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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 04.06.2004
Aktenzeichen: 3Z BR 97/04
Rechtsgebiete: FGG, GG


Vorschriften:

FGG § 34
GG Art. 103 Abs. 1
Zur Frage, unter welchen Umständen und in welchem Umfang dem Kind eines vorläufig Betreuten Akteneinsicht in die Betreuungsakten zu gewähren ist, wenn der vorläufig Betreute zu einem früheren Zeitpunkt jegliche Auskünfte an dieses Kind untersagt hat, dieses aber seine Bestellung zum endgültigen Betreuer beantragt hat.
Gründe:

I. Für den Betroffenen ist seit 10.10.2003 vorläufig eine Vereinsbetreuerin mit den Aufgabenkreisen Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge einschließlich Zustimmung zu operativen Maßnahmen bestellt. Die Aufgabenkreise wurden am 22.10.2003 um die Bereiche Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Entscheidung über Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen sowie Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post erweitert.

Mit Schreiben vom 15.1.2004 beantragte der weitere Beteiligte, der einzige Abkömmling und Sohn des Betroffenen, ihm Akteneinsicht in die Betreuungsakte zu gewähren und die Akte in seine Anwaltskanzlei zu übersenden. Das Amtsgericht lehnte mit Schreiben vom 22.1.2004 die Gewährung von Akteneinsicht ab.

Die hiergegen durch den weiteren Beteiligten eingelegte Beschwerde hat das Landgericht am 29.3.2004 zurückgewiesen.

Mit seiner weiteren Beschwerde verfolgt der weitere Beteiligte sein Ziel weiter, Akteneinsicht in die Betreuungsakte zu erlangen, wobei er die Übersendung an einen anwaltlichen Kollegen oder ein heimatnahes Gericht für ausreichend erachtet.

II. Die weitere Beschwerde ist zulässig, §§ 27 Abs. 1, 21 Abs. 2 FGG; sie hat auch in der Sache Erfolg.

1. Das Landgericht hat seine Entscheidung folgendermaßen begründet:

Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 FGG könne Akteneinsicht jedem gestattet werden, der ein berechtigtes Interesse glaubhaft mache. Ein berechtigtes Interesse liege insbesondere dann vor, wenn ein künftiges Verhalten des Antragstellers durch die Kenntnis vom Akteninhalt beeinflusst werden könne. Dieses Interesse sei gegen ein gleich hohes oder höher zu bewertendes Interesse der Öffentlichkeit, des Betroffenen oder Dritter an der Geheimhaltung abzuwägen. Hier ergebe die gebotene Abwägung, dass die beantragte Akteneinsicht zu verweigern sei. Aus dem Akteninhalt ergebe sich eindeutig, dass die beantragte Akteneinsicht nicht dem Willen des Betroffenen entspreche. Zwar könne er nun krankheitsbedingt einen entsprechenden Willen nicht mehr bilden, aus seinem Schreiben vom 12.12.1994 ergebe sich aber, dass er keinen Kontakt zu seinem Sohn wünsche. Daraus folge, dass der Betroffene die sensiblen und personenbezogenen in der Akte enthaltenen Daten nicht dem Sohn zur Kenntnis bringen wolle. Das Interesse des Sohnes sei nicht höher zu bewerten. Soweit sich dieser auf sein gesetzliches Erbrecht bzw. Pflichtteilsrecht berufe, gebe es keinen Anspruch auf Auskunft über den Stand des Vermögens des Erblassers zu dessen Lebzeiten. Die Prüfung, ob er die Betreuung ganz oder teilweise übernehme, sei für ihn abgeschlossen, da er einen entsprechenden Antrag gestellt habe. Die Akteneinsicht sei daher nicht erforderlich. Ein allgemeines Interesse als möglicherweise in Betracht kommender Betreuer könne aber nicht höher gewichtet werden als das Interesse des Betroffenen an der Geheimhaltung.

2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht in vollem Umfang stand. Der Beschluss des Landgerichts war daher aufzuheben und dem Sohn die von ihm beantragte Akteneinsicht zum überwiegenden Teil zu gewähren.

a) Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 FGG kann die Einsicht in die Gerichtsakten jedem insoweit gestattet werden, als er ein berechtigtes Interesse glaubhaft macht. Berechtigtes Interesse ist jedes vernünftigerweise gerechtfertigte Interesse tatsächlicher, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Art, das sich nicht auf vorhandene Rechte zu gründen oder auf das Verfahren zu beziehen braucht (Bassenge/Herbst/Roth FGG/RPflG 9. Aufl. § 34 FGG Rn. 5); es reicht im Allgemeinen aus, dass künftiges Verhalten durch die Aktenkenntnis beeinflusst werden kann (BayObLGZ 1997, 315/318). Eine formelle oder materielle Beteiligung am Verfahren ist nicht erforderlich, aber stets ausreichend (BayObLG BtPrax 1998, 78). Denn Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet jedem an einem Verfahren Beteiligten durch den Anspruch auf rechtliches Gehör ein Recht auf Information über den Verfahrensstoff und den Akteninhalt (Keidel/Kahl FGG 15. Aufl. § 34 Rn. 1 m.w.N.). Für die an einem anhängigen Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Beteiligten folgt damit schon aus Art. 103 Abs. 1 GG grundsätzlich ein berechtigtes Interesse an der Akteneinsicht; der Glaubhaftmachung dieses Interesses bedarf es nicht (BayObLG BtPrax 1998, 78; OLG Düsseldorf BtPrax 1996, 198).

Das daraus im Grundsatz folgende Recht auf Akteneinsicht kann eingeschränkt sein z.B., wenn nicht alle Aktenbestandteile für die Geltendmachung eigener Rechte erforderlich sind. Auch kann wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Abwägung mit entgegenstehenden Schutzgütern, etwa dem Schutz privater Geheimnisse (Keidel/Kahl § 34 Rn. 1; BayObLGZ 1997, 315/318; BayObLG BtPrax 1998, 78/79) oder dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen (Keidel/Kahl § 34 Rn. 1b und 15c; BVerfG NJW 1988, 2031 und 3009) in Betracht kommen. Diese Rechte können einer beantragten Akteneinsicht ganz oder auch nur teilweise im Wege stehen. Zwar muss der Einzelne auch Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung hinnehmen, doch ist auf der anderen Seite zu berücksichtigen, dass die gerade in Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit häufig erforderliche Offenlegung höchstpersönlicher Daten von Verfahrensbeteiligten oft nur dann erreicht werden kann, wenn diese sich auf die grundsätzliche Vertraulichkeit ihrer Angaben verlassen können (Keidel/Kahl § 34 Rn. 15c). Akteneinsicht kann auch dann versagt werden, wenn die Annahme gerechtfertigt ist, der Antragsteller verfolge mit ihr unlautere oder schikanöse Absichten (Keidel/Kahl § 34 Rn. 17a).

b) Das Landgericht hat die verfahrensrechtliche Stellung des Sohnes nicht in seine Überlegungen einbezogen, so dass seine Entscheidung keinen Bestand haben kann. Nach den genannten Grundsätzen ist dem Sohn Akteneinsicht zu bewilligen mit Ausnahme des Bestattungsvertrages Bl. 56 bis 59 der Akten. Als Sohn und einziger Abkömmling des Betroffenen ist dieser nicht nur materiell, sondern auch formell am Verfahren beteiligt. Am 18.2.2004 ist sein Antrag bzw. seine Anregung bei Gericht eingegangen, ihn zum Betreuer für seinen Vater, den Betroffenen, zu bestellen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt hatte der Sohn als Verfahrensbeteiligter grundsätzlich das aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitete berechtigte Interesse an der Akteneinsicht; dieses ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass er zum Betreuer für seinen Vater bestellt werden will. Dagegen sprechen nicht die anderen Beweggründe, die der Sohn zur Begründung für sein Akteneinsichtsrecht angeführt hat. Zwar deuten diese eher darauf hin, dass er mehr an der vermögensrechtlichen Situation des Betroffenen und an seinen eigenen Erb- bzw. Pflichtteilsansprüchen interessiert ist als an einer Betreuung seines Vaters. Doch selbst wenn diese Motive zutreffen sollten, wären sie zwar bei der Frage, ob der Sohn zum endgültigen Betreuer bestellt werden kann, eingehend zu prüfen und zu bewerten. Seine Stellung als beschwerdeberechtigter Verfahrensbeteiligter wird dadurch aber nicht berührt; sein Recht auf Kenntnis des Akteninhalts bleibt grundsätzlich bestehen. Die Schwelle zu einer schikanösen oder unlauteren Inanspruchnahme des Akteneinsichtsrechtes ist jedenfalls nicht überschritten.

Dem grundsätzlichen Recht des Sohnes auf Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen steht das Recht des Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber. Aus dem Verhalten des Betroffenen zu Zeiten, in denen er noch geschäftsfähig und einer freien Willensbildung fähig war, und dem von ihm im Jahre 1994 abgeschlossenen Bestattungsvertrag kann der Schluss gezogen werden, dass er keinen Kontakt zu seinem Sohn wünschte und diesem auch keine Auskunft über sein Vermögen einschließlich von ihm verfasster letztwilliger Verfügungen geben wollte. Diese Haltung hat der Betroffene gegenüber der vorläufig bestellten Betreuerin zumindest mit natürlichem Willen wiederholt, indem er ihr gegenüber den Wunsch geäußert hatte, sie solle seinem Sohn keine Auskünfte erteilen. Wenn er nun krankheitsbedingt nicht mehr selbst seinen Willen zum Ausdruck bringen kann, hat er mit dem Verlust der Geschäftsfähigkeit nicht auch sein Recht auf Geheimhaltung persönlicher Daten verloren. Vielmehr ist sein mutmaßlicher Wille, der aus seinem Verhalten in der Vergangenheit hergeleitet werden kann, heranzuziehen.

Doch kann das aus Art. 103 Abs. 1 GG hergeleitete Recht des Sohnes auf Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen nicht mit der ablehnenden Aussage des Betroffenen allein, seinem Sohn solle keine Auskunft erteilt werden, ausgehöhlt werden. Der Betroffene hat keine Dispositionsbefugnis über Verfahrensgrundrechte weiterer Beteiligter. Das Verfahrensgrundrecht stößt erst dann an seine Grenze, wenn ihm gleichwertige Rechte des Betroffenen entgegenstehen oder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt ist. Das bedeutet, dass das Gewicht des informationellen Selbstbestimmungsrechtes oder anderer entgegenstehender Rechte geprüft werden und eine Abwägung mit dem Verfahrensgrundrecht vorgenommen werden muss. Besteht die Betreuungsakte lediglich aus dem üblichen Inhalt, ohne dass gravierende Besonderheiten zu sehen sind, die etwa in außergewöhnlich belastenden intimen ärztlichen Befunden oder in schwerwiegenden oder geheim zu haltenden vermögensrechtlichen Angelegenheiten bestehen könnten, ist in aller Regel trotz des entgegenstehenden Willens des Betroffenen dem Verfahrensgrundrecht des Art. 103 Abs. 1 GG der Vorrang einzuräumen.

Hier führt die gebotene Abwägung zwischen dem Interesse des Betroffenen an seiner Privatsphäre sowie seinem informationellen Selbstbestimmungsrecht und dem Recht des Sohnes auf Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen zu einer umfassenden, aber nicht ganz vollständigen Akteneinsicht. Die Betreuungsakten bestehen nicht nur aus dem üblichen Inhalt, wie Antrag, ärztliches Attest, Sachverständigengutachten und Vermögensübersicht. Soweit diese Unterlagen auch in den streitgegenständlichen Akten enthalten sind, hat der Senat keine Bedenken, diese Bestandteile dem Sohn zur Kenntnis zu bringen. Die Unterlagen hängen mit dem Betreuungsverfahren zusammen und ermöglichen dem Sohn, die Frage der Betreuungsbedürftigkeit und der möglicherweise auf ihn zukommenden Betreuungsaufgaben einzuschätzen. Etwas anderes gilt aber für den Inhalt des Bestattungsvertrages. Dieser enthält größtenteils Wünsche und Verfügungen des Betroffenen für seine Bestattung sowie Anweisungen, wie das Bestattungsunternehmen im Falle seines Ablebens vorgehen soll. Unter anderem ist auch eine letztwillige Verfügung erwähnt. Mit dem Betreuungsverfahren hängt der Vertrag nicht zusammen; der Sohn benötigt für seine Einschätzung, welche Aufgaben als Betreuer seines Vaters auf ihn zukommen werden, diese Unterlagen nicht; das Recht auf Kenntnis der Entscheidungsgrundlagen tritt insoweit hinter das Recht des Betroffenen auf Geheimhaltung zurück.

Wie beantragt, ist die Akteneinsicht durch Übersendung der Akten - mit Ausnahme des Bestattungsvertrages - an das für den Sohn zuständige Amtsgericht durchzuführen.



Ende der Entscheidung

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