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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Urteil verkündet am 28.11.2000
Aktenzeichen: 5 St RR 334/00
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 103 Abs. 3
StPO § 260 Abs. 3
Die Staatsanwaltschaft kann im selben Verfahren der ersten nicht mehr rücknehmbaren Anklage eine zweite Anklage nachreichen, wenn gegenüber der ersten Anklage die Tatidentität unberührt bleibt.
BayObLG Urteil

5 St RR 334/00

28.11.00

Tatbestand:

Unter dem 30.8.1999 reichte die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift zum Amtsgericht - Jugendschöffengericht - ein.

Hierin legte sie dem Angeklagten zur Last, sich wegen 106 in Tatmehrheit stehender Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 StGB a. F.) in Tatmehrheit mit einem Vergehen der gefährlichen Körperverletzung (§§ 223, 223 a StGB a. F.) in Tatmehrheit mit einem Verbrechen der Misshandlung Schutzbefohlener (§ 225 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB n. F.) in Tatmehrheit mit einem Vergehen der Mißhandlung Schutzbefohlener (§ 223 b Abs. 1 StGB a. F.) in Tatmehrheit mit zwei in Tatmehrheit stehender Vergehen der Tierquälerei (§ 17 TierSchG) schuldig gemacht zu haben.

In der Anklageschrift vom 30.8.1999 führt die Staatsanwaltschaft aus:

"Der Angeschuldigte ist der leibliche Vater der am 25.1.1983 geborenen M. sowie der am 12.2.1989 geborenen D. Zusammen mit seiner nunmehr getrennt lebenden Ehefrau W. und einer weiteren Tochter bewohnte er im Zeitraum von März 1994 bis 18.11.1998 eine Doppelhaushälfte im Anwesen G., A.-straße... "

Im Zeitraum vom 1.4.1994 bis 1.4.1997 habe der Angeklagte seine Ehefrau W. in insgesamt wenigstens 106 Fällen durch Faustschläge oder durch Ohrfeigen mißhandelt.

An einem nicht mehr näher feststellbaren Tag im Juli 1996 habe er aus Verärgerung, weil ihm seine Ehefrau gegen 4.00 Uhr nicht schnell genug die Wohnungstür geöffnet habe, unter anderem eine mit Platzpatronen geladene Pistole gegen das rechte Ohr der Ehefrau gehalten und abgedrückt, wodurch W. verletzt worden sei.

Im Zeitraum vom 1.4.1994 bis 1.4.1998 habe der Angeklagte in wenigstens 208 Fällen seine Tochter M. mit Faustschlägen oder Ohrfeigen oder auch mit diversen Gegenständen (Gürtel, Antennenkabel, Kochlöffel) körperlich mißhandelt. Im Zeitraum von September 1994 bis September 1996 habe der Angeklagte unter anderem mit einem Antennenkabel auf seine Tochter M. eingeschlagen.

An einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt kurz vor dem 18.10.1995 habe der Angeklagte seiner Tochter M. eine heftige Ohrfeige mit der Folge eines Trommelfellrisses verabreicht.

An einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt im Juni 1996 habe er seine Tochter M. unter anderem durch Ziehen an den Haaren, Schieben gegen eine Wand, Tritt mit dem Knie in den Bauch und Verabreichung von vier bis fünf Ohrfeigen körperlich verletzt und mit einer mit Platzpatronen geladenen Pistole auf die Tochter gezielt und abgedrückt.

Im Mai 1998 habe er wegen eines vermuteten "Verhältnisses" mit einem Angehörigen ihrer Arbeitgeberfirma seine Tochter M. mit der Faust ins Gesicht geschlagen, sie im Schlafzimmer auf das Bett geworfen, sich auf ihren Oberkörper gekniet und ihr mit einem Kissen den Mund zugedrückt, so dass ihr die Luft weggeblieben sei. Er habe sie ferner mit einem Gürtel um den Hals bis zur Ohnmacht stranguliert und mit einem Revolver bedroht. Ferner habe er sie unter Bedrohung mit dem Revolver veranlaßt, eine halbvolle 0,75-Liter-Flasche Whisky im Sturztrunk auszutrinken.

Zu einem nicht mehr näher feststellbaren Zeitpunkt gegen Ende der Sommerferien 1998 habe der Angeklagte aus Eifersucht auf einen Schulfreund seine Tochter M. in der Küche unter anderem mit dem Kopf gegen einen Boiler geschlagen.

Er habe sie sodann ins Badezimmer verbracht und die Badewanne bis zu einer Pegelhöhe von etwa 10 cm bis 15 cm mit Wasser gefüllt und sodann M.s Kopf bis etwa 2 cm bis 3 cm über den Wasserspiegel gedrückt und sie mit den Worten bedroht: "Jetzt mache ich Dich kalt". Er habe sie ferner mit einem Messer bedroht.

Am 25.1.1995 habe der Angeklagte aus Verärgerung über schulische Probleme seine damals sechsjährige Tochter D. mit einer Antenne und mit einem Gürtel so auf die Hand geschlagen, dass ihre Finger blau anschwollen.

Im Jahr 1994 habe der Angeklagte einen in seinen Haushalt aufgenommenen 12 Jahre alten Hund aus Verärgerung, dass dieser auf der Couch in der Wohnung gelegen habe, mit einem Fleischklopfer auf den Kopf geschlagen. Anschließend habe er dem Tier einen Besenstiel so tief in den Rachen gestoßen, dass dieses nicht mehr schlucken, trinken und fressen habe können. Wegen dieser Verletzungen habe er den Hund wenige Tage später im Keller des Hauses erschossen.

In der Nacht vom 17. auf 18.11.1998 habe der Angeklagte zwei zum Haushalt gehörenden jungen Katzen Whisky eingeflößt und sie mit den Füßen getreten, um sie zu quälen. Eines der Tiere habe wegen der Verletzungen von einem Tierarzt eingeschläfert werden müssen.

Die Nebenklägerin W. stellte am 8.3.1999 für sich und ihre drei Töchter M., D. und O. Strafantrag gegen den Angeklagten. Außerdem bejahte die Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Körperverletzungen jeweils das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung.

Zu dieser Anklage unterschrieb die Jugendrichterin am 6.12.1999 einen Eröffnungsbeschluß ohne Änderungen, dessen Zustellung an den Angeklagten und seinen Verteidiger zwar am selben Tag angeordnet, jedoch - wenn Überhaupt - nicht vor dem 1.2.2000 ausgeführt wurde.

Unter dem 27.12.1999 reichte die Staatsanwaltschaft zum Amtsgericht - Jugendschöffengericht - eine neue Anklageschrift ein, deren Anklagesatz weitestgehend wörtlich mit der Anklageschrift vom 30.8.1999 übereinstimmte, jedoch anstelle des vorstehend zitierten einleitenden Absatzes folgenden Text enthielt:

"Der Angeschuldigte ist der leibliche Vater der am 25.1.1983 geborenen M. sowie der am 12.2.1989 geborenen D. Die Familie bewohnte im Zeitraum vom 1.8.1990 bis 30.7.1996 eine Wohnung in der B.-straße.. in G., vom 31.7.1996 bis 14.7.1997 eine Wohnung im Anwesen M.-straße.. in G. und im Zeitraum vom 15.7.1997 bis 18.11.1998 eine Doppelhaushälfte im Anwesen G., A.-straße... "

Ferner ist zur Tat zum Nachteil seiner Tochter D. gegenüber der ursprünglichen Anklageschrift (Tatzeit: 25.1.1995) als Tatzeit angegeben: 25.1.1996.

Dazu reichte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht unter dem 27.12.1999 am 29.12.1999 eine schriftliche Erklärung ein, welche lautet:

"Die Anklage vom 30.8.1999 wird zurückgenommen.

Es wird erneut Anklage erhoben.

Die Tatorte sind berichtigt (= Vorspann Anklage); Ziff. 3 der Anklage (1995) = 1996 wurde ebenfalls berichtigt."

Durch Beschluß vom 10.1.2000 (fälschlich datiert: 10.1.1999) hob das Amtsgericht seinen Eröffnungsbeschluß vom 6.12.1999 auf.

Zur Anklage vom 27.12.1999 unterschrieb die Jugendrichterin am 28.1.2000 einen Eröffnungsbeschluß ohne Änderungen, dessen Zustellung an den Angeklagten, seinen Verteidiger und die Nebenklägerinnenvertreterinnen am selben Tag angeordnet und am 1.2.2000 ausgeführt wurde.

In der Folge fand vor dem Amtsgericht - Jugendschöffengericht - am 10.2.2000 und 15.2.2000 eine Hauptverhandlung statt, in welcher die Anklageschrift vom 27.12.1999 verlesen wurde.

Am 15.2.2000 verurteilte das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in 107 Fällen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit (einem Verbrechen der) Misshandlung Schutzbefohlener in Tatmehrheit mit Tierquälerei in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren sechs Monaten.

Auf die Berufung des Angeklagten hob das Landgericht - Jugendkammer - mit Urteil vom 18.7.2000 das amtsgerichtliche Urteil auf und stellte das Verfahren im Umfang des mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 27.12.1999 begonnenen und ihm folgenden Verfahrensteils wegen des Verfahrenshindernisses der anderweitigen Rechtshängigkeit ein.

Die auf die Verletzung materiellen und formellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

Das vom Landgericht angenommene Verfahrenshindernis (§ 260 Abs. 3 StPO) der anderweitigen Rechtshängigkeit (Art. 103 Abs. 3 GG) besteht nicht.

1. Der Eröffnungsbeschluß vom 6.12.1999 war bis zu seiner Aufhebung am 10.1.2000 mangels irgendeiner Zustellung oder Mitteilung noch nicht mit Außenwirkung erlassen (Kleinknecht/ Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. Rn. 9 vor § 33) und durfte deshalb zurückgenommen werden (LR/Rieß StPO 24. Aufl. § 207 Rn. 34; LR/Wendisch StPO 25. Aufl. § 33 Rn. 12).

Vor Erlaß des Eröffnungsbeschlusses durfte infolgedessen auch am 29.12.1999 die Anklage vom 30.8.1999 wirksam zurückgenommen werden (LR/Rieß § 156 Rn. 2; KK/Schoreit/Tolksdorf StPO 4. Aufl. § 156 Rn. 5 und § 203 Rn. 3).

Der neuen Anklage vom 27.12.1999 stand somit nicht das Verfahrenshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit entgegen. Auch der neue Eröffnungsbeschluß vom 28.1.2000 hat demnach Bestand.

2. Darüber hinaus verkennt das Landgericht den Begriff des Verfahrenshindernisses der "anderweitigen Rechtshängigkeit" (LR/Rieß § 206 a Rn. 42).

Das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) begründet ein Verfahrenshindernis (§ 260 Abs. 3 StPO) dergestalt, dass die doppelte Anhängigkeit ein und derselben Sache bei verschiedenen Gerichten auszuschließen ist, damit kein anderes Verfahren gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat anhängig wird (Kleinknecht/Meyer-Goßner Einl. Rn. 145; KK/Pfeiffer StPO 4. Aufl. § 12 Rn. 3).

Im vorliegenden Verfahren ergingen beide Anklagen und beide Eröffnungsbeschlüsse jedoch im selben Verfahren desselben Gerichts, so dass die Gefahr einer Doppelbestrafung nicht bestand. Da ein Fall der anderweitigen Rechtshängigkeit somit nicht vorlag, war auch nicht zu prüfen, welches Verfahren fortzusetzen war (LR/Rieß § 156 Rn. 19).

3. Sinn der Neufassung der Anklage und des neuen Eröffnungsbeschlusses war vielmehr die Heilung von Mängeln durch Berichtigung einer Tatzeit und zweier Tatorte. Deshalb hätte nach alledem auch dann kein Verfahrenshindernis vorgelegen, wenn die Rücknahme der ersten Anklage und die Aufhebung des ersten Eröffnungsbeschlusses prozessual nicht mehr möglich gewesen wären, weil die neue Anklage nebst dem neuen Eröffnungsbeschluß in diesem Fall die prozessuale Bedeutung eines Hinweises nach § 265 StPO erlangt hätten.

Ende der Entscheidung

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