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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 05.03.2004
Aktenzeichen: 4 St RR 22/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 244 Abs. 3
StPO § 338 Nr. 8
Der Tatrichter kann nur in ganz extremen Ausnahmefällen als letztes Mittel zur Verhinderung eines Rechtsmissbrauchs dem Angeklagten auferlegen, Beweisanträge künftig nur noch durch seinen Verteidiger stellen zu lassen. Aus der Begründung eines solchen Beschlusses muss sich ergeben, warum nach Ansicht des Tatrichters der Angeklagte sein Beweisantragsrecht bis zu diesem Zeitpunkt rechtsmissbräuchlich eingesetzt hat.
Tatbestand:

Der Angeklagte war wegen Hinterziehung von Einkommenssteuer vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Seine Berufung gegen dieses Urteil hatte das Landgericht nach einer mehrtägigen Verhandlung als unbegründet verworfen. Mit der Revision beanstandete der Angeklagte die Verletzung des formellen und sachlichen Rechts. Die zulässige (§§ 333, 341, 344, 345 StPO) Revision des Angeklagten griff mit der zulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobenen Verfahrensrüge des Verstoßes gegen das Beweisantragsrecht des Angeklagten durch den in der Hauptverhandlung vom 27.08.2003 ergangenen Beschluss, wonach Beweisanträge vom Angeklagten nur noch über seinen Verteidiger gestellt werden dürften, durch, sodass es auf die weiteren Verfahrensrügen und die Sachrüge nicht mehr ankam.

Gründe:

Der beanstandete Beschluss des Landgerichts lautete:

"Da der Angeklagte zur Verhinderung des ordnungsgemäßen Abschlusses der Hauptverhandlung in exzessiver Weise von seinem Recht, Beweisanträge zu stellen, Gebrauch macht, ordnet die Strafkammer an, dass er in Zukunft Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger stellen darf."

Die Entwicklung der Rechtsprechung, ausgehend vom Reichsgericht (RGSt 13, 151/153), zeigt die Neigung, allen Bestrebungen der Tatrichter entgegenzutreten, gegen den Missbrauch strafprozessualer Rechte mit durch im Gesetz nicht vorgesehenen Mitteln vorzugehen. So entschied das Reichsgericht u.a., dass es dem Gericht nicht gestattet sei, einem Angeklagten, der einen Beweisantrag stellen will, das Gehör zu versagen, selbst wenn der Angeklagte die Antragstellung schuldhaft oder gar böswillig verzögerte; eine Verzögerung des Verfahrens wiege hier weniger schwer als die "Wahrung des Wichtigsten aller Parteirechte". Etwas anderes gelte nur, wenn der Angeklagte unter dem Schein der Antragstellung unzulässige Zwecke verfolge; dies müsse dann aber für das Revisionsgericht nachprüfbar ermittelt und in der Begründung vom Tatrichter erkennbar gemacht werden (RGSt 22, 335, 336/337).

Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung übernommen und dem Tatrichter das Recht abgesprochen, die weitere Entgegennahme von Anträgen eines Verteidigers schlechthin und von vornherein abzulehnen, selbst wenn der Verteidiger seine prozessualen Rechte missbraucht haben sollte (BGH JR 1980, 218/219 m. zust. Anm. Meyer). Dem Angeklagten selbst sein Fragerecht an Zeugen zu entziehen, hatte der Bundesgerichtshof schon in einer früheren Entscheidung als nur im Ausnahmefall mit aus dem Sitzungsprotokoll ersichtlichen Erklärungen der Beteiligten in Verbindung mit den Gründen des Gerichtsbeschlusses für zulässig angesehen, während andernfalls ein zwingender Revisionsgrund nach § 338 Nr. 8 StPO gegeben sei (BGH bei Dallinger MDR 1973, 369/372).

In einer weiteren Entscheidung hat der Bundesgerichtshof die Grenze zum Rechtsmissbrauch dann als überschritten angesehen, wenn der Angeklagte im Anschluss an 77 Verhandlungstage weitere 30 Tage das Gericht nur mit der Entgegennahme sowie fast ausschließlichen Ablehnung von Beweisanträgen beschäftigte und gleichwohl noch Hunderte oder gar Tausende von Beweisanträgen ankündigte. Ausnahmsweise ist dann als milderes Mittel dem Tatrichter erlaubt, dem Angeklagten aufzugeben, in Zukunft Beweisanträge nur noch über seinen Verteidiger zu stellen (BGHSt 38, 111/113).

Eine diesem offenkundigen Missbrauch vergleichbare Situation wird hier weder aus dem Hauptverhandlungsprotokoll noch aus der Begründung des Gerichtsbeschlusses ersichtlich:

Soweit das Gericht eine Reihe von Beweisanträgen vor dem die Rechte des Angeklagten einschränkenden Beschluss zum Anlass genommen haben sollte, ist dem Senat eine Überprüfung verwehrt, weil das Landgericht sich seiner Pflicht zur Begründung der Ablehnung eines Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht (vgl. BGHSt 21, 118/123; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl. StPO 46. Aufl. § 244 RdNr. 68) jeweils gänzlich entzogen hat. Der Beweisantragsablehnungsgrund "Verschleppungsabsicht" ersetzt nicht die gebotene Begründung für diese Entscheidung.

Aus der Begründung des Gerichtsbeschlusses zur Versagung des Rechts des Angeklagten, selbst Beweisanträge zu stellen, ergibt sich auch keine Kontrollmöglichkeit für das Revisionsgericht, ob das Landgericht zu Recht von einem missbräuchlichen Verhalten des Angeklagten ausgehen durfte oder ob und warum ein solches Handeln zu erwarten war. Weder die Zahl der vom Angeklagten im bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträge, noch die von ihm angekündigten "50 bis 60 weitere(n) Beweisanträge" sind für sich genommen geeignet, allein deshalb eine alleinige Missbrauchsabsicht beim Angeklagten zu unterstellen. Damit beschränkte der Beschluss des Landgerichts den Angeklagten unzulässig in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt (§ 338 Nr. 8 StPO), denn das Recht des Angeklagten, selbständig neben seinem Verteidiger Gegenstand und Umfang der Beweisaufnahme durch Beweisanträge mitzubestimmen, ist unabdingbarer Bestandteil eines rechtsstaatlich fairen Verfahrens (LR-Gollwitzer StPO 24. Aufl. § 244 RdNr. 93 mwN.).



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