Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 10.08.2006
Aktenzeichen: V R 55/04
Rechtsgebiete: UStG 1999, Richtlinie 77/388/EWG


Vorschriften:

UStG 1999 § 1 Abs. 1 Nr. 1
UStG 1999 § 3 Abs. 1
UStG 1999 § 3 Abs. 9 Satz 1
UStG 1999 § 3 Abs. 9 Satz 4
UStG 1999 § 3 Abs. 9 Satz 5
Richtlinie 77/388/EWG Art. 5 Abs. 1
Richtlinie 77/388/EWG Art. 6 Abs. 1
1. Die Abgabe von Speisen durch einen Mahlzeitendienst, der Mittagessen auf eigenem Geschirr an Einzelabnehmer in deren Wohnung ausgibt und das Geschirr endreinigt, unterliegt als sonstige Leistung (Dienstleistung) dem Regelsteuersatz.

2. Bei der Beurteilung, ob das Dienstleistungselement der Abgabe von fertig zubereiteten Speisen das Lieferelement qualitativ überwiegt, sind nur solche Dienstleistungen zu berücksichtigen, die sich von denen unterscheiden, die notwendig mit der Vermarktung der Speisen verbunden sind.

3. Der Wortlaut des § 3 Abs. 9 Satz 4 UStG 1999 ist nicht in vollem Umfang gemeinschaftsrechtskonform.


Gründe:

I.

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), betreibt einen Mahlzeitendienst. Die Klägerin kaufte im Jahr 2000 (Streitjahr) fertig zubereitete Speisen (Mittagessen) von einem Krankenhausverband und gab diese Speisen portioniert auf eigenem Geschirr ohne Besteck an Einzelabnehmer in deren Wohnung aus. Die Abnehmer führten nach Verzehr der Speisen eine Vorreinigung des Geschirrs durch. Die Bediensteten der Klägerin holten bei der Versorgung der Abnehmer mit der nächsten Mahlzeit (am nächsten Tag) das Geschirr wieder ab. Anschließend wurde das Geschirr von der Klägerin endgereinigt.

In ihrer Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 2000 meldete die Klägerin beim zuständigen Finanzamt W (FA W) diese Umsätze mit dem ermäßigten Steuersatz an. Nach Durchführung einer Außenprüfung wandte das FA W in dem nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr auf die Abgabe portionierter Speisen den Regelsteuersatz an, weil es sich dabei nicht um die ermäßigt besteuerte Lieferung von Lebensmitteln, sondern um eine sonstige Restaurationsleistung handele. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2004, 1797).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 3 Abs. 9 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG 1999). Sie macht geltend, das Urteil des FG werde den Anforderungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nicht gerecht, weil ihre Dienstleistungen das Lieferelement ihrer Leistung nicht überwiege. Ihre Dienstleistungen stünden mit dem Abgabeort der Speisen in keinem Zusammenhang. Das FG berücksichtige zudem nicht die Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH), wonach der wirtschaftliche Gehalt der Gesamtleistung unter Berücksichtigung des Willens der Vertragsparteien zu bestimmen sei. Ihren Abnehmern komme es vor allem darauf an, ein warmes Essen zu erhalten. Eine Dienstleistung in Begleitung der Lieferung werde nicht erwartet.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung vom 1. Oktober 2002 aufzuheben sowie unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids des FA W vom 4. März 2002 die Umsatzsteuer für das Jahr 2000 auf den Betrag festzusetzen, der sich bei Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Umsätze der Klägerin aus dem Mahlzeitendienst in Höhe von 141 779 DM ergibt.

Während des Revisionsverfahrens hat der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) mitgeteilt, dass die "Wahrnehmungszuständigkeit" im Streitfall vom FA W auf ihn (das FA) übergegangen sei.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es macht geltend, nach § 3 Abs. 9 Satz 4 und 5 UStG 1999 sei der Verzehr an Ort und Stelle eine sonstige Leistung. Die Klägerin übertrage nicht nur die Verfügungsmacht an dem Essen, sondern erbringe eine Reihe von Dienstleistungen.

II.

Die Revision der Klägerin ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise eine dem ermäßigten Steuersatz unterliegende Lieferung von Speisen verneint.

1. Revisionsbeklagter ist infolge gesetzlichen Beteiligtenwechsels (vgl. dazu BFH-Urteile vom 16. Oktober 2002 I R 17/01, BFHE 200, 521, BStBl II 2003, 631; vom 30. Juni 1999 III R 15/99, BFH/NV 1999, 1619) das FA geworden, weil aufgrund des Erlasses des Finanzministeriums Baden-Württemberg vom 11. November 2004 (BStBl I 2004, 1116, 1118, 1120) die Zuständigkeit des FA W auf dieses FA übergegangen ist.

2. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG 1999 ermäßigt sich die Steuer auf 7 v.H. für die Lieferung der in der Anlage (jetzt: Anlage 2) bezeichneten Gegenstände.

Nach § 3 Abs. 1 UStG 1999 sind Lieferungen eines Unternehmers u.a. Leistungen, durch die er den Abnehmer befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Sonstige Leistungen sind Leistungen, die keine Lieferungen sind (§ 3 Abs. 9 Satz 1 UStG 1993).

Dementsprechend gilt nach Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen, als Lieferung eines Gegenstandes. Als Dienstleistung gilt jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstandes ist (Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG).

3. Zur Abgrenzung von Lieferungen und Dienstleistungen i.S. der Art. 5 und 6 der Richtlinie 77/388/EWG hat der EuGH in seinem Urteil vom 2. Mai 1996 C-231/94 --Faaborg-Gelting Linien A/S-- (Slg. 1996, I-2395) wörtlich ausgeführt:

"12 Ob bestimmte Umsätze Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen sind, richtet sich nach ihrem Wesen. Dieses ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu ermitteln.

13 Die Abgabe von Speisen und Getränken zum sofortigen Verzehr ist das Ergebnis einer Reihe von Dienstleistungen vom Zubereiten bis zum Darreichen der Speisen. Dabei wird dem Gast zugleich eine organisatorische Gesamtheit zur Verfügung gestellt, die sowohl einen Speisesaal mit Nebenräumen (Garderoben u. a.) als auch das Mobiliar und das Geschirr umfasst. Gegebenenfalls werden Kellner das Gedeck auflegen, den Gast beraten, die angebotenen Speisen oder Getränke erläutern, diese auftragen und schließlich nach dem Verzehr die Tische abräumen.

14 Somit ist der Restaurationsumsatz durch eine Reihe von Vorgängen gekennzeichnet, von denen nur ein Teil in der Lieferung von Nahrungsmitteln besteht, während die Dienstleistungen bei weitem überwiegen. Er ist daher als Dienstleistung im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie zu betrachten. Etwas anderes gilt hingegen, wenn sich der Umsatz auf Nahrungsmittel 'zum Mitnehmen' bezieht und daneben keine Dienstleistungen erbracht werden, die den Verzehr an Ort und Stelle in einem geeigneten Rahmen ansprechend gestalten sollen."

Hieran anschließend hat er im Urteil vom 10. März 2005 Rs. C-491/03 --Hermann-- (Slg. 2005, I-2025, BFH/NV Beilage 3, 2005, 210) zur Frage, ob die Frankfurter Getränkesteuersatzung (GetrStS) verbrauchsteuerpflichtige Waren (i.S. von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren --Richtlinie 92/12/EWG--) oder Dienstleistungen betrifft, die im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren erbracht werden, Folgendes ausgeführt:

"21 Um zu bestimmen, ob die mit der GetrStS erhobene Steuer verbrauchsteuerpflichtige Waren im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/12 oder eher die Dienstleistungen betrifft, die im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren im Sinne von Artikel 3 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie erbracht werden, ist das überwiegende Element des besteuerten Umsatzes zu berücksichtigen (vgl. analog Urteil Faaborg-Gelting Linien, Randnrn. 12 bis 14).

22 Da die Vermarktung eines Gegenstands immer mit einer minimalen Dienstleistung, wie dem Darbieten der Waren in Regalen, dem Ausstellen einer Rechnung usw., verbunden ist, können bei der Beurteilung des Dienstleistungsanteils an der Gesamtheit eines komplexen Geschäftes, zu dem auch die Lieferung eines Gegenstands gehört, nur die Dienstleistungen berücksichtigt werden, die sich von denen unterscheiden, die notwendig mit der Vermarktung eines Gegenstands verbunden sind.

23 Auch wenn die aufgrund der GetrStS erhobene Steuer an den unmittelbaren Verzehr an Ort und Stelle und damit an ein dienstleistungsbezogenes Element anknüpft, das sich von den Vorgängen unterscheidet, die notwendig mit der Vermarktung alkoholhaltiger Getränke verbunden sind, so lässt sich doch nicht allgemein sagen, dass bei allen in den Anwendungsbereich dieser Steuer fallenden Vorgängen das Dienstleistungselement immer überwiegen wird.

24 Demnach ist für jeden besteuerten Umsatz festzustellen, welches das überwiegende Element ist.

25 Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass die Volkswirt Weinschänken GmbH eine Gaststätte betreibt, in der sie Speisen und Getränke serviert.

26 Die Abgabe alkoholhaltiger Getränke an Kunden im Rahmen einer Bewirtungstätigkeit geht mit einer Reihe von Dienstleistungen einher, die sich von den Vorgängen unterscheiden, die notwendig mit der Vermarktung solcher Waren verbunden sind. Es handelt sich um die Zurverfügungstellung einer Infrastruktur, die einen möblierten Speisesaal mit Nebenräumen (Garderobe, Toiletten usw.) umfasst, um die Beratung und Information der Kunden hinsichtlich der servierten Getränke, um die Darbietung der Getränke in einem geeigneten Gefäß, um die Bedienung bei Tisch und schließlich um das Abdecken der Tische und die Reinigung nach dem Verzehr (vgl. in diesem Sinne Urteil Faaborg-Gelting Linien, RandNr. 13).

27 Die Abgabe alkoholhaltiger Getränke im Rahmen einer Bewirtungstätigkeit ist durch ein Bündel von Elementen und Handlungen gekennzeichnet, von denen die Lieferung des Gegenstands selbst nur einen Bestandteil darstellt und bei denen die Dienstleistungen überwiegen.

28 Folglich ist eine Steuer, die in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens auf die Abgabe alkoholhaltiger Getränke im Rahmen einer Bewirtungstätigkeit erhoben wird, als eine Steuer auf Dienstleistungen 'im Zusammenhang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren' im Sinne von Artikel 3 Absatz 3 Unterabsatz 2 der Richtlinie 92/12 anzusehen."

4. Nach diesen Grundsätzen ist auch im Streitfall zu entscheiden, ob eine --dem ermäßigten Steuersatz unterliegende-- Lieferung von Speisen oder eine --dem Regelsteuersatz unterliegende-- Dienstleistung vorliegt (vgl. BFH-Beschlüsse vom 18. August 2005 V B 26/05, BFH/NV 2006, 140; vom 8. März 2006 V B 156/05, BFH/NV 2006, 1527). Es kommt nicht auf ein quantitatives Überwiegen des Dienstleistungselements der Bewirtung gegenüber der Speisenlieferung an, sondern darauf, ob das Dienstleistungselement qualitativ überwiegt (vgl. BFH-Urteil vom gleichen Tag V R 38/05, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, unter II.3.).

a) Das FG hat den Streitfall dahin gehend gewürdigt, dass die Leistungen der Klägerin einen restaurationsartigen Charakter hätten und damit als sonstige Leistung zu beurteilen seien. Die Klägerin liefere im Rahmen des Mahlzeitendienstes nicht lediglich verzehrfertige Speisen in entsprechenden Behältnissen und Warmhaltevorrichtungen. Die Abgabe der Mahlzeiten (Portionieren auf Geschirr, Anliefern in --nicht lediglich an-- die Wohnung der Abnehmer, Mitnehmen des Geschirrs vom Vortag und dessen Endreinigung) erfolge in einer Art und Weise, wie sie für einen Restaurationsbetrieb typisch sei. Dienstleistungen anderer Unternehmer seien dem leistenden Unternehmer zuzurechnen, wenn sie --wie hier-- in den folgenden Leistungsaustausch eingeschlossen seien.

b) Diese Würdigung des FG ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie ist aufgrund der festgestellten Tatsachen möglich und verstößt nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze; sie bindet daher den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO). Sie steht auch in Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsprechung des EuGH, insbesondere den RandNrn. 22, 26 und 27 des EuGH-Urteils Hermann (in Slg. 2005, I-2025, BFH/NV Beilage 3, 2005, 210). Denn die Abgabe der Speisen an die Kunden der Klägerin geht mit einer Reihe von Dienstleistungen einher, die sich von den Vorgängen unterscheiden, die notwendig mit der Lieferung solcher Waren verbunden sind: Die Klägerin hat insbesondere i.S. der RandNr. 26 des EuGH-Urteils Hermann (in Slg. 2005, I-2025, BFH/NV Beilage 3, 2005, 210) die "Darbietung in einem geeigneten Gefäß" und die "Reinigung nach dem Verzehr" übernommen, nämlich die warmen Mahlzeiten auf eigenen Tellern bereitgestellt sowie die Teller wieder abgeholt und endgereinigt. Dies reicht für die Annahme einer sonstigen Leistung aus (vgl. auch BFH-Urteil vom 5. November 1998 V R 20/98, BFHE 187, 340, BStBl II 1999, 326).

Unschädlich ist, dass sich die Klägerin zur Erbringung ihrer Dienstleistungen teilweise des Krankenhausverbandes als Subunternehmer bedient hat (vgl. BFH-Urteil vom 20. August 1998 V R 15/98, BFHE 186, 464, BStBl II 1999, 37, unter II.2.).

5. Aus § 3 Abs. 9 Satz 4 und 5 UStG 1999 folgt nichts anderes.

a) § 3 Abs. 9 Satz 4 und 5 UStG 1999 lauten wie folgt:

"Die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle ist eine sonstige Leistung. Speisen und Getränke werden zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben, wenn sie nach den Umständen der Abgabe dazu bestimmt sind, an einem Ort verzehrt zu werden, der mit dem Abgabeort in einem räumlichen Zusammenhang steht, und besondere Vorrichtungen für den Verzehr an Ort und Stelle bereitgehalten werden."

b) Der Senat lässt offen, ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift hier vorliegen. Selbst wenn dies, wie die Klägerin meint, zu verneinen wäre, ergäbe sich hieraus nicht im Umkehrschluss, dass die Klägerin Lieferungen ausgeführt hätte; denn sie hat Dienstleistungen i.S. des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG, § 3 Abs. 9 Satz 1 UStG 1999 erbracht.

Im Übrigen ergibt sich aus RandNr. 23 des EuGH-Urteils Hermann (in Slg. 2005, I-2025, BFH/NV Beilage 3, 2005, 210), dass der EuGH davon ausgeht, dass nicht jede Abgabe von Speisen zum Verzehr an Ort und Stelle eine Dienstleistung ist. Daraus folgt, dass der Wortlaut des § 3 Abs. 9 Satz 4 UStG 1999 nicht in vollem Umfang richtlinienkonform ist.



Ende der Entscheidung

Zurück