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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 27.07.2000
Aktenzeichen: 3Z BR 64/00 (1)
Rechtsgebiete: FGG


Vorschriften:

FGG § 70h
FGG § 69f Abs. 1 Satz 4
Die persönliche Anhörung eines Betroffenen darf vor seiner vorläufigen Unterbringung nur dann unterbleiben, wenn aufgrund konkreter Fakten eine Gefahr im Verzug bestehen kann. Der Betroffene ist spätestens tags darauf anzuhören.
BayObLG Beschluss

LG Regensburg 7 T 35/00 AG Regensburg XVII 48/2000

3Z BR 64/00

27.07.00

BayObLGZ 2000 Nr.48

Der 3.Zivilsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts hat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Sprau sowie der Richter Dr.Plößl und Dr.Schreieder am 27.Juli 2000 in der Unterbringungssache auf die sofortige weitere Beschwerde der Betroffenen

beschlossen:

Tenor:

I. Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 27.Januar 2000 wird aufgehoben.

II. Es wird festgestellt, dass die Anordnung der vorläufigen Unterbringungsmaßnahmen durch den Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 8.Januar 2000 nicht rechtmäßig erfolgt ist.

Gründe

I.

Das Amtsgericht ordnete am 8.1.2000 gemäß § 70h Abs. 3 FGG i.V.m. § 1846 BGB ohne vorherige Anhörung der Betroffenen deren vorläufige Unterbringung in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bis längstens 7.4.2000 an, weil die Gefahr bestehe, dass sich die Betroffene "tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden" zufüge. Darüber hinaus verfügte es vorläufig die Freiheitsentziehung durch Bauchgurt im Bett und Fixierung der Extremitäten. Die Anhörung der Betroffenen holte es am 13.1.2000 nach. Aufgrund einer weiteren Anhörung vom 17.1.2000 hob das Amtsgericht am 18.1.2000 den Beschluss vom 8.1.2000 auf. Die am 19.1.2000 eingegangene gegen den Beschluss vom 8.1.2000 gerichtete sofortige Beschwerde der Betroffenen verwarf das Landgericht am 27.1.2000. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Betroffene mit der sofortigen weiteren Beschwerde, mit der sie ein Rechtsachutzinteresse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des amtsgerichtlichen Beschlusses vom 8.1.2000 geltend macht.

II.

Die sofortige weitere Beschwerde ist zulässig und begründet.

1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Erstbeschwerde sei unzulässig, weil die Unterbringungsmaßnahme durch den Beschluss des Amtsgerichts vom 18.1.2000 aufgehoben und damit beendet worden sei. Die angefochtene Maßnahme sei prozessual überholt.

2. Diese Entscheidung hält der rechtlichen Nachprüfung (§ 27 Abs. 1 FGG, § 550 ZPO) nicht stand.

a) Zutreffend geht das Landgericht zwar davon aus, dass durch die Aufhebung des Beschlusses über die Unterbringung die Erledigung der Hauptsache eingetreten ist. Es durfte die Erstbeschwerde aber nicht allein wegen prozessualer Überholung als unzulässig verwerfen (vgl. BVerfG NJW 1998, 2432/2433). Auch nach Aufhebung einer vormundschaftsgerichtlich angeordneten Unterbringung kann der Betroffene ein gegen die Anordnung eingelegtes Rechtsmittel mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Unterbringung fortführen, wenn die Unterbringungsdauer lediglich bis zu sechs Wochen bemessen war (vgl. BayObLGZ 1999, 24 = FamRZ 1999, 794; OLG Zweibrükken BtPrax 2000, 92 LS). Ebenso kann er mit diesem Ziel nach der Aufhebung ein Rechtsmittel einlegen. Da das Rechtsschutzinteresse nicht anders beurteilt werden kann, gelten diese Grundsätze auch, wenn die Unterbringung zwar - wie hier - auf einen längeren Zeitraum angeordnet wurde, ihre tatsächliche Dauer aber bis sechs Wochen betragen hat. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass die Anordnung der Unterbringung für einen Zeitraum von drei Monaten gegen § 70h Abs. 2 Satz 1 FGG verstieß.

Dass die Betroffene mit ihrem Rechtsmittel hier das Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit verfolgte, ergibt sich schon daraus, dass sie im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels bereits entlassen war.

Der Rechtsfehler zwingt zur Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts, aber nicht zur Zurückverweisung der Sache. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, weil es keiner weiteren Ermittlungen bedarf (BGH NJW 1997, 2815/2817; BayObLG NJW-RR 1998, 294/295). Dem steht nicht entgegen, dass das Landgericht die Erstbeschwerde als unzulässig verworfen hat (BayObLGNJW-RR 1998, 519; Bassenge/Herbst FGG/RPMG 8.Aufl. § 27 FGG Rn. 32).

b) Entsprechend dem Begehren der Betroffenen ist festzustellen, dass die Anordnung der vorläufigen Unterbringung und der vorläufigen unterbringungsähnlichen Maßnahmen durch den Beschluss des Amtsgerichts vom 8.1.2000 nicht rechtmäßig erfolgt ist.

aa) Das Amtsgericht hat auf der Grundlage des von ihm festgestellten und aus den Akten ersichtlichen Sachverhalte die Voraussetzungen, unter denen eine vorläufige Unterbringungsmaßnahme angeordnet werden darf, nicht beachtet.

(1) Bestehen dringende Gründe für die Annahme, dass die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB gegeben sind, kann das Vormundschaftsgericht unter den in § 69f FGG weiter aufgeführten Voraussetzungen die vorläufige Unterbringung des Betroffenen durch einstweilige Anordnung genehmigen (§ 70h Abs. 1 Satz 1 FGG). Ist ein Betreuer noch nicht bestellt oder ist er an der Erfüllung seiner Pflichten verhindert, kann das Vormundschaftsgericht selbst die Unterbringungsmaßnahme anordnen (§ 70h Abs. 3 FGG i.V.m. § 1846 BGB; BayObLGZ 1999, 270/272; OLG Schleswig NJW 1992, 2974).

Gemäß diesen Vorschriften kommt eine vorläufige Unterbringung in Betracht, wenn konkrete Umstände mit erheblicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BayObLGZ 1997, 142/145 m.w.N.; Bienwald Betreuungsrecht 3.Aufl. § 69 FGG Rn. 13; Bassenge/Herbst § 69f FGG Rn.4) darauf hindeuten, dass die sachlichen Voraussetzungen für eine Unterbringung gemäß § 1906 Abs. 1 BGB vorliegen. Das ist insbesondere der Fall, wenn entweder aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Gefahr besteht, dass der Betroffene sich selbst tötet oder sich erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt und er insoweit seinen Willen nicht frei bestimmen kann (§ 1906 Abs. 1 Nr.1 BGB; vgl. BayObLGZ 1993, 18), oder wenn eine Heilbehandlung notwendig ist, jedoch ohne Unterbringung nicht durchgeführt werden kann, weil der Betroffene aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (§ 1906 Abs. 1 Nr.2 BGB; vgl. BayObLG BtPrax 1996, 28/29). Die Erforderlichkeit der Unterbringung ist einer strengen Prüfung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu unterziehen (BVerfG NJW 1998, 1774/1795). Die Unterbringung zur Durchführung einer Heilbehandlung ist nur zulässig, wenn sie sich als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden (BVerfG aaO; BayObLGZ 1999, 270/272).

Ferner müssen konkrete Tatsachen nahelegen, dass mit dem Aufschub der Unterbringung Gefahr für den Betroffenen bestünde (vgl. BayObLGZ 1997, 142/145 m.w.N.; Keidel/Kayser § 70h Rn. 5).

(2) Weder dem Beschluss des Amtsgerichts vom 8.1.2000 noch den Akten lassen sich hinreichend konkrete Tatsachen entnehmen, die nach diesen Grundsätzen die Anordnung der Unterbringung rechtfertigen konnten. Das Schreiben des Bezirksklinikums vom 7.1.2000, das im Beschluss als Gutachten bezeichnet wird, enthält insoweit nur allgemeine Angaben, keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte. Insbesondere ist daraus nicht ersichtlich, aus welchem Anlaß die Betroffene ins Klinikum eingeliefert wurde und woraus sich deren mangelnde Behandlungseinsicht ergab. Einzelheiten, aus denen auf das Vorliegen der Gefahr eines Selbstmords oder eines erheblichen gesundheitlichen Schadens hätte geschlossen werden können, sind darin über die bloße Behauptung einer solchen Gefahr hinaus nicht angeführt. Das Schreiben enthält auch keine konkreteren Darlegungen dazu, weshalb die Betroffene ohne Fixierung der Gefahr einer Verletzung durch Sturz, aggressives Verhalten oder unkontrollierte Bewegungen ausgesetzt gewesen wäre. Die amtsgerichtliche Entscheidung führt ferner keine tatsächlichen Umstände an, weshalb mit dem Aufschub der Freiheitgentziehung "erhebliche, momentan auch anderweitig nicht abwendbare Gefahren verbunden" gewesen sein sollen.

bb) Unter diesen Umständen verstieß die Anordnung dieser Unterbringungsmaßnahmen (§ 70 Abs. 1 Satz 2 Nr.1 b und Nr.2 FGG) ohne weitere Sachaufklärung, insbesondere eine Anhörung der Betroffenen, gegen auch verfassungsrechtlich bedeutsame verfahrensrechtliche Grundsätze.

(1) Nach dem ihm im Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung bekannten Sachstand durfte das Amtsgericht nicht ohne die vorherige persönliche Anhörung der Betroffenen (§ 70h Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 und § 69f Abs. 1 Satz 1 Nr.4 FGG) entscheiden. Die Voraussetzung einer Gefahr in Verzug, bei der gemäß § 69f Abs. 1 Satz 4 FGG von der persönlichen Anhörung der Betroffenen vor Erlaß der Entscheidung hätte abgesehen werden dürfen, sind nicht dargetan. Die Formulierung im angefochtenen Beschluss, die Anhörung der Betroffenen sei "wegen der Eilbedürftigkeit vor Erlaß der Entscheidung nicht möglich", kann die erforderliche Begründung durch konkrete Tatsachen (vgl. SchlHOLG SchlHA 1994, 65 = FamRZ 1994, 781) nicht ersetzen. Auch den Akten lassen sich keine Gründe entnehmen, weshalb eine Anhörung der Betroffenen wegen "Gefahr im Verzug" nicht möglich gewesen wäre. Das Schreiben des Bezirksklinikums war am 7.1.2000 kurz nach 17 h eingegangen.

Der Richter hat die Anordnung am 8.1.2000 erlassen. Es ist nicht ersichtlich, dass er gehindert gewesen wäre, an diesem Tag vor dem Erlaß der Entscheidung die Betroffene in dem am Ort des Gerichtssitzes gelegenen Krankenhaus anzuhören, notfalls unter Zurückstellung anderer weniger dringlicher Dienstgeschäfte (vgl. BVerfGE 58, 208/222). Ein solches Vorgehen lag schon deshalb nahe, weil die Angaben in dem Schreiben des Bezirksklinikums wie dargelegt wenig konkret gehalten waren.

Die Verfahrensweise des Amtsgericht verletzt Art.104 Abs. 1 Satz 1 GG, da auch im Verfahren der einstweiligen Anordnung die vorherige persönliche Anhörung des Betroffenen zu den durch Art.104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhobenen Grundsätzen gehört (vgl. BayObLGZ 1999, 269/270; BVerfG InfAus1R 1996, 198/201). Der Verstoß gegen Art.104 Abs. 1 Satz 1 GG wird, anders als der ebenfalls gegebene Verstoß gegen Art.103 Abs. 1 GG, durch eine unverzügliche Nachholung der Anhörung der Betroffenen (§ 70h Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 und § 69f Abs. 1 Satz 4 Halbs.2 FGG) nicht geheilt. Er drückt der angeordneten Unterbringung bis zur Durchführung der Anhörung den Makel der rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf (BVerfGE 58, 208/223).

Zudem ist die Anhörung nicht unverzüglich nachgeholt worden. Sie wurde erst am 13.1.2000, also fünf Tage nach Erlaß der Anordnung durchgeführt; dies genügt keinesfalls (vgl. SchlHOLG aaO; HK-BUR/Rink § 69f FGG Rn. 29). Der Amtsrichter war zwingend verpflichtet, die Betroffene nach Erlaß der Unterbringungsanordnung so bald als möglich anzuhören (BVerfG NJW 1984, 1806/1807). Im Hinblick auf den durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 104 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Schutz der persönlichen Freiheit (vgl. BVerfGE 58, 208/220) muß die Anhörung in aller Regel am nächsten Tag nachgeholt werden (vgl. FGG 14.Aufl. § 70h Rn. 8). Es ist den Akten nicht zu entnehmen und auch kaum vorstellbar, dass die Anhörung der Betroffenen, gegebenenfalls durch den Eilrichter (vgl. HK-BUR/Rink aaO), nicht am 9.1.2000, allerspätestens am Montag, den 10.1.2000 möglich gewesen wäre.

(2) Angesichts der wenig konkreten Angaben in dem Schreiben vom 7.1.2000 wäre der Amtsrichter ferner zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts in medizinischer Hinsicht verpflichtet gewesen. Auch diese Verpflichtung ist Gegenstand grundrechtlicher Gewährleistung gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 3, Art.104 GG (vgl. BVerfG InfAuslR 1996, 198/201).

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