungsbeschluss vom 13.5.2003 keine Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfaltet.

a) Da die Schuldnerin vor Stellung des Insolvenzantrages ihre werbende Tätigkeit eingestellt hatte, hat sie keinen - wo auch immer gelegenen - "Mittelpunkt einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit" im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO, also auch nicht im Amtsgerichtsbezirk Charlottenburg. Maßgeblich sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Eingangs des Insolvenzantrages bei Gericht (vgl. MünchKomm Inso/Ganter § 3 Rn. 4). Da die wirtschaftliche Tätigkeit vor Antragstellung bereits beendet war, kann § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht mehr eingreifen. Für das Insolvenzverfahren einer GmbH, die ihre werbende Tätigkeit bereits vor Stellung des Insolvenzantrages eingestellt hatte, ist deshalb das Insolvenzgericht zuständig, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren satzungsmäßig festgelegten Sitz hat (BayObLG NZI 1999, 457; OLG Hamm ZInsO 1999, 533; NZI 2000, 220/221; OLG Braunschweig NZI 2000, 266/267). Die Bestellung eines neuen Geschäftsführers mit dem Aufgabenkreis der Durchführung und Abwicklung eines Insolvenzverfahrens begründet für sich genommen keine Zuständigkeit am Sitz des Geschäftsführers (OLG Hamm ZInsO 1999, 533/534). Der Wohnsitz des Geschäftsführers ist insbesondere dann nicht maßgeblich, wenn die GmbH ihren Betrieb eingestellt, die Geschäftsräume aufgegeben und der Geschäftsführer die Geschäftsbücher und Unterlagen an seinen Wohnsitz mitgenommen hat (OLG Hamm NZI 2000, 220/221; OLG Braunschweig NZI 2000, 266/267; MünchKomm Inso/Ganter § 3 Rn. 8).

Danach ist nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO das Amtsgericht Memmingen - Insolvenzgericht -, in dessen Bezirk die Schuldnerin ihren allgemeinen Gerichtsstand hat, ausschließlich zuständig. Der allgemeine Gerichtsstand einer GmbH ist der satzungsmäßig festgelegte und in das Handelsregister eingetragene Sitz der Gesellschaft (§ 4 InsO i.V.m. § 12, § 17 Abs. 1 ZPO, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 7 Abs. 1, § 10 GmbHG). Eine Sitzverlegung ist nicht erfolgt; eine etwaige tatsächliche Verlagerung der Geschäftsleitung lässt den satzungsmäßig festgelegten Sitz unberührt (Baumbach/Hueck GmbHG 16. Aufl. § 3 Rn. 8).

b) Zwar ist gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO (hier i.V.m. § 495 ZPO) ein Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das verwiesen wird, grundsätzlich bindend. Eine Bindungswirkung besteht aber dann nicht, wenn die Verweisung sich so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass sie im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht mehr hingenommen werden kann (BGH NJW 1993, 1273; BayObLGZ 1993, 317/318). Das ist vorliegend der Fall. Denn das ausschließlich zuständige Amtsgericht Memmingen - Insolvenzgericht - hat sich darüber hinweggesetzt, dass die Verweisung des Rechtsstreits gemäß § 4 InsO, § 281 Abs. 1 ZPO die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts voraussetzt (BGH NJW 1993,~l273; 2002, 3634; BayObLGZ 1993, 317; KG Report 2002, 296; OLG Schleswig NJW-RR 2001, 646). Das Amtsgericht Memmingen - Insolvenzgericht - hat demgegenüber weder Umstände ermittelt noch dargelegt, die seine Zuständigkeit nach § 3 Abs. 1 Satz 1 InsO in Frage stellen könnten. Es hatte aufgrund des Vorbringens des vormaligen Geschäftsführers der Schuldnerin keinen Anlass, im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung am 6.5.2003 von einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit der Schuldnerin im Sinne von § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO in Berlin und damit von einer vorrangigen Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg auszugehen. Vielmehr hat das Vorbringen des für die Schuldnerin auftretenden B. den Verdacht nahe gelegt, dass es sich um einen Fall der gewerbsmäßigen "Firmenbestattung" handelt, bei der die Erschleichung eines vom Sitz der Gesellschaft entfernten Gerichtsstandes den eigentlich Verantwortlichen ermöglichen soll, sich aus der Haftung zu stehlen (vgl. MünchKomm Inso/ Ganter § 3 Rn. 38 bis 42).

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