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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 13.01.2004
Aktenzeichen: 1Z BR 88/03
Rechtsgebiete: BGB, FGG, GG


Vorschriften:

BGB § 2361
FGG § 16
GG Art. 103 Abs. 1
1. Auslegung eines 26 Jahre nach Erbscheinserteilung eingelegten "Einspruchs, verbunden mit dem Antrag auf Einzug" als - zulässigen - Antrag auf Einziehung des Erbscheins.

2. In Nachlasssachen ist die ohne mündliche Verhandlung ergehende Entscheidung des Beschwerdegerichts erst dann erlassen, wenn der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die für die Verfahrensbeteiligten bestimmten Ausfertigungen an die Post hinausgegeben hat; vor diesem Zeitpunkt bei Gericht eingegangenes Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten ist grundsätzlich zu berücksichtigen.


Gründe:

I.

Die Beteiligten sind die Enkel des am 18.8.1975 im Alter von 94 Jahren verstorbenen Erblassers. Dieser war seit 1954 verwitwet und hatte zwei Kinder: den 1979 verstorbenen Sohn (Vater der Beteiligten zu 1) und die 1993 verstorbene Tochter (Mutter der Beteiligten zu 2 und 3).

Das Nachlassgericht eröffnete mehrere letztwillige Verfügungen, darunter

- ein handschriftliches Testament vom 1.10.1970, in dem der Erblasser sein Testament vom 7.6.1965 für ungültig erklärt und seine beiden Kinder je zur Hälfte zu Erben einsetzt;

- ein maschinenschriftliches Testament vom 9.2.1973, in dem der Erblasser seinen Sohn enterbt und seine Tochter zur Alleinerbin einsetzt;

- ein handschriftliches Testament vom 7.4.1973, in dem der Erblasser seine Tochter zur Alleinerbin einsetzt.

Laut Niederschrift vom 12.9.1975 fanden sich an diesem Tag die beiden Kinder des Erblassers vor dem Rechtspfleger des Nachlassgerichts ein. Sie erklärten, die Testamente - soweit nicht mit Schreibmaschine geschrieben - als echt, rechtsgültig und vom Erblasser eigenhändig ge- und unterschrieben anzuerkennen. Die Tochter beantragte einen Alleinerbschein; der Sohn erhob hiergegen keine Einwendungen. Der vom Nachlassgericht antragsgemäß erteilte Erbschein vom 19.9.1975 weist die Tochter als Alleinerbin des Erblassers aufgrund des Testaments vom 7.4.1973 aus.

Der reine Nachlasswert wurde seinerzeit vom Nachlassgericht mit 16.136 DM angenommen.

Der Erblasser war zur Hälfte Miteigentümer eines Grundstücks im Gebiet der ehemaligen DDR gewesen. Diese Miteigentumshälfte war 1953 in Volkseigentum überführt und die Änderung 1954 im Grundbuch eingetragen worden. Nach der Wende und Inkrafttreten des Vermögensgesetzes erhielt die Tochter, die sich aufgrund des Erbscheins vom 19.9.1975 als Alleinerbin ausweisen konnte, die Miteigentumshälfte zurück. Das Grundstück wurde zwischenzeitlich verkauft.

Erstmals Anfang 1994 wandte sich die Beteiligte zu 1, die von der Rückerstattung an die Tochter des Erblassers Kenntnis erlangt hatte, durch ihre Verfahrensbevollmächtigten an das Nachlassgericht zwecks Überprüfung der Erbrechtslage, insbesondere, ob es zutrifft, dass der Erblasser ein Testament hinterlassen hat, in dem er die Tochter als Alleinerbin einsetzt, und ob der Tochter ein Alleinerbschein erteilt worden ist.

Auf Antrag der Beteiligten zu 1 und ihrer Mutter - Miterbinnen ihres 1979 verstorbenen Vaters bzw. Ehemannes (Sohn des Erblassers) - wurde im Jahr 1998 vor dem Landgericht ein selbständiges Beweisverfahren zu der Behauptung der Antragstellerinnen durchgeführt, die Unterschrift auf dem Testament vom 7.4.1973 stamme nicht vom Erblasser. Das in diesem Verfahren erholte Schriftgutachten des Sachverständigen ... vom 23.8.1998 kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterschrift "eher doch" vom Erblasser stammt.

Im Dezember 1998 wandte sich die Beteiligte zu 1 erneut an das Nachlassgericht unter Vorlage eines Privatgutachtens der Schriftsachverständigen R., das allerdings nur auf der Untersuchung einer Kopie des Testaments beruht und deshalb keine abschließende Aussage trifft. Daraufhin wurden das fragliche Testament und weitere Aktenstücke im Original vorübergehend an die Sachverständige R. hinausgegeben. Ob und gegebenenfalls mit welchem Ergebnis eine Begutachtung der Originale durch die Sachverständige R. stattgefunden hat, ergibt sich aus den Akten nicht.

Im Jahr 2000 ließ die Beteiligte zu 1 auch Zweifel an der Echtheit der Unterschrift ihres Vaters unter der Niederschrift vom 12.9.1975 vortragen. Die Person, die sich unter dem Namen ihres Vaters vorgestellt habe, sei in Wahrheit nicht ihr Vater gewesen. Dieser sei ausweislich der Nachlassakte nicht zur Testamentseröffnung geladen worden. Die erschienene Person habe sich laut Niederschrift nur "durch Sachkunde" ausgewiesen, habe also keinen Ausweis vorzeigen müssen.

Auf Antrag der Beteiligten zu 1 wurden die Akten an das Amtsgericht geschickt zur Akteneinsicht durch die von der Beteiligten zu 1 mit der Erstellung eines privaten Schriftgutachtens beauftragte Sachverständige G. Das Gutachten konnte nicht erstellt werden, da das Nachlassgericht die Hinausgabe der Originale für labortechnische Untersuchungen verweigerte.

Mit privatschriftlichen Schreiben vom 19.6. und 24.6.2001 legte die Beteiligte zu 1 "Einspruch" gegen die Erteilung des Erbscheins vom 19.9.1975 ein, verbunden mit dem Antrag auf dessen Einziehung. Sie focht das Testament vom 7.4.1973 mit der Begründung an, es sei entweder unter Druck und mit Hilfe von Manipulationen zur Erlangung von finanziellen Vorteilen durch die Tochter unter Mithilfe ihres Mannes zustande gekommen oder aber im Zustand völliger Desorientiertheit vom Erblasser angefertigt worden.

Das Nachlassgericht erholte ein graphologisches Gutachten des Sachverständigen W., der bereits im Beweissicherungsverfahren vor dem Landgericht als gerichtlicher Gutachter tätig geworden war. Er kommt in seinem Gutachten vom 4.6.2002 zu dem Ergebnis, dass bezüglich der Unterschrift unter dem Testament vom 7.4.1973 seine Aussage im Gutachten vom 23.8.1998, die Unterschrift stamme "eher doch" vom Erblasser, aufrecht zu erhalten sei, und dass die Unterschrift unter der Sitzungsniederschrift vom 12.9.1975 "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit" vom Vater der Beteiligten zu 1 geleistet worden sei.

Das Amtsgericht hat die Schreiben der Beteiligten zu 1 als Beschwerde gegen die Erteilung des Erbscheins und als Antrag auf dessen Einziehung behandelt. Mit Beschluss vom 30.8.2002 hat es der Beschwerde nicht abgeholfen und den Antrag auf Einziehung des Erbscheins zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss hat die Beteiligte zu 1 Beschwerde eingelegt.

Das Landgericht hat mit Beschluss vom 12.5.2003 die gegen die Erteilung des Erbscheins gerichtete Beschwerde als unzulässig verworfen und die Beschwerde im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen. Die Hinausgabe dieses Beschlusses an die Beteiligten wurde am 14.5.2003 veranlasst. Einen am 13.5.2003 per Telefax in den Gerichtseinlauf gelangten Schriftsatz der Verfahrensbevollmächtigten der Beteiligten zu 1 hat das Landgericht nicht mehr berücksichtigt.

Mit ihrer zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts erster Instanz eingelegten weiteren Beschwerde verfolgt die Beteiligte zu 1 ihr Rechtsmittelanliegen weiter.

II.

Die weitere Beschwerde ist zulässig, insbesondere zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts erster Instanz formwirksam eingelegt (§ 29 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4, § 21 Abs. 2 FGG). Sie führt zur Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

1. Das Landgericht hat das Rechtsmittel der Beteiligten zu 1 teilweise als unzulässig verworfen. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand (§ 27 Abs. 1 FGG, § 546 ZPO).

a) Die Vorinstanzen haben das Anliegen der Beteiligten zu 1 als zwei getrennte Verfahrensanträge - als Beschwerde gegen die Erteilung des Erbscheins und als Antrag auf dessen Einziehung - behandelt; das Landgericht hat nur über letzteren sachlich entschieden, während es die Beschwerde gegen die Erteilung des Erbscheins mit der Begründung, das Rechtsmittel sei verwirkt, als unzulässig verworfen hat. Eine solche Aufspaltung des prozessualen Begehrens der Beteiligten zu 1 war nicht geboten. Dieses war der Sache nach auf die Einziehung des Erbscheins gerichtet, von dem die Beschwerdeführerin behauptet, er sei ohne wirksamen Antrag und inhaltlich unrichtig erteilt worden. Der gegebene Rechtsbehelf zur Verfolgung dieses Ziels war hier - 26 Jahre nach der Erteilung des Erbscheins - der Antrag auf Einziehung, der auch nach langer Zeit noch gestellt werden kann und dem Nachlassgericht Anlass gibt, von Amts wegen zu prüfen, ob eine Einziehung des Erbscheins geboten ist (§ 2361 BGB).

b) In diesem Sinn kann und muss die laienhaft formulierte - und, was die Vorinstanzen verkannt haben, auslegungsbedürftige - Antragstellung der Beteiligten zu 1 ausgelegt werden. Im Schriftsatz ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 23.10.2000 wird bereits prozessual zutreffend die Einziehung des Erbscheins "vorsorglich" beantragt. Mit eigenem Schreiben vom 3.5.2001 kündigt die Beschwerdeführerin selbst ebenfalls an, dass sie "in nächster Zeit den Antrag auf Einziehung des Erbscheins stellen" werde. Im Schreiben vom 19.6.2001 beantragt sie den "Einzug" des Erbscheins, "um nach Klärung der Sachlage einen Erbschein anderen Inhalts zu beantragen". Nur im Schreiben vom 24.6.2001 ist davon die Rede, dass "Einspruch" gegen die Erteilung des Erbscheins vom 19.9.1975 eingelegt werde, "verbunden mit dem Antrag auf Einzug desselben". Diesen "Einspruch" (ein hier nicht gegebenes Rechtsmittel) als eigenständiges, vom Antrag auf Einziehung des Erbscheins zu trennendes Rechtsmittel zu behandeln, um es sodann als unzulässig zu verwerfen, wie es das Landgericht getan hat, wird dem Rechtsschutzbegehren der Beschwerdeführerin nicht gerecht. Unklare Verfahrensanträge, insbesondere von anwaltlich nicht vertretenen Beteiligten, sind im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Zweifel so auszulegen, dass das erkennbar gewordene Rechtsschutzziel erreicht werden kann. Dem entspricht hier die Auslegung des prozessualen Begehrens der Beteiligten zu 1 als einheitliches Rechtsmittel, nämlich als Antrag auf Einziehung des Erbscheins. Der so auszulegende Antrag war zulässig; für eine teilweise Verwerfung des Rechtsmittels war kein Raum.

2. Die Entscheidung des Landgerichts war auch im Übrigen aufzuheben, da das Landgericht der Beteiligten zu 1 das rechtliche Gehör nicht vollständig gewährt hat.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), dass das Gericht die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis nehmen und erwägen muss, bevor es seine Entscheidung erlässt (BVerfGE 63, 80/85 = NJW 1983, 2017 m.w.N.). Erlassen war der angefochtene Beschluss nicht schon damit, dass die Richter ihn am 12.5.2003 unterschrieben haben, sondern erst am 14.5.2003, als der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die für die Verfahrensbeteiligten bestimmten Ausfertigungen an die Post hinausgegeben hat (vgl. BVerfGE 63, 80/87; BGHZ 12, 248/252; BayObLGZ 1980, 378/380 f.; 1989, 116/123 = NJW-RR 1989, 1090/1091; Keidel/Schmidt FGG 15. Aufl. § 16 Rn. 6, § 18 Rn. 3). Der Schriftsatz der Verfahrensbevollmächtigten der Beteiligten zu 1 vom 13.5.2003, der am selben Tag per Telefax bei Gericht einging, hätte daher berücksichtigt werden müssen, weil er in den Gerichtseinlauf gelangt ist, bevor die Entscheidung erlassen wurde.

b) Der Schriftsatz vom 13.5.2003 enthält neues Tatsachenvorbringen, dessen Erheblichkeit nicht von vornherein verneint werden kann. Er nimmt auf zwei bis dahin dem Gericht nicht bekannte Privatgutachten der Schriftsachverständigen S. vom 25.11.2002 und vom 3.4.2003 Bezug. Die Gutachten selbst waren zwar dem am 13.5.2003 eingegangenen Telefax nicht beigefügt - sie gingen am darauffolgenden Tag ein -, doch wird im Telefaxschriftsatz das wesentliche Ergebnis der Gutachten referiert: Das Schriftgutachten des Sachverständigen W. enthalte methodische Schwächen; die Unterschrift unter der Niederschrift stamme wahrscheinlich nicht vom Vater der Beteiligten zu 1; es lasse sich weder ausschließen noch nachweisen, dass der Erblasser das Testament vom 7.4.1973 eigenhändig geschrieben und unterschrieben habe. Mit diesem Vorbringen hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müssen. Das ist nicht geschehen; die richterliche Verfügung vom 13.5.2003 auf der Rückseite des Telefax enthält keine sachliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen. Auf diesem Verfahrensmangel beruht die Entscheidung; denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung ohne den Fehler anders ausgefallen wäre.

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst; das Verfahren der weiteren Beschwerde ist gerichtsgebührenfrei (§ 131 Abs. 1 Satz 2 KostO). Über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten wird die wieder mit der Sache befasste Vorinstanz zu befinden haben (vgl. Keidel/Zimmermann § 13a Rn. 38 ff.).



Ende der Entscheidung

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