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Beginn der Entscheidung

Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 15.05.2007
Aktenzeichen: 11 U 148/06
Rechtsgebiete: AVBGasV, BGB, ZPO


Vorschriften:

AVBGasV § 24
AVBGasV § 30
BGB § 315
BGB § 433 Abs. 1
ZPO § 531 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

11 U 148/06 Brandenburgisches Oberlandesgericht

Anlage zum Protokoll vom 15.05.2007

Verkündet am 15.05.2007

in dem Rechtsstreit

hat der 11. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts durch

den Richter am Oberlandesgericht Hütter, den Richter am Oberlandesgericht Ebling und den Richter am Oberlandesgericht Pliester

auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2007

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das am 13. September 2006 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam (6 O 422/05) bei Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.655,71 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit dem 2. Februar 2005 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen haben die Klägerin zehn Prozent und der Beklagte neunzig Prozent zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Das Urteil beschwert den Beklagten um 8.655,71 €, die Klägerin um 907,49 €.

Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt den Beklagten auf die Begleichung von vier Gasrechnungen in Anspruch. Es geht um einen Verbrauchszeitraum von rund drei Jahren und fünf Monaten. Der Beklagte nutzte den Anschluss zusammen mit drei weiteren Wohngenossen. Alleiniger Vertragspartner der Klägerin ist allerdings er.

Der Anfangszählerstand am 18.12.2000 ist unstreitig; ebenso der Ablesezählerstand vom 19.05.2004, der Grundlage der streitigen Rechnungen geworden ist. Während der Zwischenzeit ist nicht abgelesen worden. In erster Instanz war unstreitig, dass die Klägerin auch nicht den Versuch dazu unternommen. Ihre Abrechnung beruht daher auf der Annahme von Gradtagszahlenwerten, anhand derer sie im Wege der Schätzung die Abrechnungs-Teilzeiträume gegeneinander abgegrenzt hat. Während der Gesamtzeit hat es Erhöhungen der Einzelpreise sowie eine Erhöhung des so genannten Umrechnungsfaktors gegeben.

Der Beklagte hat die Rechnungen als zu seinen Ungunsten falsch beanstandet, insbesondere das Recht der Klägerin zur Vornahme von Schätzungen geleugnet. Darüber hinaus hat er die von ihr einseitig erklärten Strompreiserhöhungen für unangemessen erklärt, ohne dies zu erläutern. Schließlich hat er die Einrede der Verjährung erhoben und Verwirkung eingewendet.

Im Übrigen nimmt der Senat auf den tatbestandlichen Teil sowie die rechtlichen Ausführungen des angefochtenen Urteils Bezug. Die Kammer hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben.

Mit seiner dagegen gerichteten Berufung wiederholt der Beklagte seine in erster Instanz bereits eingenommenen Rechtsstandpunkte.

Er beanstandet, das Landgericht habe nicht geprüft, ob überhaupt die rechtlichen Voraussetzungen für eine Schätzung nach Gradtagszahlenwerten vorgelegen hätten, was verneint werden müsse. Außerdem liege entgegen der Auffassung des Gerichts die Darlegungslast für die Angemessenheit der Strompreise und ihrer Erhöhungen bei der Klägerin. Schließlich verteidigt er seinen Standpunkt, die Forderungen seien verwirkt. Die Einrede der Verjährung wird nicht aufgegriffen. Mit den Ausführungen der Kammer zu diesem Punkt setzt sich die Berufungsbegründung nicht mehr auseinander.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 13.09.2006 (6 O 422/05) abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil.

Erstmals behauptet sie, am 14.05.2001, am 30.05.2002 und am 22.05.2003 habe die R... GmbH, derer sie sich zur Ablesung von Zählern bediene, den Zutritt zu den Räumen des Beklagten nicht erhalten. Die Klägerin macht geltend, damit sei nunmehr die Grundlage für eine Schätzung nach § 24 AVBGasV dargelegt.

Der Beklagte bestreitet den neuen Sachvortrag und rügt ihn als verspätet.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteienvorbringens nimmt der Senat ergänzend auf den Inhalt der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

III.

In der Sache hat das Rechtsmittel einen nur verhältnismäßig geringen Teilerfolg, nämlich im Umfang von 907,49 €. Den überwiegenden Restbetrag schuldet der Beklagte der Klägerin nach § 433 Abs. 1 BGB als vereinbarten Kaufpreis für an ihn geliefertes Gas.

1.

Allerdings ist die Klageforderung nicht vollständig schlüssig dargelegt worden. Es ist Sache der Klägerin vorzutragen, dass der Beklagte das Gas, dessen Bezahlung sie verlangt, an jedem der abgerechneten Tage zu dem gerade dann aktuell gewesenen Tagespreis abgenommen habe.

Sie stützt sich dabei auf die Vorschrift des § 24 AVBGasV.

Im Falle zeitnaher Ablesung entsprechend dem Abrechnungsturnus hilft dem Versorger bei zwischenzeitlicher Preisänderung das in der Rechtsprechung nicht beanstandete Instrument des Gradtagszahlensystems.

Ebenso ist es dann, wenn der Verbraucher die Ablesung nicht ermöglicht oder wenn ihr andere nicht mit zumutbarem Aufwand zu überwindende Hindernisse entgegenstehen. Beides sind Fälle einer Schätzung.

Zutreffend ist indessen der Berufungsangriff des Beklagten, das Landgericht habe die Voraussetzungen der Anwendung des § 24 AVBGasV zu Unrecht bejaht.

Abgelesen hat die Klägerin unstreitig erstmals am 19.05.2004. Dass ihr dies vorher während des Verbrauchszeitraums nicht möglich gewesen sei und wieso nicht, hat sie erstinstanzlich nicht vorgetragen, obwohl sie dazu Anlass hatte. Denn der Beklagte hat - ungeachtet des Schweigens der Klägerin zu diesem Punkt - ausdrücklich in Abrede gestellt, dass es überhaupt frühere Versuche gegeben habe, die Zählerstände abzulesen.

Erstmals in dem Schriftsatz vom 30.03.2007 trägt die Klägerin dazu etwas vor. Auf Ziffer 1. der Gründe wird Bezug genommen. Allerdings kann ihr neues Vorbringen, das vom Beklagten bestritten wird, keine Berücksichtigung mehr finden. Die Voraussetzungen einer Zulassung nach § 531 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben. Dass die Kammer auf den Schlüssigkeitsmangel nicht hingewiesen hat, ist angesichts der ausdrücklichen Rüge des Prozessgegners unschädlich. Die Klägerin hat auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen der Vortrag in erster Instanz unterlassen worden ist und dass dies nicht auf eigener Nachlässigkeit oder der ihres Prozessbevollmächtigten beruhte. Es ist daher ausschließlich auf der Tatsachengrundlage erster Instanz zu entscheiden.

Damit scheidet eine Anwendung des § 24 AVBGasV im Streitfall aus mit der Folge, dass eine Schätzung nicht stattfindet, auch nicht, was die Abgrenzung einzelner Verbrauchszeiträume voneinander angeht. Ergebnis ist, dass die Klägerin lediglich schlüssig vorgetragen hat: Die Differenz zwischen dem Anfangszählerstand vom 18.12.2000 einerseits und dem Ablesezählerstand vom 19.05.2004 andererseits. Das sind 19.072.00 Einheiten. Sodann den niedrigsten Umrechnungsfaktor 10,905 (ab dem 01.01.2004 betrug er 11,073). Dies ergibt 207.980,16 kWh.

Schließlich den niedrigsten der veranschlagten Einheitspreise, zugleich den anfänglichen Einheitspreis, nämlich 0,03732 €.

Das führt zu einer schlüssigen Rechnungssumme von 7.461,82 € netto. Einschließlich der Umsatzsteuer in Höhe von 16 % (1.193,89 €) ergibt das den Endbetrag von 8.655,71 €.

2.

Mit der Geltendmachung des verlangten Einheitspreises scheitert die Klägerin nicht bereits daran, wie der Beklagte meint, dass sie die Preiserhöhung nicht schlüssig vorgetragen habe. Zutreffend ist, dass bei Anwendung des § 315 BGB der bestimmende Vertragsteil grundsätzlich die Angemessenheit seiner Bestimmung darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen hat. Indessen gilt im Streitfall vorrangig die Sonderbestimmung des § 30 AVBGasV, auf die bereits das Landgericht zutreffend hingewiesen hat.

Danach berechtigen Einwände des Abnehmers gegen Rechnungen des Energieversorgers zum Zahlungsaufschub oder zur Zahlungsverweigerung nur insoweit, als sich aus den Umständen ergibt, dass offensichtliche Fehler bei der Verbrauchswerteerfassung vorliegen. Mit allen anderen Angriffen ist der Verbraucher auf einen etwa von ihm zu betreibenden Rückforderungsprozess zu verweisen. Dass diese Regelung des Verordnungsgebers angesichts der Anschluss- und Vorleistungspflicht des Energieversorgers interessengerecht und wirksam ist, liegt auf der Hand und wird von der Rechtsprechung nicht in Frage gestellt.

Zutreffend verweist der Beklagte darauf, dass § 30 AVBGasV den Verbraucher auch im Falle der Forderungsklage des Energieversorgers nicht mit solchen Einwänden ausschließt, die in allgemeinen bürgerlichrechtlichen Grundsätzen verwurzelt sind wie etwa der der Verwirkung (§ 242 BGB).

Indessen wird dabei verkannt, dass die Vorschrift auch den Einwand erfasst, der Energielieferant habe die Preise unzutreffend gestaltet. Damit kann der Verbraucher erst zur Begründung einer Rückforderung der zunächst geschuldeten Zahlung gehört werden. Die Entscheidung des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg (NJW-RR 1988, 1518 ff.) verdient insoweit Zustimmung.

3.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist der Anspruch der Klägerin nicht verwirkt.

Auch in diesem Punkt schließt sich der Senat den Ausführungen der Kammer an. Ob, wie der Beklagte - leugnend - geltend macht, das sog. Zeitmoment gegeben ist oder nicht, kann offen bleiben. Denn es fehlt jedenfalls an dem sog. Umstandsmoment, somit der weiteren Voraussetzung für eine Verwirkung.

Ein berechtigtes Vertrauen des Beklagten darin, dass die Klägerin das von ihm unstreitig verbrauchte Gas nicht abrechnen werde, hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Das hat auch das Landgericht zutreffend angenommen.

Eine Verwirkung des Anspruchs des Versorgungsunternehmens auf die Bezahlung in Anspruch genommener Lieferungen kommt selbst bei lange unterlassener Rechnungsstellung nicht in Betracht. Denn der Bezieher von Energie hat bei jahrelang nicht erfasstem Verbrauch im Regelfall nach einiger Zeit Kenntnis davon, dass ein Organisationsfehler des Unternehmens vorliegt, wenn ihm keine Rechnungen zugehen (vgl. OLG Düsseldorf, Recht der Energie 1991, 214; NJW-RR 1987, 945). Zumindest muss sich dem Kunden in einem solchen Fall das Vorliegen eines Organisationsfehlers aufdrängen (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Im Streitfall kommt noch hinzu, dass der Beklagte während eines mehrere Jahre währenden Zeitraums nicht einmal Abschlagsrechnungen der Klägerin erhalten hat, was äußerst ungewöhnlich ist, seiner Aufmerksamkeit also nicht entgangen sein kann und seine Gewissheit, dass eines Tages eine Forderung der Klägerin auf ihn zukommen werde, nur noch verfestigen konnte. Dem Beklagten gelingt es nicht, das in der Berufungsbegründung zu widerlegen. In diesem Zusammenhang kommt es entgegen seiner Argumentation gerade nicht darauf an, ob die Klägerin, wie er behauptet, jederzeit Gelegenheit hatte, den tatsächlichen Gasverbrauch durch zeitnahes Ablesen zu erfassen, davon aber keinen Gebrauch machte. Das Recht, später dennoch abzulesen, hat sie damit ganz sicher nicht "verwirkt", geschweige denn das Recht, verbrauchtes Gas ihrem Kunden, dem Beklagten, in Rechnung zu stellen.

Anders könnte es in dem - hier nicht zu entscheidenden - Fall liegen, dass etwa die Klägerin zeitnah und turnusgemäß abgelesen, es aber versäumt hätte, lediglich die die Abschlagszahlungen übersteigende Mehrforderung rechtzeitig geltend zu machen. Dann käme ein Umstandsmoment, entsprechenden Beklagtenvortrag vorausgesetzt, in Betracht mit der Folge eines teilweisen oder vollständigen Anspruchsverlustes.

4.

Den Eintritt der Forderungsverjährung hat das Landgericht zutreffend verneint. Sie konnte nicht vor der Fälligkeit der mit der Klage geltend gemachten Nachforderung beginnen. Die entsprechenden Rechtsausführungen des angefochtenen Urteils greift der Beklagte bei der Begründung seiner Berufung nicht an. Auch insoweit bleibt es daher bei der Entscheidung erster Instanz.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben. Die Entscheidung beruht auf der Bewertung der Umstände des Streitfalls, hat also keine grundsätzliche Bedeutung. Auch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Der Senat befindet sich vielmehr bei der Begründung seines Urteils - auch und insbesondere zur Frage der Verwirkung - im Einklang sowohl mit der höchstrichterlichen als auch der übrigen obergerichtlichen Rechtssprechung.

Ende der Entscheidung

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