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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.10.2006
Aktenzeichen: III R 31/06
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977, FGO, BVerfGG


Vorschriften:

EStG § 32 Abs. 4 Satz 2
EStG § 70 Abs. 2
EStG § 70 Abs. 3
EStG § 70 Abs. 4
AO 1977 § 125
AO 1977 § 125 Abs. 1
AO 1977 §§ 172 ff.
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2
AO 1977 § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 2
FGO § 76
FGO § 126 Abs. 2
BVerfGG § 30 Abs. 1 Satz 1
BVerfGG § 30 Abs. 1 Satz 2
BVerfGG § 30 Abs. 1 Satz 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde im Jahr 2004 für seine im Jahr 1983 geborene Tochter Kindergeld gezahlt. Die Tochter befand sich in diesem Jahr in Ausbildung zur ...

Anfang 2005 ermittelte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) Einkünfte der Tochter aus nichtselbständiger Arbeit im Jahr 2004 in Höhe von 9 439,74 € (Einnahmen in Höhe von 12 218,94 € abzüglich Werbungskosten in Höhe von 2 779,20 €). Die Familienkasse hatte keine Kenntnis von der Höhe der einbehaltenen Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung. Mit Bescheid vom 24. März 2005 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 auf, weil die Einkünfte und Bezüge der Tochter im Jahr 2004 mehr als 7 680 € betragen hätten und forderte das von Januar bis Dezember 2004 gezahlte Kindergeld zurück. Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Am 11. Juli 2005 beantragte der Kläger erneut Kindergeld für das Jahr 2004. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) seien Sozialversicherungsbeiträge des Kindes nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) einzubeziehen. Unter Abzug der Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 2 593,70 € ergäben sich Einkünfte seiner Tochter in Höhe von 6 845,10 €. Die Familienkasse habe ihn --den Kläger-- nicht auf diesen Beschluss hingewiesen und ihm stattdessen versichert, Sozialversicherungsbeiträge seien nicht zu berücksichtigen.

Die Familienkasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Juli 2005 unter Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheids vom 24. März 2005 ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos.

Mit seiner Klage begehrte der Kläger neben der Zahlung von Kindergeld für das Jahr 2004 die Feststellung, dass der Bescheid vom 24. März 2005 nichtig sei. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1261 abgedruckt. Das FG führte im Wesentlichen aus, der Bescheid vom 24. März 2005 sei nicht gemäß § 125 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nichtig. Auch die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 11. Juli 2005 sei rechtmäßig. Der Bescheid vom 24. März 2005 sei bestandskräftig, eine Durchbrechung seiner Bestandskraft komme weder nach § 70 Abs. 2 bis 4 EStG noch nach §§ 172 ff. AO 1977 in Betracht.

Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung des § 125 Abs. 1 AO 1977 und des § 70 Abs. 4 EStG sowie die Verletzung der Sachaufklärungspflicht des FG gemäß § 76 FGO.

Er trägt vor, der Bescheid vom 24. März 2005 wäre nichtig, wenn die Familienkasse bei seinem Erlass bereits von der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 Kenntnis gehabt hätte. Das FG habe daher aufklären müssen, wann die Familienkasse von diesem Beschluss unterrichtet worden sei. Dabei komme es nicht darauf an, wann die örtliche Familienkasse Kenntnis erhalten habe, sondern wann die Direktion der Familienkasse informiert worden sei. Er --der Kläger-- gehe davon aus, dass die Direktion schon vor der Pressemitteilung vom 13. Mai 2005 Kenntnis von der Entscheidung gehabt habe. Das Wissen einer örtlichen Familienkasse müsse der Direktion zugerechnet werden. Diese habe durch eine entsprechende Organisation sicherzustellen, dass sie bei derart wichtigen Verfahren unverzüglich unterrichtet werde. Der Bescheid vom 24. März 2005 sei zudem nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern, da der Familienkasse zum Zeitpunkt seines Erlasses nicht bekannt gewesen sei, in welcher Höhe Sozialversicherungsbeiträge vom Bruttoarbeitslohn der Tochter abgeführt worden seien.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG, den Bescheid der Familienkasse vom 11. Juli 2005 sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, ihm Kindergeld für seine Tochter für das Jahr 2004 zu zahlen sowie festzustellen, dass der Bescheid vom 24. März 2005 nichtig sei.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

1. Nach zutreffender Entscheidung des FG ist der Bescheid vom 24. März 2005 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 nicht gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 nichtig.

Der Bescheid ist zwar rechtswidrig, weil die Familienkasse im Streitfall zu Unrecht die Einkünfte der Tochter i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht um deren Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung gemindert hat. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist verfassungskonform so auszulegen, dass nicht nur Bezüge, sondern auch Einkünfte des Kindes nur dann in den Jahresgrenzbetrag der Vorschrift einfließen, wenn sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind; die Sozialversicherungsbeiträge des Kindes sind nicht zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt, da sie von Gesetzes wegen dem Kind oder dessen Eltern nicht zur Verfügung stehen und deshalb keine Entlastung bei den Eltern bewirken (Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260). Der Bescheid stand aber zum Zeitpunkt seines Ergehens --der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 war am 24. März 2005 noch nicht veröffentlicht-- im Einklang mit der Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch den Bundesfinanzhof (BFH), nach welcher der Arbeitslohn nicht um die gesetzlichen Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zu kürzen ist (vgl. BFH-Urteil vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584, m.w.N.). Ein Bescheid, dessen Rechtswidrigkeit allein auf der unterschiedlichen Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist nicht nichtig. Dies gilt auch, wenn der Bescheid aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung einer Rechtsnorm rechtswidrig geworden ist (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204).

Entgegen der Auffassung des Klägers ist der Bescheid auch nicht deshalb nichtig, weil der Familienkasse die Entscheidung des BVerfG bereits vor ihrer Veröffentlichung am 13. Mai 2005 bekannt war bzw. hätte bekannt sein müssen.

Nach § 30 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) entscheidet das BVerfG in geheimer Beratung. Anschließend wird die Entscheidung schriftlich abgefasst, begründet und von den Richtern, die an ihr mitgewirkt haben, unterzeichnet. Hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, ist die Entscheidung sodann öffentlich zu verkünden. Hat keine mündliche Verhandlung stattgefunden, wird die Entscheidung den Beteiligten bekanntgegeben (§ 30 Abs. 3 BVerfGG). Bei öffentlichem Interesse an der Entscheidung ergehen Presseverlautbarungen, die vom Vorsitzenden und Berichterstatter gebilligt werden müssen und erst veröffentlicht werden dürfen, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung den Beteiligten zugegangen ist (§ 32 der Geschäftsordnung des BVerfG). In der Regel gibt die zuständige Geschäftsstelle die Pressemitteilungen einen Tag nach Veranlassung der Bekanntgabe hinaus (Schraft- Huber in Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfG, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl., § 17a Rz. 54). Da die Pressemitteilung vom 13. Mai 2005 datiert, konnte auch die Familienkasse erst im Mai 2005 von der Entscheidung des BVerfG Kenntnis erlangt haben.

Im Übrigen ist für die Beurteilung, ob der Bescheid vom 24. März 2005 gemäß § 125 Abs. 1 AO 1977 nichtig ist, unerheblich, ob der Familienkasse der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 im Zeitpunkt seines Erlasses bekannt war oder nicht. Ob ein Verwaltungsakt an einem zu seiner Nichtigkeit führenden nicht heilbaren schwerwiegenden Fehler leidet, bestimmt sich nach der Art des Fehlers. Keine Entscheidungskriterien sind, ob der Fehler der Finanzbehörde bewusst oder aus Versehen unterlief und ob er vermeidbar oder unvermeidbar war. § 125 AO 1977 hat nicht den Zweck, bewusstes Fehlverhalten der Finanzbehörden zu sanktionieren (BFH-Urteil vom 28. Oktober 1999 I R 8/98, BFH/NV 2000, 579).

2. Das FG hat gleichfalls zu Recht entschieden, dass der Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2004 die Bestandskraft des Bescheids vom 24. März 2005, dem Bindungswirkung bis zum Ende des Monats seiner Bekanntgabe zukommt (BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88), entgegensteht. Der Bescheid ist auch nicht nach § 70 Abs. 2 bis 4 EStG bzw. §§ 172 ff. AO 1977 zu ändern.

a) Die Korrekturvorschriften des § 70 Abs. 2 und Abs. 3 EStG sind im Streitfall nicht anwendbar, weil sie nicht für Bescheide gelten, mit denen --wie im Streitfall-- eine Kindergeldfestsetzung abgelehnt oder aufgehoben wird (BFH-Urteil vom 21. Januar 2004 VIII R 15/02, BFH/NV 2004, 910, m.w.N.).

b) Auch § 70 Abs. 4 EStG ist nicht einschlägig, da die Vorschrift voraussetzt, dass die zu korrigierende Kindergeldfestsetzung vor Beginn oder während eines Kalenderjahres als Prognoseentscheidung --und nicht wie im Streitfall nach Ablauf des Kalenderjahres-- über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr ergangen ist (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204).

c) Ebenso wenig ist im Streitfall eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zulässig.

Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zu Gunsten des Steuerpflichtigen nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 aufgehoben oder geändert werden, wenn die Finanzbehörde bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Wie die Finanzbehörde bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und der die Finanzbehörden bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben (BFH-Beschluss vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180).

Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 24. März 2005 minderten aber die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge sowohl nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil in BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584) als auch nach Abschnitt 63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG), Stand August 2004 (BStBl I 2004, 743), nicht die Einkünfte des Kindes. Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 war --wie bereits ausgeführt-- zum maßgeblichen Zeitpunkt weder den Beteiligten bekannt gegeben noch veröffentlicht.

d) Schließlich ist der Bescheid vom 24. März 2005 nicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern. Eine Gerichtsentscheidung ist nur dann ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, wenn sie den Tatbestand, an den das Steuergesetz anknüpft, rückwirkend verändert (BFH-Urteil vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, m.w.N.). Der Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 führte im Streitfall indessen nur zu einer anderen rechtlichen Beurteilung des unveränderten Sachverhalts der Zahlung von gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträgen.

3. Auch die Rüge des Klägers, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt, greift nicht durch. Der Senat sieht insoweit von einer Begründung ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO).

Ende der Entscheidung

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