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Gericht: Brandenburgisches Oberlandesgericht
Urteil verkündet am 28.06.2007
Aktenzeichen: 12 U 209/06
Rechtsgebiete: StVG, BGB, StVO, PflVG, StVG


Vorschriften:

StVG § 7 Abs. 1
StVG § 17
StVG § 18 Abs. 1 S. 1
BGB § 253 Abs. 2
BGB § 823 Abs. 2
StVO § 4 Abs. 1 S. 1
StVO § 4 Abs. 1 S. 2
StVO § 29 Abs. 1
StVO § 41 Abs. 3 Nr. 3
PflVG § 3 Nr. 1
StVG § 17
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht Im Namen des Volkes Urteil

12 U 209/06 Brandenburgisches Oberlandesgericht

Anlage zum Protokoll vom 28.06.2007

Verkündet am 28.06.2007

In dem Rechtsstreit

hat der 12. Zivilsenat des Brandenburgischen Oberlandesgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 07.06.2007 durch

den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Pastewski, den Richter am Oberlandesgericht Beckmann und die Richterin am Landgericht Kyrieleis

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 29.09.2006 verkündete Urteil der 7. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Frankfurt (Oder), Az. 17 O 289/05, wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagten aufgrund des Verkehrsunfalls vom 15.08.2004 keine anteiligen Schadensersatzansprüche.

Bei Zugrundelegung des klägerischen Vortrags, wonach der Beklagte zu 1) wegen eines Geschwindigkeitsmessgerätes plötzlich abrupt bremste, kommt allerdings grundsätzlich eine Mithaftung der Beklagten aus §§ 7 Abs.1, 17, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, 253 Abs. 2, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, 3 Nr. 1 PflVG in Betracht.

Zunächst ist das Landgericht zutreffend von einer Haftung des Klägers gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 StVO ausgegangen. Nach dieser Vorschrift muss der Abstand von einem vorausfahrenden Fahrzeug in der Regel so groß sein, dass auch dann hinter ihm angehalten werden kann, wenn es plötzlich gebremst wird. Wer auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm; dafür spricht der Anschein auch dann, wenn der Vorausfahrende bremsen musste. Der Anscheinsbeweis erstreckt sich aber nicht auf eine etwaige Schuldverteilung, insbesondere nicht auf eine Alleinschuld des Auffahrenden (OLG Naumburg, NZV 1995, 73; OLG Karlsruhe, VRS 77, 100; KG, VM 1983, 13; OLG Köln, VersR 1976, 670). Der Anscheinsbeweis wird erschüttert durch die vom Auffahrenden zu beweisende Möglichkeit eines atypischen Verlaufs (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 4 StVO Rn 17, 18). Dafür reicht es allerdings nicht aus, ein Abbremsen des Vorausfahrenden nachzuweisen, weil der Hintermann auch im Fall einer scharfen Bremsung grundsätzlich in der Lage sein muss, rechtzeitig anzuhalten (OLG Düsseldorf, VersR 1976, 545). Der Vortrag des Klägers, er habe den erforderlichen Sicherheitsabstand (nur) aufgrund der Bremsung des Beklagten zu 1) nicht wahren können, kann den gegen ihn sprechenden Anschein demnach nicht entkräften.

Ein Alleinverschulden des Klägers könnte dann nicht angenommen werden, wenn der Beklagte zu 1) seinerseits gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen hätte, weil er ohne zwingenden Grund stark bremste. In diesem Fall wäre die von seinem Fahrzeug ausgehende erhöhte Betriebsgefahr im Rahmen einer Haftungsabwägung nach § 17 StVG zu berücksichtigen. Bei einem Auffahrunfall trifft den Auffahrenden die Beweislast, dass der Vordermann grundlos gebremst hat (Schurig, StVO, 10. Aufl., § 4 Anm. 2.2). Ein zwingender Grund liegt nur bei plötzlicher Gefahr vor, wenn also andernfalls andere oder der Bremsende selbst gefährdet oder geschädigt werden könnten (Hentschel, aaO, § 4 StVO Rn 11). Während der Anblick eines Geschwindigkeitsmessgerätes demnach keinen zwingenden Grund zum Bremsen liefert, könnte ein auf die Fahrbahn laufender Fuchs jedenfalls für einen Motorradfahrer eine plötzliche Gefahr darstellen, die zur Vermeidung eines Sturzes zum starken Abbremsen berechtigt.

Der Grund für das Bremsen des Beklagten zu 1) braucht jedoch nicht geklärt zu werden. Der Umstand, dass der Kläger und der Beklagte zu 1) Teil eines Motorradpulks waren, führt nämlich unter den Umständen des Streitfalls zur Annahme eines wechselseitigen Haftungsverzichts für die geltend gemachten Schäden.

Wie auch der Kläger nunmehr nicht in Abrede stellt, gehörte zu der verabredeten Fahrt auch die erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Dass die Einhaltung der Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung für die Teilnehmer der Fahrt nicht im Vordergrund stand, ergibt sich auch aus der unstreitigen Tatsache, dass sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1) kurz vor dem Unfall verbotswidrig unter Missachtung von Zeichen 295 zu § 41 Abs. 3 Nr. 3 StVO einen Pkw überholt hatten. Dass die Fahrt den Charakter eines Rennens i.S.v. § 29 Abs. 1 StVO gehabt hätte, kann zwar nicht festgestellt werden, denn das würde voraussetzen, dass es nach den verabredeten Regeln um eine Siegerermittlung ging (Hentschel a.a.O. § 29 StVO Rn 2); wofür Anhaltspunkte weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind. Beide Parteien stellen jedoch nicht in Abrede, dass es während der Fahrt vereinbarungsgemäß zu signifikanten Geschwindigkeitsüberschreitungen kommen sollte; unstreitig ist ferner, dass die Motorradfahrer in "versetzter" Formation im Pulk fahren wollten. Danach ist - ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu Sportveranstaltungen - ein stillschweigender Haftungsausschluss anzunehmen. Bei sportlichen Wettbewerben mit nicht unerheblichem Gefahrenpotential, bei denen typischerweise auch bei Einhaltung der Wettbewerbsregeln oder geringfügiger Regelverletzung die Gefahr gegenseitiger Schadenszufügung besteht, ist die Inanspruchnahme des schädigenden Wettbewerbers für solche Schäden eines Mitbewerbers ausgeschlossen, die er ohne gewichtige Regelverletzung im Sinne grober Fahrlässigkeit verursacht (BGH NJW 2003, 2018 [Autorennen]). Ob die Einschränkung der Haftung dogmatisch unter dem Gesichtspunkt eines eingeschränkten Fahrlässigkeitsmaßstabes, einer Einwilligung, eines Haftungsverzichts oder -ausschlusses, des Handelns auf eigene Gefahr oder der treuwidrigen Inanspruchnahme des Mitbewerbers einzuordnen ist, ist höchstrichterlich nicht entschieden (zum Streitstand: BGH NJW aaO Rn 21) und muss auch im Streitfall nicht geklärt werden. Jedenfalls lässt das Verbot des venire contra factum proprium (§ 242 BGB) es nicht zu, dass der Geschädigte den beklagten Schädiger in Anspruch nimmt, wenn er, bei getauschten Positionen, ebensogut in die Lage hätte kommen können, in der sich nun der Beklagte befindet (BGHZ 63, 140 [Fußballspielverletzung]; BGH NJW 2003, 2018 [Autorennen]). Wird die allgemeine Gefahr, die mit der gemeinsamen sportlichen Betätigung verbunden war, von den Beteiligten bewusst auf sich genommen und kann zusätzlich dem einen kein größerer Vorwurf gemacht werden als dem anderen, so besteht keine Veranlassung, den einen mit höheren Haftungsrisiken zu belasten als den anderen (OLG Celle, VersR 1980, 874).

Diese ursprünglich für sportliche Wettkämpfe entwickelten Grundsätze finden nach obergerichtlicher Rechtsprechung auch außerhalb des Bereichs sportlicher Kampfspiele Anwendung, etwa beim Motorrad-Motorsport (OLG Celle, VersR 1980, 874) oder organisierten Radtouristikfahrten (OLG Stuttgart, Urteil v. 14.02.2006, Az. 1 U 106/05, zitiert nach juris; weitere Nachweise in BGH NJW 2003, 2018). Im Streitfall war das verabredungsgemäße Fahren im "Pulk" deshalb besonders gefahrenträchtig, weil damit notwendig und für die Beteiligten erkennbar der weitgehende Verzicht auf die von der StVO vorgeschriebenen Sicherheitsabstände zum Vorder- und Nebenmann einherging. Dies bedeutet aber zugleich die Inkaufnahme der damit unweigerlich verbundenen erhöhten Sturzrisiken, die auch bei erhöhter Aufmerksamkeit der Fahrer nie auszuschließen sind, weil jederzeit Verkehrssituationen auftreten können, auf die mit plötzlichen Richtungswechseln oder abrupten Bremsmanövern reagiert werden muss (OLG Stuttgart aaO [Radsport]).

Eine Beweisaufnahme zum Anlass des Bremsens des Beklagten zu 1) war nicht veranlasst, weil auch bei Zugrundlegung des klägerischen Vortrags kein erheblicher Verstoß gegen - gegebenenfalls stillschweigend getroffene - Abreden der Motorradfahrer ersichtlich ist. Wenn der Beklagte zu 1), wie er behauptet, wegen eines Fuchses auf der Fahrbahn gebremst hätte, wäre aus den oben genannten Gründen kein Raum für die Annahme pflichtwidrigen Verhaltens. Aber auch wenn er angesichts der Geschwindigkeitskontrolle stark abgebremst hätte, könnte im nicht der Vorwurf grob fahrlässigen, abredewidrigen Verhaltens gemacht werden. Dass Kraftfahrer angesichts derartiger Messeinrichtungen, die oft erst durch das "Blitzen" Vorausfahrender erkannt werden, häufig unwillkürlich bremsen, selbst wenn sie die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschreiten, entspricht der Lebenserfahrung. Das gilt in gesteigertem Maße für Kraftfahrer, denen bewusst ist, erheblich zu schnell zu fahren; durch starkes Abbremsen soll der Versuch unternommen werden, die gemessene Geschwindigkeitsüberschreitung möglichst gering zu halten.

Bei dieser Sachlage war es jedenfalls nicht grob fahrlässig, wenn der Beklagte zu 1) als Teilnehmer der Fahrt angesichts eines Geschwindigkeitsmessgerätes erschrak, stark abbremste und infolgedessen den Fahrtweg des nachfolgenden Klägers vorübergehend schnitt. Ein "Erschrecken" kann als unwillkürliches Verhalten schon begrifflich nicht als Regelverletzung angesehen werden. Wäre der Kläger in diesem Moment vorausgefahren, hätte er ebenso in die Situation kommen können, durch das Aufblitzen des Messgerätes erschreckt zu werden. Es kann auch nicht angenommen werden, dass die vier Motorradfahrer vor Fahrtantritt (stillschweigend) vereinbart hätten, im Fall von Geschwindigkeitskontrollen mit unverminderter Geschwindigkeit weiterzufahren. Gerade weil die Geschwindigkeitsüberschreitung von vornherein beabsichtigt war und die Fahrt auf öffentlichem und damit gelegentlich verkehrsüberwachtem Straßenland stattfand, ist vielmehr davon auszugehen, dass die Teilnehmer die Feststellung sanktionierter Verkehrsverstöße möglichst vermeiden wollten und deshalb damit einverstanden waren, dass in diesem Fall gebremst wird. Wenn ein Teilnehmer der Fahrt wegen eines "Blitzers" erschrickt und deshalb kurzzeitig die Kontrolle über sein Kraftfahrzeug verliert, ist das nicht überraschend; für den Nachfolgenden realisiert sich dann genau das Risiko, das er mit dem dichten Auffahren bei hoher Geschwindigkeit bewusst eingegangen ist.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 S. 1, 713 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Ende der Entscheidung

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