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Gericht: Bundesfinanzhof
Beschluss verkündet am 09.12.2004
Aktenzeichen: III B 83/04
Rechtsgebiete: FGO, AO 1977


Vorschriften:

FGO § 74
FGO § 76
FGO § 155
FGO § 251 Abs. 1
AO 1977 §§ 90 ff.
AO 1977 § 162
AO 1977 § 393 Abs. 1
AO 1977 § 393 Abs. 1 Satz 2
AO 1977 § 393 Abs. 1 Satz 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Gegen den Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ist nach einer Außenprüfung ein Steuerstrafverfahren wegen Hinterziehung von Gewerbesteuer und Umsatzsteuer der Jahre 1994 bis 1998 eingeleitet worden, das noch nicht abgeschlossen ist. Gegen die geänderten Steuerbescheide, die aufgrund der Prüfungsfeststellungen ergangen sind, hat der Kläger Klage erhoben, mit der er vorträgt, das Steuerstrafverfahren sei ein vorgreifliches Verfahren für das Besteuerungsverfahren; die Aussetzung des Klageverfahrens bzw. die Anordnung seines Ruhens seien zur Gewährleistung der verfassungsrechtlich garantierten Rechte im Rahmen des Strafverfahrens erforderlich.

Das Finanzgericht (FG) hat den Antrag zurückgewiesen. Die Anordnung der Verfahrensruhe gemäß § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) komme im Streitfall nicht in Betracht, weil kein übereinstimmender Antrag beider Beteiligten vorliege bzw. die Zustimmung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt --FA--) fehle. Auch eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO scheide aus. Der Ausgang eines anhängigen Strafverfahrens sei für das finanzgerichtliche Verfahren nicht vorgreiflich, weil das FG gemäß § 76 FGO den für die Besteuerung erheblichen Sachverhalt selbständig zu ermitteln habe und an die Feststellungen des Strafgerichts nicht gebunden sei. Für eine Aussetzung spreche zwar, dass der Ausgang des Strafverfahrens insoweit einen rechtlichen Einfluss auf das finanzgerichtliche Verfahren haben könne, als im Strafverfahren festgestellte Tatsachen auch für die Besteuerung von Bedeutung sein könnten. Auch könne im Interesse der Prozessökonomie eine mehrfache Ermittlung und Beurteilung desselben Sachverhaltes vermieden werden. Im Streitfall sei jedoch zu berücksichtigen, dass --soweit ersichtlich-- keine strafrechtlichen Fragen für die Rechtmäßigkeit der streitigen Steuerbescheide von Bedeutung seien. Es komme daher im anhängigen Verfahren nicht darauf an, ob der Kläger tatsächlich Steuern hinterzogen habe. Hinzu komme, dass der zu beurteilende Sachverhalt bereits längere Zeit zurückliege und nach den Ermittlungen des FG über den Stand des Strafverfahrens dieses jedenfalls nicht in absehbarer Zeit abgeschlossen sein werde; vielmehr liege noch nicht einmal eine das Ermittlungsverfahren abschließende Verfügung vor. Im Hinblick darauf gehe das Interesse an der Fortsetzung des Verfahrens dem Interesse des Klägers an einer Aussetzung vor.

Mit der Beschwerde macht der Kläger geltend, nach dem Nemo-tenetur-Prinzip, welches in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 des Grundgesetzes (GG) Verfassungsrecht erlangt habe, sei ein Beschuldigter im Rahmen eines Strafverfahrens nicht verpflichtet, irgendwie geartete Mitwirkungshandlungen vorzunehmen bzw. sich selbst zu belasten.

Dieses Prinzip würde in der typischen Konstellation der Steuerstrafverfahren im Rahmen des Besteuerungsverfahrens dadurch nachhaltig ausgehöhlt, dass strafrechtliche Entscheidungen und Ermittlungen aufgeschoben würden, um den Beschuldigten mittels des Besteuerungsverfahrens zu einer "Selbstaufklärung" zu veranlassen. Derartige Verfahren gipfelten im Kern darin, dass über sog. "Druckschätzungen" durch die Finanzverwaltung der Beschuldigte geradezu gezwungen werde, die tatsächlichen Umstände, die bis zu diesem Zeitpunkt einer strafrechtlichen Würdigung mangels entsprechender stichhaltiger Beweislage im Strafverfahren nicht zugänglich gewesen seien, zu offenbaren. Da die sich daraus ergebenden strafrechtlichen Folgerungen bis zum heutigen Tag durch den Gesetzgeber bzw. durch die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht geregelt bzw. nicht entschieden worden seien, könne der Beschuldigte das ihm verfassungsrechtlich garantierte Schweigerecht nicht wahrnehmen, weil er im Besteuerungsverfahren zur Offenbarung der tatsächlichen Verhältnisse gezwungen werde. Dies könne sogar darin gipfeln, dass der Beschuldigte gezwungen werde, Dritte zu belasten, obwohl ihm ein verfassungsrechtlich verbrieftes Zeugnisverweigerungsrecht zustehe.

Es stelle sich das Problem, ob im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des § 74 FGO dem Nemo-tenetur-Prinzip dadurch Rechnung getragen werden könne, dass das FG auf Antrag des Klägers das Verfahren bis zum Abschluss des steuerstrafrechtlichen Verfahrens auszusetzen habe.

II. Die Beschwerde ist unbegründet.

1. Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses ab, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, kann das Gericht gemäß § 74 FGO anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen ist. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichts, bei der insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 4. April 2003 V B 199/02, BFH/NV 2003, 1081, m.w.N.). Eine Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens besteht nur in Ausnahmefällen.

Die Entscheidung des FG, das Verfahren im Streitfall nicht auszusetzen, ist ermessensgerecht. Das FG braucht den Abschluss des Strafverfahrens nicht abzuwarten.

Das FG hat nach § 76 FGO ein selbständiges Ermittlungsrecht und eine selbständige Ermittlungspflicht. Es ist an die Feststellungen des Strafgerichts nicht gebunden. Grundsätzlich besteht deshalb keine Pflicht zur Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens wegen eines anhängigen Strafverfahrens (BFH-Beschluss in BFH/NV 2003, 1081, m.w.N.).

Eine Aussetzung ist auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten.

Es trifft zu, dass der Steuerpflichtige im Klageverfahren verpflichtet ist, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken, auch wenn gegen ihn ein Strafverfahren eröffnet worden ist. Denn nach § 393 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) richten sich die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften. Dies bedeutet, dass der Steuerpflichtige gemäß § 90 ff. AO 1977 alle für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahreitsgemäß offen legen und die ihm bekannten Beweismittel angeben muss; dies gilt auch im finanzgerichtlichen Verfahren (§ 76 Abs. 1 Satz 2 bis 4 FGO).

Ein Auskunftsverweigerungsrecht sieht das Gesetz nur für Personen vor, die weder Beteiligte noch für einen Beteiligten auskunftspflichtig sind (§ 103 AO 1977). Der Gesetzgeber hat die Mitwirkungspflichten der Beteiligten für unabdingbar gehalten. Da die Besteuerung an Vorgänge anknüpft, die in der Sphäre der Beteiligten liegen, könnte andernfalls ein Beweisnotstand entstehen (BTDrucks VI/1982, 137). Stünde dem Beteiligten das Auskunftsverweigerungsrecht zu, und würde er von diesem Gebrauch machen, wäre er insoweit seiner Mitwirkungspflicht enthoben und die Besteuerungsgrundlagen könnten --jedenfalls nach geltender Rechtslage-- gemäß § 162 AO 1977 nicht geschätzt werden. Dies würde dazu führen, dass der steuerunehrliche Beteiligte daraus gegenüber dem ehrlichen Steuerpflichtigen einen Vorteil ziehen würde, was mit der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht zu vereinbaren wäre (vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 103 AO 1977 Rz. 6 ff.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 103 AO 1977 Tz. 2 ff.).

Dem Grundsatz, dass sich niemand selbst belasten muss, trägt § 393 Abs. 1 Sätze 2 und 3 AO 1977 hinreichend Rechnung. Danach sind im Besteuerungsverfahren Zwangsmittel (§ 328 AO 1977) gegen den Steuerpflichtigen unzulässig, wenn er dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Steuerstraftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten.

Der Steuerpflichtige ist demnach nicht gezwungen, sich unter Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Januar 1981 1 BvR 116/77, BVerfGE 56, 37, 42 f.) selbst zu belasten. Er muss nur als Folge seiner mangelnden Mitwirkung hinnehmen, dass die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 AO 1977 geschätzt werden. Hierdurch wird er nicht rechtlos gestellt. Nach ständiger Rechtsprechung soll die Schätzung die Besteuerungsgrundlagen durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen so bestimmen, dass sie der Wirklichkeit möglichst nahe kommen (z.B. BFH, Urteil vom 11. März 1999 V R 78/98, BFHE 188, 160, BFH/NV-BFH/R 1999, 1178). Schätzt daher das FA bewusst die Besteuerungsgrundlagen zu hoch, um dadurch Druck zur Mitwirkung auf den Steuerpflichtigen auszuüben, sind im Klageverfahren die Besteuerungsgrundlagen auf das wahrscheinliche Maß zu reduzieren.

2. Im Streitfall ist die Entscheidung des FG schon deshalb nicht zu beanstanden, weil das FG keine Anhaltspunkte dafür hat, dass für das Besteuerungsverfahren strafrechtliche Fragen von Bedeutung sein könnten. Hinzu kommt, dass die Streitjahre mehrere Jahre zurückliegen und daher die Gefahr besteht, dass der Sachverhalt durch Zeitablauf nicht mehr oder nicht mehr vollständig aufgeklärt werden kann. Des Weiteren ist nicht abzusehen, wann das Strafverfahren abgeschlossen sein wird. Angesichts dieser Umstände besteht kein Anlass zu entscheiden, ob in Einzelfällen dann eine Aussetzung geboten sein kann, wenn das Strafverfahren kurz vor dem Abschluss steht und der Steuerpflichtige vorträgt, nach dessen Ende seinen Mitwirkungspflichten voll genügen zu wollen.

3. Eine Kostenentscheidung ist in diesem unselbständigen Zwischenverfahren nicht zu treffen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2003, 1081, m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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