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Gericht: Bayerisches Oberstes Landesgericht
Urteil verkündet am 15.07.2004
Aktenzeichen: 5St RR 182/04
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 46 Abs. 1
StGB § 2
StGB § 56 Abs. 1;
StPO § 267 Abs. 3 Satz 1
StPO § 318 Satz 1
StPO § 344 Abs. 1
StPO § 344 Abs. 2 Satz 1
1. Der Beschränkung eines Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch steht nicht entgegen, dass der Tatrichter nach einer nicht (mehr) wirksamen Beschränkung gemäß § 154a StPO die Tat möglicherweise rechtlich unvollständig gewürdigt hat.

2. Innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs kann das Rechtsmittel nicht wirksam auf die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt werden, wenn im angefochtenen Urteil die Vorstrafen des Angeklagten unvollständig und daher rechtsfehlerhaft mitgeteilt sind.

3. Werden frühere Verurteilungen bei der Entscheidung über die Rechtsfolgen nur insoweit berücksichtigt, dass der Angeklagte zwar nicht einschlägig, aber doch vielfach und über einen langen Zeitraum bestraft werden musste und damit gezeigt hat, dass er nicht bereit ist, sich an gesetzliche Vorschriften zu halten, so bedarf es grundsätzlich nicht der Mitteilung von Einzelheiten der jeweiligen Urteilssachverhalte, vielmehr genügt dann in der Regel die Darlegung deren Zeitpunkte, der Schuld- und Rechtsfolgenaussprüche sowie etwaiger Vollstreckungen.

4. Ergibt sich schon aus dem angefochtenen Urteil, dass der Tatrichter seiner Rechtsfolgenentscheidung lückenhaft gebliebene Tatsachenfeststellungen zu den Grundlagen der prognostischen Entscheidung gemäß § 56 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt hat, ist dies in der Revision auf die Sachrüge hin zu beachten; der Erhebung einer Aufklärungsrüge bedarf es dann nicht.


Tatbestand:

Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten wegen "Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung jeweils in zwei tateinheitlichen Fällen" zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte.

Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, die sie "auf das Strafmaß" beschränkte; gerügt wurde "die Strafzumessung durch das Amtsgericht" sowie die Bewilligung der Strafaussetzung zur Bewährung. Das Landgericht hat die Berufung als unbegründet verworfen.

Hiergegen richtet sich die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte, auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die von der Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht vertreten wird. Das Rechtsmittel hatte Erfolg.

Gründe:

1. Dem Senat obliegt die Überprüfung des gesamten Strafausspruchs.

a) Die Beschränkung der staatsanwaltschaftlichen Berufung auf die vom Amtsgericht verhängte Strafe war zulässig.

Die dem Rechtsmittelberechtigten in § 318 Satz 1 StPO eingeräumte Verfügungsmacht über den Umfang der Anfechtung gebietet es, den in Rechtsmittelerklärungen zum Ausdruck kommenden Gestaltungswillen im Rahmen des rechtlich Möglichen zu respektieren. Das Rechtsmittelgericht darf daher regelmäßig diejenigen Entscheidungsteile nicht nachprüfen, deren Kontrolle von keiner Seite begehrt wird (BGHSt 47, 32/38).

Rechtlich möglich war die Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch des amtsgerichtlichen Urteils, weil dieser nach dem inneren Zusammenhang des Urteils losgelöst und unabhängig vom nicht angefochtenen Teil beurteilt werden konnte, so dass gewährleistet war, dass die Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleibt (st. Rspr.; vgl. BGHSt 39, 208/209; 41, 57/59; BGH NStZ-RR 1999, 359; 2003, 18). Das gilt selbst dann, wenn der Schuldspruch des angefochtenen Urteils unrichtig sein sollte (BGH NStZ 1996, 352/353; BayObLG NStZ-RR 2003, 209; vgl. ferner BGHSt 48, 4/5), etwa weil das Gericht die Tat im Hinblick auf eine nicht (mehr) wirksame Beschränkung nach § 154a StPO rechtlich unvollständig gewürdigt hat. Auch in einem solchen Fall ist eine getrennte Beurteilung von Schuld- und Rechtsfolgenausspruch möglich. Eine unvollständige rechtliche Würdigung liegt hier indes nahe, da spätestens das Amtsgericht die möglicherweise von der Staatsanwaltschaft vor der Anklageerhebung nach § 154a Abs. 1 StPO ausgeschiedenen, in der Anklageschrift aber gleichwohl aufgeführten Körperverletzungen zum Nachteil der beiden Beamten des Bundesgrenzschutzes mit deren unveränderter Zulassung wieder einbezogen, aber gleichwohl nicht abgeurteilt hat (§ 207 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

b) Aufgrund der Revision der Staatsanwaltschaft hat der Senat den Strafausspruch in vollem Umfang auf materiell-rechtliche Fehler hin zu überprüfen.

Dem steht nicht entgegen, dass sich die Staatsanwaltschaft in der Revisionsbegründung lediglich mit der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung auseinandergesetzt hat. Hierin liegt im Hinblick auf den umfassend gestellten Aufhebungsantrag sowie die im Kern der Revisionsbegründung geltend gemachte unvollständige Würdigung der Vorstrafen sowie weiterer Straftaten des Angeklagten keine (zusätzliche) Beschränkung des Rechtsmittelangriffs, zumal frühere Verurteilungen für die Strafzumessung eine ähnliche Bedeutung haben wie für die Strafaussetzung zur Bewährung. Eine Rechtsmittelbeschränkung auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung ist jedoch nicht möglich, wenn die Gefahr besteht, dass das nach einem Teilrechtsmittel stufenweise entstehende Gesamturteil nicht mehr frei von inneren Widersprüchen bleiben würde (st. Rspr., BGHSt 47, 32/35 m.w.N.), weil der Entscheidung über Strafart und Strafhöhe - wie hier zu den Vorstrafen - andere Feststellungen zugrunde gelegt wären als derjenigen über die Strafaussetzung zur Bewährung (vgl. zur "Rechtskraft" der Feststellungen zu Vorstrafen bei einem bloßen Angriff gegen die Entscheidung zur Bewährung auch OLG Düsseldorf NStZ-RR 1996, 260/261).

Aus diesem Grund ist - ungeachtet der Frage nach der Befugnis hierzu - auch der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht vom 16.6.2004 eine wirksame Beschränkung der Revision nicht zu entnehmen. Zwar hat die Staatsanwaltschaft ausgeführt, dass mit dem Rechtsmittel "nur die Strafaussetzung zur Bewährung angegriffen" werde (Seite 1 der Antragsschrift). Dies ist jedoch, sofern wie hier (vgl. Seite 1 Mitte der Antragsschrift) unzureichende Feststellungen zu den Vorstrafen geltend gemacht werden, aus den oben angeführten Gründen rechtlich nicht möglich. Da die (weitere) Beschränkung des Rechtsmittels somit unwirksam ist, verbleibt es beim ursprünglichen Anfechtungsumfang (vgl. Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 318 Rn. 32, § 344 Rn. 7c jeweils m.w.N.).

2. Der Strafausspruch hat keinen Bestand. Der Strafkammer ist mit der unzureichenden Darstellung der Vorstrafen im angefochtenen Urteil vielmehr ein auf die Sachrüge hin zu beachtender Rechtsfehler unterlaufen, der nicht erst die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung, sondern bereits die Straffestsetzung betrifft.

a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen (BGHSt 34, 345/349 [Großer Senat für Strafsachen]). Wesentliche Anknüpfungstatsachen sind dabei neben der Tatschuld insbesondere das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB) und die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). Diese Umstände muss der Tatrichter aufklären und im Urteil darlegen (vgl. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO), um seine Entscheidung nachvollziehbar zu machen und dem Revisionsgericht die - wenn auch eingeschränkte - Überprüfung des Rechtsfolgenausspruchs zu ermöglichen.

In welchem Umfang hierbei die das Vorleben des Angeklagten betreffenden früheren Verurteilungen zu schildern sind, ist eine Frage des Einzelfalls. Da sich die Urteilsgründe aber auf das Wesentliche beschränken sollen, sind sie dort lediglich insoweit mitzuteilen, als sie für die getroffene Entscheidung Bedeutung haben (BGH Beschluss v. 10.9.2003 - 1 StR 371/03; vgl. auch BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 13, 16). Werden daher beispielsweise frühere Verurteilungen nur insofern berücksichtigt, dass der Angeklagte zwar nicht einschlägig, aber doch vielfach und über einen langen Zeitraum bestraft werden musste und damit gezeigt hat, dass er nicht bereit ist, sich an gesetzliche Vorschriften zu halten, so bedarf es regelmäßig nicht der Darlegung von Einzelheiten der Urteilssachverhalte. Vielmehr genügt dann die Mitteilung von Zeitpunkt, Schuldspruch und Rechtsfolgen sowie einer etwaigen Vollstreckung (vgl. BGH bei Becker NStZ-RR 2002, 100 [Nr. 36]; BGHR StPO § 267 Abs. 3 Satz 1 Strafzumessung 13, 16).

b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen hat die Strafkammer nicht entsprochen.

Im Rahmen der "für die Straffindung und Strafzumessung relevanten Feststellungen" legt die Strafkammer dar, dass die Bewährungshelferin, unter deren Aufsicht der Angeklagte seit März 2001 stehe, über diesen positiv berichtet habe (BU S. 6). Ferner wird im Rahmen der Strafzumessung sowie der Prüfung der Strafaussetzung zur Bewährung mitgeteilt, dass der Angeklagte innerhalb von fünf Jahren bereits acht Mal verurteilt worden sei, wobei die Gerichte in vier Fällen Geldstrafen verhängt hätten (BU S. 7); diese Vorverurteilungen des Angeklagten müssten sich strafschärfend auswirken (BU S. 8). Auch habe der Angeklagte "wegen zweier Strafreste ... und wegen der Verurteilung durch das Amtsgericht München vom 12.12.2000 zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 4 Monaten unter laufender Bewährung" gestanden (BU S. 9).

Weitere Ausführungen zu den Vorstrafen des Angeklagten, insbesondere zu den Daten der Urteile, den Schuld- und Rechtsfolgenaussprüchen sowie etwaigen Vollstreckungen, enthält das angegriffene Urteil nicht. Bereits in dieser Unvollständigkeit liegt - wie oben ausgeführt - ein Rechtsfehler.

c) Dieser Rechtsfehler führt auf die von der Staatsanwaltschaft erhobene Sachrüge hin zum Erfolg der Revision.

aa) Auf den unvollständigen Urteilsgründen beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann die verhängte Strafe nicht daraufhin überprüfen, ob sie Rechtsfehler aufweist; es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass bereits der Strafausspruch von Mängeln beeinflusst ist.

bb) Der Rechtsfehler ist auch auf die von der Staatsanwaltschaft allein erhobene Sachrüge hin zu beachten.

Zwar hat der Bundesgerichtshof in Frage gestellt, ob unvollständige Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten allein aufgrund der Beanstandung, der Tatrichter habe das materielle Recht verletzt, zum Erfolg des Rechtsmittels führen können, oder ob es dann der Erhebung einer Aufklärungsrüge bedarf. In Fällen wie dem vorliegenden, in dem sich schon aus dem angefochtenen Urteil eindeutig ergibt, dass der Tatrichter seiner Rechtsfolgenentscheidung einen lückenhaft gebliebenen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, genügt jedoch auch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs die Erhebung der Sachrüge (BGH StV 1998, 636; BGH NStZ-RR 1999, 46).

d) Rechtsfehlerhaft ist aber auch die Begründung zur Strafaussetzung zur Bewährung.

aa) Zwar unterliegt die Kriminalprognose des Tatrichters, auf die es bei der hier vorliegenden Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten nach § 56 Abs. 1 StGB - anders als die Staatsanwaltschaft auf Seite 3 der Revisionsbegründung meint (vgl. den Wortlaut von § 56 Abs. 3 StGB sowie Schönke/Schröder/Stree StGB 26. Aufl. § 56 Rn. 33) - alleine ankommt, in ihrem Ergebnis (ebenfalls) nur der eingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht. Dieses muss nach der Rechtsprechung die tatrichterliche Entscheidung bis zur Grenze des Vertretbaren hinnehmen (BGH NStZ 1984, 410 m.w.N.; Schäfer Praxis der Strafzumessung 3. Aufl. Rn. 143). Damit das Revisionsgericht eine solche Überprüfung vornehmen kann, ist es aber unerlässlich, dass der Tatrichter die wesentlichen, nach Sachlage in seine Entscheidung einzubeziehenden Umstände im Urteil darlegt (BayObLG NStZ-RR 2004, 42/43; Schönke/Schröder/ Stree aaO § 56 Rn. 50; vgl. auch BGH NStZ 2001, 366/367; KG Urteil v. 19.9.2001 - 1 Ss 165/01).

bb) Daran fehlt es hier jedoch.

Bei einem Angeklagten, der bereits mehrfach trotz bewilligter Strafaussetzung zur Bewährung erneut straffällig geworden ist und bei dem deshalb schon eine Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen werden musste, kann vor allem dann, wenn er zeitnah nach solchen Entscheidungen und ebenfalls während offener Bewährung eine weitere Straftat begeht, in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden, dass er, wenn ihm erneut die Gelegenheit der Bewährung gegeben wird, sich anders als in der Vergangenheit verhalten wird (vgl. BGHR StGB § 56 Abs. 1 Sozialprognose 9). Dies steht zwar einer positiven Prognose gemäß § 56 Abs. 1 StGB nicht stets und von vorneherein entgegen (vgl. BayObLG StV 1994, 186/187). Jedoch ist es dann erforderlich, dass das Urteil Einzelheiten zu den Vorstrafen mitteilt, die es nachvollziehbar machen, dass trotz der Anzahl und der Ahndung der früheren Verfehlungen die seitdem eingetretenen Änderungen in den persönlichen Lebensverhältnissen des Angeklagten ein solches Gewicht erlangt haben, dass nicht nur die Hoffnung oder die vage Möglichkeit besteht, der Angeklagte werde künftig keine Straftaten mehr begehen. Die somit auch für die Frage der Strafaussetzung erforderlichen Einzelheiten zu den Vorstrafen des Angeklagten teilt das Urteil indes - wie ausgeführt - nicht mit.

Aus diesen Gründen war das Urteil des Landgerichts mit den zugehörenden Feststellungen gemäß § 353 StPO aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung über den Rechtsfolgenausspruch sowie die Kosten des Rechtsmittels zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).



Ende der Entscheidung

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