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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Beschluss verkündet am 16.10.2003
Aktenzeichen: 5 St RR 285/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 230
StPO § 247
StPO § 338 Nr. 5

Entscheidung wurde am 15.12.2003 korrigiert: im Leitsatz unter 4. muß es richtig heißen ... 100 - 1. Strafsenat; ...
1. Die Verhandlung und die Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen sowie dessen Vereidigung und Entlassung gehören nicht zur Vernehmung des Zeugen im Sinne von § 247 StPO.

2. Der Angeklagte muss deshalb auch bei Anwendung des § 247 StPO Gelegenheit haben, auf die Entscheidung über die Vereidigung durch Anträge Einfluss zu nehmen. Daher ist die Verhandlung über die Vereidigung ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, der grundsätzlich nicht ohne den Angeklagten stattfinden darf.

3. Ebenso verhält es sich mit der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen, weil die Anwesenheit des Angeklagten hierbei sein Recht auf effektive Ausübung des Fragerechts sichert.

4. Die vorschriftswidrige Abwesenheit des Angeklagten bei der Verhandlung und Entscheidung über Vereidigung und Entlassung eines Zeugen ist deshalb in der Regel ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 5 StPO (im Anschluss an BGH NStZ-RR 2003, 100 - 1. Strafsenat; NStZ-RR 1999, 175 - 2. Strafsenat; NStZ-RR 2002, 102 - 3. Strafsenat; NStZ 2000, 440 - 4. Strafsenat; anderer Auffassung, bislang jedoch nur im Rahmen nicht entscheidungstragender Erwägungen: 5. Strafsenat, NStZ 2000, 328).

5. Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen ist allenfalls dann zuzulassen, wenn der Verfahrensfehler das Urteil ersichtlich nicht zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst hat, etwa weil dies bereits denkgesetzlich ausgeschlossen ist (BGH NStZ-RR 2002, 102), weil eine Einflussnahme des Angeklagten auf die Vereidigungsentscheidung wegen eines gesetzlichen Vereidigungsverbots ohnehin von vornherein ausgeschlossen war (BGH NStZ-RR 2003, 100) oder weil der Angeklagte nach der vorschriftswidrigen Entlassung des Zeugen auf weitere Fragen an diesen ausdrücklich verzichtet hat und dies im Protokoll vermerkt ist (BGH NStZ 1998, 425).


Tatbestand:

Das Amtsgericht - Schöffengericht - verurteilte den Angeklagten wegen vier sachlich zusammentreffender Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, in drei Fällen rechtlich zusammentreffend mit sexueller Nötigung, zur Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Auf die Berufung des Angeklagten änderte das Landgericht die erstinstanzliche Entscheidung dahin ab, dass gegen den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in drei Fällen, in zwei Fällen rechtlich zusammentreffend mit sexueller Nötigung, unter Freispruch im Übrigen eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr vier Monaten verhängt wurde. Hiergegen wandte sich der Angeklagte mit seiner Revision; er rügte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Revision des Angeklagten hatte mit der auf §§ 230, 247, 338 Nr. 5 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg.

Gründe:

1. Nach dem durch die Sitzungsniederschrift bewiesenen Vortrag der Revision geschah am 8. und letzten Hauptverhandlungstag, Folgendes:

Auf Antrag des Nebenklägervertreters sowie der Staatsanwaltschaft beschloss die Strafkammer unter anderem, den Angeklagten für die Dauer der (erneuten) Vernehmung der Zeugin und Nebenklägerin K. gemäß § 247 StPO aus dem Sitzungssaal zu entfernen, "weil ansonsten nicht erwartet werden könnte, dass die Zeugin wahrheitsgemäße Angaben macht".

Dass dieser Beschluss ausgeführt wurde, erschließt sich aus der Sitzungsniederschrift (lediglich) indirekt aus dem späteren Vermerk, dass der Angeklagte nach Vernehmung der Zeugin K. sowie der Verhandlung und Entscheidung über deren Vereidigung in den Sitzungssaal gerufen wurde.

Die Nebenklägerin wurde in Abwesenheit des Angeklagten als Zeugin zur Sache vernommen, wobei den in zweiter Instanz zum Freispruch führenden Fall 3 der Anklage (= Fall 4 im Ersturteil) betreffende Angaben wörtlich protokolliert wurden. Nach der Sitzungsniederschrift machte die Zeugin "weiterhin Angaben zur Sache". Sie blieb auf Anordnung des Vorsitzenden gemäß § 61 Nr. 2 StPO als Geschädigte unvereidigt.

Nach dem weiteren Vortrag der Revision wurde sie alsdann entlassen; die Sitzungsniederschrift enthält zur Entlassung dieser Zeugin insgesamt keinerlei Angaben.

Nach der Entscheidung über die (Nicht-)Vereidigung der Nebenklägerin wurde " ... der Angeklagte in den Sitzungssaal gerufen. Dem Angeklagten wurde die wörtliche Protokollierung der Aussage der Zeugin K. vorgelesen. Im Übrigen berichtete der Vorsitzende dem Angeklagten über die Vorgänge während der Abwesenheit des Angeklagten bei der Vernehmung der Zeugin."

In der Folge wurde über die Vereidigung der Nebenklägerin nicht erneut entschieden.

2. Die Revision beanstandet dieses Verfahren zu Recht, indem sie die Verletzung der §§ 230, 247 StPO rügt und den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend macht.

Nach der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist § 247 StPO als Ausnahmevorschrift eng auszulegen. Deshalb gehören die Verhandlung und die Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen sowie dessen Vereidigung und Entlassung nicht zur Vernehmung im Sinne dieser Vorschrift.

Der Angeklagte muss auch bei Anwendung des § 247 StPO Gelegenheit haben, auf die Entscheidung über die Vereidigung durch Anträge Einfluss zu nehmen. Daher ist die Verhandlung über die Vereidigung ein wesentlicher Teil der Hauptverhandlung, der grundsätzlich nicht ohne den Angeklagten stattfinden darf.

Ebenso verhält es sich mit der Verhandlung über die Entlassung des Zeugen, weil die Anwesenheit des Angeklagten hierbei sein Recht auf effektive Ausübung des Fragerechts sichert.

Zwar verweist die Staatsanwaltschaft bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht in ihrer den gegenteiligen Standpunkt vertretenden Antragsbegründung vom 22.8.2003 zutreffend darauf, dass der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 18.12.1968 (BGHSt 22, 289/297) in einem Fall, in dem - wie hier - von der Vereidigung einer Zeugin gemäß § 61 Nr. 2 StPO abgesehen worden war, in der vorschriftswidrigen Abwesenheit des Angeklagten keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 338 Nr. 5 StPO gesehen hat, "weil es sich mit Rücksicht auf das Ergebnis der Verhandlungen zu diesem Punkt ... insofern nicht um einen wesentlichen Vorgang der Hauptverhandlung handelte". Dieses Urteil ist aber durch mehrere neuere Entscheidungen desselben Senats überholt (vgl. z.B. BGH Urteil vom 20.10.1982 Az. 2 StR 263/82, StV 1983, 3; BGH Urteil vom 11.5.1988 Az. 3 StR 89/88 m.w.N.; BGH Beschluss vom 28.10.1998 Az. 2 StR 481/98, NStZ-RR 1999, 175). Demgemäß haben auch der 1., 3. und 4. Strafsenat in solchen Fällen wiederholt im Sinne der eingangs zitierten Rechtsauffassung entschieden, ohne die Sache wegen der Abweichung von BGHSt 22, 289, 297 dem Großen Senat für Strafsachen vorzulegen (BGH NStZ-RR 2003, 100 [1. Strafsenat: 21.3.2002]; NStZ-RR 2002, 102 [3. Strafsenat: 30.1.2001]; StV 2000, 240 [3. Strafsenat: 3.11.1999]; NStZ 1999, 44 und 522 [3. Strafsenat: 19.8.1998 bzw. 23.6.1999]; NStZ 2000, 440 [4. Strafsenat: 30.3.2000]).

Soweit die Staatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift auf die Entscheidung des 5. Strafsenats vom 8.2.2000 verweist (NStZ 2000, 328), lässt sie außer Betracht, dass die dort geäußerte gegenteilige Rechtsauffassung nur im Rahmen nicht entscheidungstragender Erwägungen erfolgte (die Formrüge scheiterte an § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO); sie berührt deshalb die gefestigte Rechtsprechung nach Maßgabe der zitierten Entscheidungen der vier anderen Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung jedenfalls für den vorliegenden Fall an.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Ausnahme von den zitierten Grundsätzen allenfalls dann zuzulassen, wenn der Verfahrensfehler das Urteil ersichtlich nicht zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst hat, etwa weil dies bereits denkgesetzlich ausgeschlossen ist (BGH NStZ-RR 2002, 102), weil eine Einflussnahme des Angeklagten auf die Vereidigungsentscheidung wegen eines gesetzlichen Vereidigungsverbots ohnehin von vornherein ausgeschlossen war (BGH NStZ-RR 2003, 100) oder weil der Angeklagte nach der vorschriftswidrigen Entlassung des Zeugen auf weitere Fragen an diesen ausdrücklich verzichtet hat und dies im Protokoll vermerkt ist (BGH NStZ 1998, 425).

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.

Ein Vereidigungsverbot (§ 60 StPO) bestand nicht. Auch liegt kein Fall vor, in dem der Zeuge sich etwa auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen und nicht zur Sache ausgesagt hat oder in dem der Angeklagte nach seiner Unterrichtung über den Inhalt der in seiner Abwesenheit getätigten Aussage auf die Vereidigung verzichtete.

Der Angeklagte hätte deshalb auf eine Vereidigung der Zeugin hinwirken können, wenn er bei der Verhandlung über diese Frage anwesend gewesen wäre.

Allein dieser die Vernehmung der Zeugin K. betreffende Verfahrensfehler der vorschriftswidrigen Abwesenheit des Angeklagten bei der Verhandlung über die Vereidigung der Nebenklägerin führt deshalb wegen der Ausgestaltung dieses Rechtsfehlers als absoluter Revisionsgrund zwingend zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den Feststellungen, soweit die Berufung des Angeklagten gegen seine erstinstanzliche Verurteilung verworfen wurde, ohne dass es darauf ankommt, ob das Urteil auf diesem Verfahrensmangel auch tatsächlich beruhen kann (§§ 353, 338 Nr. 5, 230, 247 StPO).

3. Gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO war die Sache im Umfang der Aufhebung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

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