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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesarbeitsgericht
Beschluss verkündet am 22.10.1999
Aktenzeichen: 5 AZB 21/99
Rechtsgebiete: GVG, ZPO, GG


Vorschriften:

GVG § 17 a Abs. 4
ZPO § 577 Abs. 2
ZPO § 577 Abs. 3
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsätze:

1. Hat das Beschwerdegericht im Rechtswegbestimmungsverfahren die weitere sofortige Beschwerde nicht zugelassen, so kommen diese oder eine gesonderte Nichtzulassungsbeschwerde als außerordentliche Rechtsbehelfe auch dann nicht in Betracht, wenn die Entscheidung des Beschwerdegerichts gegen ein Verfahrensgrundrecht verstößt.

2. Auch unter dem Gesichtspunkt einer "greifbaren Gesetzwidrigkeit" gilt jedenfalls so lange nichts anderes, wie eine einfachere Korrektur der Entscheidung des Beschwerdegerichts möglich ist.

3. Eine solche Möglichkeit besteht darin, daß das Beschwerdegericht seine Entscheidung ungeachtet der Vorschrift des § 577 Abs. 3 ZPO selbst überprüft (im Anschluß an BGHZ 130, 97; BGH ZIP 1997, 1757).

Aktenzeichen: 5 AZB 21/99 Bundesarbeitsgericht 5. Senat Beschluß vom 22. Oktober 1999 - 5 AZB 21/99 -

I. Arbeitsgericht Ludwigshafen - 2 Ca 2731/98 - Beschluß vom 14. Oktober 1998

II. Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz - 6 (7) Ta 213/98 - Beschluß vom 7. Mai 1999


Für die Amtliche Sammlung: Nein Für die Fachpresse: Ja Für das Bundesarchiv: Nein

Entscheidungsstichwort: Außerordentlicher Rechtsbehelf wegen "greifbarer Gesetzwidrigkeit"

Gesetz: GVG § 17 a Abs. 4; ZPO § 577 Abs. 2, Abs. 3; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1

5 AZB 21/99 6 (7) Ta 213/98 Rheinland-Pfalz

Beschluß

In Sachen

pp.

hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 22. Oktober 1999 beschlossen:

Tenor:

1. Der außerordentliche Rechtsbehelf des Klägers gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. Mai 1999 - 6 (7) Ta 213/98 - wird als unzulässig verworfen.

2. Dem Landesarbeitsgericht wird Gelegenheit gegeben, seine Entscheidung vom 7. Mai 1999 zu überprüfen.

3. Kosten für die Anrufung des Bundesarbeitsgerichts werden nicht erhoben.

4. Der Wert des Verfahrens vor dem Bundesarbeitsgericht wird auf 5.000,00 DM festgesetzt.

Gründe

I. Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche des Klägers.

Die Beklagte plant und errichtet Messestände. Sie beschäftigt fünfzehn Mitarbeiter. Der Kläger war vom 1. Februar 1993 bis zum 31. Juli 1998 auf der Grundlage eines "Vertrages über freie Mitarbeit" als Innenarchitekt für sie tätig. Mit seiner vor dem Arbeitsgericht erhobenen Klage begehrt er die Feststellung, er sei Arbeitnehmer der Beklagten gewesen. Zugleich verlangt er Vergütung für die Zeit vom 3. September 1997 bis zum 22. April 1998 in Höhe von 51.920,00 DM brutto.

Das Arbeitsgericht hat die Anträge in zwei selbständige Verfahren getrennt. Die Feststellungsklage hat es abgewiesen. Für das Zahlungsverfahren hat es mit einem am 14. Oktober 1998 verkündeten Beschluß den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen als nicht eröffnet erklärt. Dagegen hat der Kläger am 9. November 1998 sofortige Beschwerde eingelegt. Am 11. Januar 1999 ist ihm die mit Gründen versehene Beschlußausfertigung zugestellt worden. Mit einem am 27. Januar 1999 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz hat er seine Beschwerde begründet. Mit Beschluß vom 7. Mai 1999 - dem Kläger eine Woche später zugestellt - hat das Landesarbeitsgericht die Beschwerde als unzulässig verworfen. Die weitere sofortige Beschwerde hat es nicht zugelassen.

Gegen diesen Beschluß hat der Kläger am 25. Mai 1999 beim Bundesarbeitsgericht "eine außerordentliche Nichtzulassungsbeschwerde und eine weitere sofortige Beschwerde gem. § 17 a Abs. 4 GVG" eingelegt. Er macht geltend, der Beschluß des Landesarbeitsgerichts beruhe auf "greifbarer Gesetzwidrigkeit".

II. Die Beschwerden des Klägers haben keinen Erfolg. Eine Aufhebung des angefochtenen Beschlusses durch das Bundesarbeitsgericht kommt nicht in Betracht. Stattdessen ist dem Landesarbeitsgericht selbst die Möglichkeit einer Überprüfung zu geben.

1. Das Begehren des Klägers bedarf der Klarstellung. Der Kläger hat eine außerordentliche Nichtzulassungsbeschwerde erhoben und zugleich eine weitere sofortige Beschwerde eingelegt. Formal sind beide voneinander unabhängig. Der Kläger hat aber nur einen förmlichen Antrag gestellt. Dieser ist darauf gerichtet, die Beschlüsse der Vorinstanzen abzuändern. und den Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen für zulässig zu erklären. Das Begehren des Klägers ist deshalb dahin auszulegen, daß er in Wirklichkeit eine einheitliche außerordentliche Beschwerde erhoben und mit dieser einen Haupt- und einen Hilfsantrag verbunden hat. Sein Hauptanliegen entspricht dem förmlich gestellten Antrag; hilfsweise beantragt er, die weitere Beschwerde gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts zuzulassen.

2. Die Beschwerde ist mit beiden Anträgen unzulässig.

a) Der Hauptantrag entspricht dem Gegenstand einer weiteren sofortigen Beschwerde. Gemäß § 17 a Abs. 4 GVG ist die weitere sofortige Beschwerde gegen einen Beschluß des Landesarbeitsgericht im Rechtswegbestimmungsverfahren nur gegeben, wenn sie vom Landesarbeitsgericht zugelassen wurde. Das ist nicht der Fall.

b) Der Hilfsantrag ist ebenfalls unzulässig. Die Möglichkeit, die Nichtzulassung der weiteren sofortigen Beschwerde in einem selbständigen Beschwerdeverfahren anzugreifen, ist im Gesetz nicht vorgesehen (BAG 22. Februar 1994 - 10 AZB 4/94 - AP ArbGG 1979 § 78 Nr. 2).

3. Die Beschwerde ist auch als außerordentlicher Rechtsbehelf nicht zulässig. Die Zulässigkeit ergibt sich weder aus einer Grundrechtsverletzung noch unter dem Gesichtspunkt einer "greifbaren Gesetzwidrigkeit".

a) Allerdings verstößt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts gegen das Gesetz. Der Kläger hat gegen den Beschluß des Arbeitsgerichts vom 14. Oktober 1998 am 9. November 1998 sofortige Beschwerde eingelegt. Zu diesem Zeitpunkt war der Beschluß, weil er verkündet worden war, bereits wirksam, § 329 Abs. 1 ZPO. Daß er noch nicht zugestellt worden war, macht die sofortige Beschwerde nicht unzulässig. Ist ein Beschluß verkündet worden, kann die Beschwerde schon vor seiner Zustellung eingelegt werden (herrschende Meinung, vgl. RGZ 50, 347, 352; BGHR ZPO § 577 Abs. 2 Satz 1 Zustellung 1; MünchKomm ZPO-Braun § 577 Rn. 3; Musielak/Ball, ZPO § 577 Rn. 6; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 57. Aufl., § 567 Rn. 8, 9, § 17 a GVG Rn. 13; Zöller-Gummer, ZPO, 21. Aufl., § 577 Rn. 11, § 567 Rn. 14). Es ist nicht erforderlich, daß die sofortige Beschwerde innerhalb von zwei Wochen nach Verkündung eingelegt wird. Die Verkündung setzt keine Frist in Gang. Die Frist des § 577 Abs. 2 ZPO beginnt erst mit Zustellung der Entscheidung. Sie ist durch eine bereits zuvor erhobene Beschwerde ohne weiteres gewahrt. Eine weitere gesetzliche Frist, etwa zur Begründung der sofortigen Beschwerde, läuft nicht. Das Landesarbeitsgericht hätte die Beschwerde vom 9. November 1998 darum nicht als unzulässig verwerfen dürfen.

b) Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts zudem beruht auf Willkür, da sie bei verständiger Würdigung schlechterdings nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. dazu BVerfGE 67, 90, 94; 29, 45, 49; BGH NJW 1992, 983, 984; BVerwG NJW 1988, 722; Winter, Richterliche Willkür, Festschrift für Franz Merz, S. 611 ff.). Dies hat das Bundesverfassungsgericht angenommen, wenn etwa die gerichtliche Auslegung einfachen Gesetzesrechts ohne Begründung vom eindeutigen Wortlaut der Vorschrift und dessen einhelliger Auslegung durch Rechtsprechung und Schrifttum abweicht (BVerfGE 71, 122). Das ist hier der Fall. Für die Ansicht des Landesarbeitsgerichts gibt es keine objektiv nachvollziehbaren Gründe. Das Gericht hat sich in den Gründen seiner Entscheidung mit dem Fristbeginn nach § 577 Abs. 2 ZPO und der Möglichkeit einer Fristwahrung durch einen vor Fristbeginn eingelegten Rechtsbehelf in keiner Weise auseinandergesetzt. Es ist nicht zu erkennen, welche Erwägungen seiner Ansicht zugrundeliegen. Der Beschluß vom 7. Mai 1999 ist schlechthin unverständlich. Er verletzt den Kläger in seinem Grundrecht auf ein willkürfreies, faires Verfahren aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Ob außerdem sein Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt ist, kann dahinstehen.

c) Gleichwohl ist die Beschwerde unzulässig. Auch ein Verstoß gegen Verfahrensgrundrechte reicht für die Zulassung eines gesetzlich nicht vorgesehenen Rechtsbehelfs nach herrschender Meinung nicht aus (BVerfGE 60, 96, 98; BAG 21. April 1998 - 2 AZB 4/98 - AP ArbGG 1979 § 78 Nr. 5; BGH ZIP 1997, 1757; BGHZ 130, 97,99). Um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt es sich auch dann, wenn das Gesetz die Möglichkeit der weiteren sofortigen Beschwerde zwar vorsieht, sie aber von der Zulassung durch das erste Beschwerdegericht abhängig macht.

Ob und unter welchen Voraussetzungen statt dessen die Zulassung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs wegen "greifbarer Gesetzwidrigkeit" in Frage kommt, kann im Streitfall dahinstehen. Für einen solchen Rechtsbehelf besteht zumindest so lange kein Bedürfnis, wie eine Korrektur der angegriffenen Entscheidung auf einem Wege möglich ist, der weniger stark in das gesetzliche Rechtsmittelsystem eingreift. Eine solche Korrekturmöglichkeit besteht.

4. Das Bundesverfassungsgericht hat die Fachgerichte wiederholt dazu angehalten, durch eine grundrechtlich orientierte Handhabung der Prozeßvorschriften dafür Sorge zu tragen, daß in ihrem Verfahren eingetretene Grundrechtsverstöße ohne den Umweg über eine Verfassungsbeschwerde ausgeräumt werden (BVerfGE 49, 252, 259; BVerfG NJW 1997, 1301; vgl. auch Schneider, MDR 1997, 991, 993; Pawlowski, Zu den "außerordentlichen Beschwerden" wegen "greifbarer Gesetzeswidrigkeit", Festschrift für Egon Schneider, S. 39, 60 ff.). Diese Auffassung hat der Bundesgerichtshof in jüngerer Zeit in der Weise aufgegriffen, daß er eine Bindungswirkung von Beschlüssen, die unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG oder den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip ergangen sind, auch bei entsprechender Geltung von § 318 ZPO verneint und so die Möglichkeit einer Selbstkorrektur durch den iudex a quo eröffnet (BGH ZIP 1997, 1757; BGHZ 130, 97, 99; BGH NJW 1995, 403; dazu näher G. Kreft, "Greifbare Gesetzwidrigkeit", Festgabe für Karin Graßhof, S. 185 ff.).

Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an. Sie läßt sich auf den vorliegenden Fall eines Willkürverstoßes ohne weiteres übertragen. Sie beruht im übrigen auf Erwägungen, die auch das Bundesarbeitsgericht im Zusammenhang mit der Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen nach § 281 ZPO, § 17 a GVG seit Jahren anwendet (vgl. nur BAG 29. September 1976 - 5 AR 232/67 - AP ZPO § 36 Nr. 20; BAG 1. Juli 1992 - 5 AS 4/92 - BAGE 70, 374).

Dem Landesarbeitsgericht ist darum Gelegenheit zu geben, ungeachtet der Vorschrift des § 577 Abs. 3 ZPO seinen Beschluß vom 7. Mai 1999 zu überprüfen und ggf. zu korrigieren.

Ende der Entscheidung

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