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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss verkündet am 04.10.2005
Aktenzeichen: 1 AR 56/05
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 36 Abs. 2
ZPO § 36 Abs. 3
ZPO § 38
ZPO § 261 Abs. 3 Nr. 2
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 2
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Beschluss

1 AR 56/05 Brandenburgisches Oberlandesgericht

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch

den Richter am Oberlandesgericht ..., die Richterin am Oberlandesgericht ... und den Richter am Amtsgericht ...

am 4. Oktober 2005

beschlossen:

Tenor:

Zuständig ist das Amtsgericht Hamburg-Harburg.

Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt den Beklagten - als ehemaligen Geschäftsführer der inzwischen im Insolvenzverfahren befindlichen, in ... ansässigen P... Wohnbau GmbH - wegen Schadensersatzes aus behaupteter zweckwidriger Verwendung von Baugeldern für ein Bauvorhaben in B... auf Zahlung von 2.867,98 € nebst Zinsen in Anspruch. Sie hat ihre Klage bei dem für den Wohnsitz des Beklagten zuständigen Amtsgericht Nauen eingereicht. Unter Bezugnahme auf eine entsprechende Gerichtsstandsvereinbarung zwischen den Parteien hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 25. Mai 2005 die Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht HamburgHarburg beantragt. Der Beklagte hat sich diesem Antrag mit Schriftsatz vom 6. Juni 2005 angeschlossen. Mit Beschluss vom 24. Juni 2005 hat sich das Amtsgericht Nauen hierauf für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit unter Hinweis auf die zwischen den Parteien geschlossene Gerichtsstandsvereinbarung an das Amtsgericht Hamburg-Harburg verwiesen. Dieses hat sich mit Beschluss vom 16. August 2005 seinerseits für örtlich unzuständig erklärt und die Sache dem Brandenburgischen Oberlandesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.

II.

1. Der Zuständigkeitsstreit ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 ZPO durch das Brandenburgische Oberlandesgericht zu entscheiden, weil das zu seinem Bezirk gehörende Amtsgericht Nauen unter den Zuständigkeitsstreit beteiligten Gerichten zuerst mit der Sache befasst gewesen ist.

2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das Amtsgericht Nauen als auch das Amtsgericht Hamburg-Harburg haben sich im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für unzuständig erklärt, ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 24. Juni 2005 und letzteres durch die seine Zuständigkeit abschließend verneinende Entscheidung vom 16. August 2005, die als solche den Anforderungen genügt, die an das Merkmal "rechtskräftig" im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte ausdrückliche beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (vgl. BGHZ Bd. 102, S. 338, 340; Bd. 104, S. 363, 366; BGH NJW 2002, S. 3634, 3635; Senat, OLG-NL 2005, S. 16, 17; NJW 2004, S. 780; OLG-NL 2001, S. 70 und S. 214; Zöller/ Vollkommer, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 36 Rdn. 24 f.; Baumbach/Hartmann, ZPO, 63. Aufl. 2005, § 281 Rdn. 48; Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, § 36 Rdn. 23).

3. Zuständig ist das Amtsgericht Hamburg-Hamburg.

Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des Amtsgerichts Nauen vom 24. Juni 2005 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO).

Die Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entfällt nur ausnahmsweise, namentlich bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiver Willkür, die etwa auch dann gegeben sein kann, wenn die Verweisung offenbar gesetzeswidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft erfolgt ist (s. BGHZ Bd. 71, S. 69, 72; Bd. 102, S. 338, 341; BGH NJW 1993, S. 1273; NJW 2002, S. 3634, 3635; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; Senat, aaO.; Zöller/Greger, aaO., § 281 Rdn. 17, 17 a m.w.Nw.; Baumbach/Hartmann, aaO., § 281 Rdn. 39 ff. m.w.Nw.; Thomas/Putzo/Reichold, aaO., § 281 Rdn. 12). So liegt es hier aber nicht. Der Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist beachtet worden. Die Verweisungsentscheidung des Amtsgerichts Nauen erweist sich auch in der Sache selbst nicht schon als geradezu objektiv willkürlich.

Im Interesse an einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen zwischen Gerichten sind an die Annahme einer objektiven Willkür im Allgemeinen strenge Anforderungen zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich für die grundsätzliche Bindungswirkung und Unanfechtbarkeit von - auch: fehlerhaften - Verweisungsbeschlüssen entschieden (§ 281 Abs. 2 Satz 2 und 4 ZPO). Deshalb kann objektive "Willkür" nur unter bestimmten - engen - Voraussetzungen bejaht werden, und zwar dann, wenn die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine Durchbrechung der Bindungswirkung erfordert (s. Senat, NJW 2004, S. 780). Einfache Rechtsfehler genügen daher für die Annahme der Willkür nicht (BGH NJW-RR 1992, S. 902, 903; NJW 1993, S. 1273 und S. 2810; NJW-RR 1994, S. 126; NJW 2003, S. 3201; BayObLGZ 1991, S. 387, 389; BayObLG, NJW-RR 2000, S. 589; NJW-RR 2001, S. 646, 647; Senat, ebd.; Zöller/Greger, aaO., § 281 Rdn. 17; Zöller/Vollkommer, aaO., § 36 Rdn. 28; Musielak/Foerste, ZPO, 4. Aufl. 2005, § 281 Rdn. 17). Dies gilt erst recht für im Ergebnis - noch - vertretbare Entscheidungen. Die Abweichung von einer (bisher) "herrschenden Meinung" oder einer "(fast) einhelligen Ansicht" rechtfertigt für sich allein die Annahme von objektiver Willkür nicht; entscheidend ist, ob die Verweisung im Ergebnis noch "vertretbar" ist (vgl. etwa BGH MDR 2002, S. 1450, 1451; NJW-RR 2002, S. 1498 f.; NJW 2003, S. 3201 f.; BayObLG NJW 2003, S. 1196, 1197; Senat, ebd.; Baumbach/Hartmann, aaO., § 281 Rdn. 39 m.w.Nw.; vgl. auch OLG Hamburg, MDR 2002, S. 1210 f.; Zöller/Greger, aaO., § 281 Rdn. 17; Musielak/Foerste, aaO., § 281 Rdn. 17; Thomas/Putzo/Reichold, aaO., § 281 Rdn. 12). So liegt es hier.

Die Annahme des Amtsgerichts Nauen, wonach die Gerichtsstandsvereinbarung der Parteien (§ 38 Abs. 3 Nr. 1 ZPO) seine örtliche Zuständigkeit in Wegfall gebracht und - auf entsprechenden Antrag der Klägerin - die Verweisung des Rechtsstreits an das als zuständig vereinbarte Amtsgericht Hamburg-Harburg erzwungen habe, erweist sich als - noch - vertretbar.

Nach überwiegender - auch vom Senat geteilter - Ansicht ist eine Gerichtsstandsvereinbarung, die erst nach Eintritt der Rechtshängigkeit geschlossen wird und einen Rechtsstreit betrifft, der bereits vor einem zuständigen Gericht anhängig ist, im Hinblick auf § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO allerdings nicht geeignet, dem bereits befassten Gericht die Zuständigkeit zu nehmen, sodass die Verweisung des Rechtsstreits an das andere, als zuständig vereinbarte Gericht in diesen Fällen nicht in Betracht kommt (s. etwa BGH NJW 1963, S. 585, 586; NJW-RR 1994, S. 126 f.; BayObLGZ 2003, S. 187, 189 f.; BayObLG, Rechtspfleger 2002, S. 629, 630; OLG München, OLGZ 1965, S. 187, 190; OLG Düsseldorf, OLGZ 1976, S. 475, 476 f.; Zöller/ Vollkommer, aaO., § 38 Rdn. 12; Zöller/Greger, aaO., § 261 Rdn. 12; Baumbach/Hartmann, aaO., § 261 Rdn. 28; Thomas/Putzo, aaO., § 38 Rdn. 18; Thomas/Putzo/Reichold, aaO., § 261 Rdn. 16; Musielak/Heinrich, aaO., § 38 Rdn. 6; Musielak/Foerste, aaO., § 261 Rdn. 14; Münch.Komm.-Patzina, ZPO, 2. Aufl. 2000, § 38 Rdn. 35). Diese Ansicht ist jedoch nicht unumstritten. Unter Hinweis auf den Stellenwert der (gemeinschaftlichen) Dispositionsbefugnis der Parteien im Zivilprozess und auf den Wortlaut von § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO ("Veränderung der sie begründenden Umstände" vs. "neue Umstände") neigen einige Stimmen in der Rechtsprechung und im Schrifttum zu der Meinung, dass eine Parteivereinbarung nach § 38 ZPO dem bereits befassten - an sich zuständigen -Gericht die Zuständigkeit nehmen und es verpflichten kann, den Rechtsstreit auf Antrag der Klägerseite an das als zuständig vereinbarte Gericht zu verweisen (s. LG Waldshut-Tiengen, MDR 1985, S. 941; Münch.Komm.-Lüke, ZPO, 2. Aufl. 2002, § 261 Rdn. 93; s. auch OLG Oldenburg, MDR 1962, S. 60 f.; OLG Düsseldorf, NJW 1961, S. 2355, 2356; LG Flensburg, SchlHA 1979, S. 38, 39). Vor diesem Hintergrund beruht die hier streitige Verweisung des Rechtsstreits an das Amtsgericht Hamburg-Harburg auf einer vertretbaren Rechtsauffassung und erscheint somit auch nicht schon geradezu willkürlich (so auch OLG Düsseldorf, OLGZ 1976, S. 475, 476 f.).

Soweit das Bayerische Oberste Landesgericht in der Entscheidung BayObLG Rechtspfleger 2002, S. 629, 630, angedeutet hat, dass es die Verweisung an das als zuständig vereinbarte Gericht in solchen Fällen für willkürlich und daher unwirksam ansehe (so auch Zöller/ Vollkommer, aaO., § 38 Rdn. 12; Musielak/Heinrich, aaO., § 38 Rdn. 6), handelt es sich nicht um eine diese Entscheidung tragende Ansicht, sondern um ein obiter dictum, da im dortigen Fall keine Gerichtsstandsvereinbarung vorlag, sondern nur ein Verweisungsantrag des Klägers und ein dementsprechender "Abgabeantrag" des Beklagten. Daher ist eine Vorlage an den Bundesgerichtshof nach § 36 Abs. 3 ZPO nicht veranlasst.

4. Sonach verbleibt es bei der Zuständigkeit des angewiesenen Amtsgerichts HamburgHarburg.

Ende der Entscheidung

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