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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 01.02.2007
Aktenzeichen: V R 34/05
Rechtsgebiete: SGB VIII, UStG 1993, SGB V, EStG


Vorschriften:

SGB VIII § 35a
SGB VIII § 35a Abs. 1 a
UStG 1993 § 4 Abs. 14
UStG 1993 § 4 Nr. 14
UStG 1993 § 4 Nr. 14 Satz 1
UStG 1993 § 4 Nr. 15
UStG 1993 § 4 Nr. 16
UStG 1993 § 4 Nr. 18
UStG 1993 § 19 Abs. 1
SGB V § 124 Abs. 2
EStG § 18 Abs. 1 Nr. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt eine heilpädagogische Praxis. In den Streitjahren 1993 bis 1998 erbrachte sie aufgrund fachärztlicher Gutachten heilpädagogische Leistungen: Grundlage hierfür war eine entsprechende Vereinbarung zur Kostenübernahme nach § 35a des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) mit den Trägern der örtlichen Sozialhilfe.

Für die Streitjahre gab die Klägerin zunächst keine Umsatzsteuererklärungen ab, da sie der Auffassung war, dass ihre Tätigkeit als Heilpädagogin nicht der Umsatzsteuer unterliege, weil sie nahezu ausschließlich aufgrund "ärztlicher Verordnungen" tätig geworden sei.

Auf Aufforderung des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) reichte die Klägerin für die Streitjahre Umsatzsteuererklärungen nach. Die Einsprüche gegen diese als Steuerfestsetzungen geltenden Umsatzsteuererklärungen wies das FA als unbegründet zurück.

Die Klage hiergegen hatte Erfolg. Zur Begründung seines in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 2005, 1650 veröffentlichten Urteils führte das Finanzgericht (FG) im Wesentlichen aus, die Tätigkeit der Klägerin sei, soweit sie nicht bereits als heilberufliche Tätigkeit nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG 1993) steuerfrei sei, gemäß Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) von der Steuer befreit.

§ 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1993 setze Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG um, wonach die Mitgliedstaaten die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden, von der Steuer befreien.

Die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 UStG 1993 lägen vor, denn die von der Klägerin überwiegend aufgrund fachärztlicher Gutachten durchgeführten Behandlungen von Legasthenikern dienten dem Zweck der Behandlung und soweit möglich der Heilung von Gesundheitsstörungen der Leistungsempfänger.

Die Klägerin habe auch den Nachweis ihrer beruflichen Befähigung erbracht, weil sie die Voraussetzungen einer berufsrechtlichen Regelung erfülle. Die Klägerin sei berechtigt, die Berufsbezeichnung "staatlich anerkannte Heilpädagogin" zu führen. Die Ausbildung zum Heilpädagogen bzw. zur Heilpädagogin werde mit einer staatlichen Prüfung abgeschlossen. Wer die Abschlussprüfung bestanden habe, erhalte ein Abschlusszeugnis. Dieses sei Voraussetzung zur Führung der Bezeichnung "staatlich anerkannter Heilpädagoge/staatlich anerkannte Heilpädagogin" (s. Rahmenvereinbarung über die Ausbildung und Prüfung an Fachschulen für Heilpädagogik, Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12. September 1986). Die Bundesländer würden die nach dieser Rahmenvereinbarung erteilten Abschlusszeugnisse gegenseitig anerkennen.

Soweit die Tätigkeit der Klägerin nicht nur auf die Diagnose und Behandlung von Gesundheitsstörungen gerichtet sei, könne sie sich für die Steuerbefreiung ihrer heilpädagogischen Leistungen unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA. Zu deren Begründung trägt das FA im Wesentlichen vor, bei der heilpädagogischen Tätigkeit der Klägerin handele es sich nicht um Heilbehandlungen. Das Aufgabenfeld der Heilpädagogik liege im erzieherischen, sozialpflegerischen und pädagogischen, nicht aber im medizinischen Bereich. Außerdem fehle es für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 UStG 1993 auch an dem erforderlichen Befähigungsnachweis. Es gebe weder eine einheitliche Ausbildungsregelung noch gesetzliche oder berufsrechtliche Regelungen zur Ausübung des Berufes des Heilpädagogen. Auch sei weder die Klägerin noch ihre Berufsgruppe gemäß § 124 Abs. 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) durch die zuständigen Stellen der gesetzlichen Krankenkassen zugelassen.

Die Klägerin könne sich auch nicht unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen. Der deutsche Gesetzgeber habe die Richtlinie in § 4 Nr. 14, 15, 16 und 18 UStG 1993 zutreffend umgesetzt. Außerdem habe das FG die Klägerin zu Unrecht als Einrichtung mit sozialem Charakter angesehen. Eine vertragliche Beziehung zu den Kostenträgern habe nicht bestanden. Vielmehr sei in jedem Einzelfall auf Antrag des Betroffenen nach ärztlichem Gutachten über die Kostenübernahme entschieden worden.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage wegen Umsatzsteuer 1993 bis 1998 abzuweisen.

Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten.

II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob und ggf. in welchem Umfang die von der Klägerin ausgeführten Leistungen von der Umsatzsteuer befreit sind.

1. Hinsichtlich der Legastheniebehandlungen fehlt es an tatsächlichen Feststellungen, die eine Beurteilung zulassen, ob diese Leistungen der Klägerin von § 4 Nr. 14 UStG 1993 umfasst werden.

Nach § 4 Nr. 14 Satz 1 UStG 1993 sind "die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Krankengymnast, Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit i.S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes" steuerfrei. Die Steuerbefreiung nach § 4 Abs. 14 UStG 1993 setzt bei richtlinienkonformer Auslegung voraus, dass der Unternehmer eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin durch ärztliche oder arztähnliche Leistungen erbringt und dass er dafür die erforderlichen Befähigungsnachweise besitzt (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 18. August 2005 V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, mit Nachweisen).

Heilbehandlungen i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG sind Tätigkeiten, die zum Zweck der Vorbeugung, Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen bei Menschen vorgenommen werden. Die befreiten Leistungen müssen der medizinischen Behandlung einer Krankheit oder einer anderen Gesundheitsstörung dienen (BFH-Urteil in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, mit Nachweisen). Bei der Behandlung von Legasthenikern handelt es sich --entgegen der Auffassung des FG-- grundsätzlich nicht um eine Heilbehandlung in diesem Sinne, denn die Legasthenie ist, auch wenn sie im Einzelfall mit einer Krankheit verbunden sein kann, grundsätzlich keine Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinn (BFH-Urteil in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, mit Nachweisen).

Eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 14 UStG 1993 kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn die Legastheniebehandlungen im Rahmen einer medizinischen Behandlung aufgrund ärztlicher Anordnungen erfolgt sind. Ob und in welchem Umfang das der Fall gewesen ist, kann aufgrund der Feststellungen des FG nicht abschließend beurteilt werden. Das FG hat zwar den Beteiligtenvortrag der Klägerin wiedergegeben, sie sei "nahezu ausschließlich aufgrund ärztlicher Verordnungen" tätig geworden. Hierbei handelt es sich aber nicht um Feststellungen des FG. In den Entscheidungsgründen stützt das FG sei Urteil darauf, dass die Klägerin die Behandlung von Legasthenikern "überwiegend aufgrund fachärztlicher Gutachten" durchgeführt habe. Das lässt die Frage offen, ob es sich hierbei um ärztliche Anordnungen im Rahmen einer medizinischen Behandlung oder um im Rahmen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche i.S. des § 35a Abs. 1 a SGB VIII erstellte ärztliche Stellungnahmen gehandelt hat. Das FG wird die erforderlichen Feststellungen hierzu nachholen müssen und auch zu klären haben, welchen konkreten Umfang diese "überwiegende" Tätigkeit gehabt hat.

2. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin, soweit sie bei der Behandlung von Vorschulkindern auf der Grundlage von § 35a SGB VIII nach Maßgabe entsprechender Leistungsvereinbarungen mit den örtlichen Leistungsträgern (Sozialämtern) tätig geworden ist, sich unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen kann, weil sie Leistungen ausgeführt hat, die mit der Fürsorge oder der sozialen Sicherheit verbunden sind und eine entsprechende Steuerbefreiung im UStG 1993 fehlt.

Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG lautet:

"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

...

g) die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen."

Das UStG hat diese Richtlinienbestimmung bisher lediglich dadurch umgesetzt, dass es die bereits bei Inkrafttreten der Richtlinie 77/388/EWG vorhandenen, teilweise bereits im UStG 1951 enthaltenen Steuerbefreiungstatbestände im Wesentlichen unverändert weitergeführt hat (vgl. bereits BFH-Urteil in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143). Die Leistungen der Klägerin fallen unter keine der hier in Betracht kommenden Steuerbefreiungen des UStG 1993.

Für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG genügt es, dass zwei Voraussetzungen erfüllt sind, und zwar, dass

- es sich um Leistungen handelt, die mit der Fürsorge oder der sozialen Sicherheit verbunden sind, und

- diese Leistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen, die von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit im Wesentlichen sozialem Charakter anerkannt worden sind, erbracht werden (Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 26. Mai 2005 Rs. C-498/03, Kingserest Associate Ltd., BFH/NV Beilage 2005, 310 Rz 34).

Soweit die Klägerin ihre Leistungen aufgrund entsprechender Vereinbarungen mit einem Träger der Sozialversicherung (vgl. §§ 12, 27 Abs. 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch), dem Sozialamt, im Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII erbracht hat, sind diese Voraussetzungen erfüllt (ausführlich BFH-Urteil in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143).

3. Soweit die von der Klägerin ausgeführten Legastheniebehandlungen nach den unter II. 1. dargelegten Grundsätzen nicht unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 14 UStG 1993 fallen, wird das FG die Feststellungen nachholen müssen, die eine Beurteilung zulassen, ob sich die Klägerin auch hinsichtlich dieser Leistungen auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen kann. Das FG wird feststellen müssen, ob die Klägerin insoweit auf einer sozialrechtlichen Rechtsgrundlage tätig geworden ist und wer im Einzelfall aus welchem Grund die Kosten der Behandlung getragen hat. Dabei wird auch die zwischen den Beteiligten streitige Frage zu klären sein, ob vertragliche Beziehungen zwischen der Klägerin und den Kostenträgern bestanden haben (BFH in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143).

4. Das FG wird auch zu prüfen haben, ob nach Abzug etwaiger nach § 4 Nr. 14 UStG 1993 steuerfreier Umsätze und jener Umsätze, hinsichtlich derer sich die Klägerin unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen kann, ggf. die Anwendung der Kleinunternehmerregelung des § 19 Abs. 1 UStG in Betracht kommt.

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