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Gericht: Bundesarbeitsgericht
Beschluss verkündet am 20.10.2004
Aktenzeichen: 5 AZB 37/04
Rechtsgebiete: ArbGG, ZPO, GG
Vorschriften:
ArbGG § 66 Abs. 1 Satz 5 | |
ZPO § 85 Abs. 2 | |
ZPO § 233 | |
GG Art. 19 Abs. 4 |
BUNDESARBEITSGERICHT BESCHLUSS
In Sachen
Tenor:
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 10. Mai 2004 - 10 Sa 519/04 - aufgehoben.
2. Dem Kläger wird wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
3. Im Übrigen wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Gründe:
A. Die Parteien streiten über die Zahlung von Arbeitsentgelt.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Gegen das ihm am 29. Januar 2004 zugestellte Urteil hat der Kläger am Montag, dem 1. März 2004, Berufung eingelegt. Mit einem am 29. März 2004 um 23.26 Uhr beim Landesarbeitsgericht per Telefax eingegangenen Schriftsatz vom selben Tag hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist um einen Monat beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, der bisherige Zeitraum sei auf Grund seiner starken Arbeitsüberlastung nicht ausreichend gewesen, was er anwaltlich versichere. Das Landesarbeitsgericht hat den Fristverlängerungsantrag durch Beschluss vom 1. April 2004 zurückgewiesen. Die Begründung des Antrags lasse nicht ausreichend erkennen, dass die angeführten Gründe erheblich seien. Für den Bereich des Landesarbeitsgerichts Berlin sei bekannt, dass derartige Anträge zurückgewiesen werden könnten. Eine Ergänzung der Begründung - ggf. nach Hinweis des Vorsitzenden - sei nicht möglich gewesen, weil der Antrag erst am letzten Tag des Fristablaufs eingegangen sei.
Mit Schriftsatz vom 16. April 2004, der am selben Tag um 23.25 Uhr per Telefax beim Landesarbeitsgericht eingegangen ist, hat der Kläger wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zugleich die Berufung begründet. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat er vorgetragen, sein Prozessbevollmächtigter habe darauf vertrauen dürfen, dass die zur Begründung des Fristverlängerungsantrags angeführte und durch anwaltliche Versicherung glaubhaft gemachte starke Arbeitsüberlastung als erheblicher Grund für die Fristverlängerung angesehen werden würde.
Der Kläger hat beantragt,
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung durch Beschluss als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Rechtsbeschwerde des Klägers.
B. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zu Unrecht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen. Dem Kläger ist wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
I. Der am 16. April 2004 beim Landesarbeitsgericht eingegangene Wiedereinsetzungsantrag des Klägers ist zulässig. Er ist innerhalb der Antragsfrist von zwei Wochen (§ 234 Abs. 1 ZPO) beim Landesarbeitsgericht eingegangen. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hatte frühestens am 3. April 2004 Kenntnis von der nicht gewährten Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist. Mit dem Wiedereinsetzungsantrag hat der Kläger die Berufung begründet (§ 236 Abs. 2 ZPO).
II. Der Wiedereinsetzungsantrag ist begründet. Der Kläger war ohne eigenes Verschulden oder ihm zurechenbares Verschulden seines Prozessbevollmächtigten (§ 85 Abs. 2 ZPO) verhindert, die versäumte Frist einzuhalten (§ 233 ZPO).
1. Grundsätzlich kann der Rechtsmittelführer im Wiedereinsetzungsverfahren nicht mit Erfolg geltend machen, er habe mit der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist durch den Vorsitzenden rechnen dürfen. Er ist vielmehr mit dem Risiko belastet, dass der Vorsitzende in Ausübung des ihm gemäß § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG eingeräumten pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist versagt (BAG 27. September 1994 - 2 AZB 18/94 - BAGE 78, 68; 4. Februar 1994 - 8 AZB 16/93 - BAGE 75, 350; BGH 14. Februar 1991 - VII ZB 8/90 - NJW 1991, 1359; 2. November 1989 - III ZB 49/89 - BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung Nr. 4). Etwas anderes gilt, wenn der Rechtsmittelführer mit großer Wahrscheinlichkeit mit der Bewilligung der Fristverlängerung rechnen darf, weil dies dem normalen Lauf der Dinge entspricht (BAG 27. September 1994 aaO; 4. Februar 1994 aaO; BGH 14. Februar 1991 aaO; 11. Juli 1985 - III ZB 13/85 - VersR 1985, 972). Liegt ein erheblicher Grund für eine Fristverlängerung vor, braucht sich der Anwalt nicht auf eine Rechtspraxis einzustellen, die sich nicht mehr im Rahmen der zulässigen Ermessensausübung des Vorsitzenden bewegt (BGH 18. September 2001 - VI ZB 26/01 - MDR 2001, 1432). Auf eine rechtswidrige Spruchpraxis braucht sich der Staatsbürger nicht einzustellen (BVerfG 28. Februar 1989 - 1 BvR 649/88 - BVerfGE 79, 372).
2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts durfte der Kläger auf die Bewilligung seines Verlängerungsantrags vertrauen.
a) Ein Prozessbevollmächtigter kann grundsätzlich erwarten, dass einem Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen wird, wenn erhebliche Gründe iSv. § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG vorgebracht werden. Zu den Gründen, die in der Gerichtspraxis im Allgemeinen als "erheblich" angesehen werden, zählt ua. die - hier geltend gemachte - berufliche Überlastung bzw. besonders starke Arbeitsbelastung des Prozessbevollmächtigten (BAG 27. September 1994 - 2 AZB 18/94 - BAGE 78, 68; BVerfG 28. Februar 1989 - 1 BvR 649/88 - BVerfGE 79, 372; zu § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO vgl. BGH 5. Juli 1989 - IVb ZB 53/89 - aaO ZPO § 233 Fristverlängerung Nr. 3; 11. Juli 1985 - III ZB 13/85 - VersR 1985, 972). Es ist regelmäßig nicht erforderlich, die Gründe für die behauptete Belastung und ihre Auswirkungen auf das konkrete Verfahren besonders darzulegen (BAG 4. Februar 1994 - 8 AZB 16/93 - BAGE 75, 350; BGH 5. Juli 1989 - IVb ZB 53/89 - aaO; 11. Juli 1985 - III ZB 13/85 - aaO).
Dies bedeutet nicht, dass auf das Erfordernis erheblicher Gründe verzichtet würde. Wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die pauschal vorgebrachten Gründe in Wahrheit nicht vorliegen, ist der Kammervorsitzende im Einzelfall nicht gehindert, eine Substantiierung der im Verlängerungsgesuch dargelegten Gründe zu verlangen (BAG 27. September 1994 - 2 AZB 18/94 - BAGE 78, 68). Dem Beschleunigungsgrundsatz nach § 9 Abs. 1 ArbGG ist dadurch genügt, dass die Berufungsbegründungsfrist nach § 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG nur einmal verlängert werden kann. Zudem ist der Vorsitzende nach Vornahme einer am Einzelfall orientierten Ermessensausübung nicht verpflichtet, die Monatsfrist auszuschöpfen (BAG 4. Februar 1994 - 8 AZB 16/93 - BAGE 75, 350). Er kann die Frist auch um einen kürzeren, unter Berücksichtigung der Antragsbegründung aber noch angemessenen Zeitraum verlängern.
b) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Justizgewährungsanspruch gegen Akte der öffentlichen Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtswegs der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl. BVerfG 4. Mai 1977 - 2 BvR 616/75 - BVerfGE 44, 302, 305; 3. Oktober 1979 - 1 BvR 726/78 - BVerfGE 52, 203, 207; 14. Mai 1985 - 1 BvR 370/84 - BVerfGE 69, 381, 385). Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (BVerfG 4. Mai 2004 - 1 BvR 1892/03 - NJW 2004, 2887; 10. August 1998 - 1 BvR 10/98 - AP ZPO § 519 Nr. 51; 4. Dezember 1989 - 1 BvR 1395/87 -; 28. Februar 1989 - 1 BvR 649/88 - BVerfGE 79, 372). Das ist aber der Fall, wenn das Landesarbeitsgericht unabhängig vom Einzelfall und insbesondere ohne Anhaltspunkte für das Nichtvorliegen der vorgebrachten Gründe deren nähere Substantiierung verlangt. Auf eine solche Praxis braucht sich der Prozessbevollmächtigte nicht einzustellen.
3. Es gereicht dem Kläger schließlich nicht zum Verschulden (§ 85 Abs. 2 ZPO), dass sein Prozessbevollmächtigter den Verlängerungsantrag erst am letzen Tag der Frist gestellt hat. Eine Partei ist grundsätzlich berechtigt, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen. Auch die unter diesen Umständen erhöhten Sorgfaltsanforderungen (BGH 21. Dezember 1988 - VIII ZR 84/88 - BGHR ZPO § 233 Rechtsmittelfrist Nr. 1) hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht verletzt. Er konnte - wie ausgeführt - damit rechnen, dass die Begründung seines Antrags ausreichen würde. Daher bestand keine erkennbare Notwendigkeit, den Antrag so früh anzubringen, dass noch vor Fristablauf eine Rückfrage bei Gericht möglich gewesen wäre (vgl. BAG 27. September 1994 - 2 AZB 18/94 - BAGE 78, 68; 4. Februar 1994 - 8 AZB 16/93 - BAGE 75, 350; BGH 5. Juli 1989 - IVb ZB 53/89 - BGHR ZPO § 233 Fristverlängerung Nr. 3).
4. Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts ist damit aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, zurückzuverweisen.
Ende der Entscheidung
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