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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 25.07.2001
Aktenzeichen: VI R 18/99
Rechtsgebiete: EStG, AO 1977


Vorschriften:

EStG § 70 Abs. 3
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1

Entscheidung wurde am 11.01.2002 korrigiert: unter aa) muß es statt "Die Aufhebung der Änderung" richtig "Die Aufhebung oder Änderung" heißen
§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 wird nicht durch § 70 Abs. 3 EStG verdrängt; beide Vorschriften sind nebeneinander anwendbar.
Gründe:

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Vater eines 1972 geborenen Sohnes und einer 1975 geborenen Tochter. Nach der Trennung des Klägers von seiner Ehefrau lebten die Kinder im Haushalt des Klägers. Im Rahmen der Antragstellung für das Kindergeld im Mai/Juni 1995 gab der Kläger an, dass seine Ehefrau für die Kinder Kindergeld, möglicherweise auch Kindergeldzuschlag beziehe oder bezogen habe. Die Frage, ob in den letzten sieben Monaten vor der Antragstellung für seine Kinder ein Kinderzuschuss zu einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden sei, verneinte der Kläger. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Arbeitsamt --Familienkasse--) bewilligte mit Bescheid vom 23. November 1995 Kindergeld für den Sohn und mit Bescheid vom 10. Januar 1996 Kindergeld für die Tochter des Klägers jeweils rückwirkend ab November 1994.

Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) teilte der Familienkasse am 18. Juli 1996 mit, dass für den Sohn des Klägers bis einschließlich August 1995 Anspruch auf Kinderzuschuss bestanden habe und für die Tochter des Klägers laufend Kinderzuschuss gewährt werde. Im August 1997 wurde durch eine weitere Mitteilung der BfA bekannt, dass ein Kinderzuschuss für den Sohn des Klägers von Januar bis August 1995 gezahlt worden sei, sowie für die Tochter des Klägers seit Januar 1995 und für den Sohn des Klägers erneut seit Oktober 1996 laufend gezahlt werde. Der Kinderzuschuss betrug für jedes Kind 152,90 DM.

Bereits am 28. November 1996 hatte die Familienkasse dem Kläger mitgeteilt, dass nach ihren Feststellungen von der BfA ein Kinderzuschuss gezahlt werde und bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit ab Dezember 1996 der mögliche Kinderzuschuss angerechnet werde, um weitere Überzahlungen zu vermeiden. Sie zahlte in der Folge das Kindergeld vermindert um den Kinderzuschuss von 152,90 DM je Kind aus. Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 11. November 1997 änderte die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder des Klägers unter Berufung auf § 173 der Abgabenordnung (AO 1977) rückwirkend ab Januar 1996 sowie für die Zukunft. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe bei der Antragstellung nicht angegeben, dass für seine Kinder ein Kinderzuschuss zur Rente gezahlt wurde. Gleichzeitig forderte die Familienkasse das für die Zeit von Januar bis September 1996 zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von 1 368 DM (Kinderzuschuss für die Tochter, 9 x 152 DM) sowie das für die Monate Oktober und November 1996 zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von 610 DM (Kinderzuschuss für beide Kinder, 2 x 305 DM), insgesamt 1 978 DM, zurück.

Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Einspruch hiergegen erhobene Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 481 veröffentlichten Gründen ab.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung des § 70 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Das FG habe zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 EStG bejaht. § 70 Abs. 2 EStG setze eine Änderung der Verhältnisse voraus. Nach der Bewilligung des Kindergeldes hätten sich jedoch die Verhältnisse nicht geändert; vielmehr sei der Kinderzuschuss bereits zum Zeitpunkt der Bewilligung geleistet worden. Die Kindergeldfestsetzung sei somit von Anfang an unrichtig gewesen mit der Folge, dass allein § 70 Abs. 3 EStG anwendbar sei. Nach dieser Vorschrift sei eine Änderung oder Aufhebung der Kindergeldfestsetzung jedoch nur mit Wirkung für die Zukunft möglich. § 70 Abs. 2 und 3 EStG seien gegenüber §§ 172 ff. AO 1977 als leges speciales anzusehen. Zudem hätte die Familienkasse sowohl nach § 70 Abs. 3 EStG als auch bei der Anwendung des § 172 AO 1977 eine Ermessensentscheidung zu treffen gehabt und entsprechend die Ausübung ihres Ermessens begründen müssen. Die Familienkasse habe jedoch kein Ermessen ausgeübt. Selbst wenn man aber die Anwendbarkeit des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bejahen wollte, so lägen dessen Voraussetzungen nicht vor. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ermögliche eine Änderung eines Bescheides, wenn nachträglich neue Tatsachen bekannt werden. Die maßgeblichen Tatsachen müssten also nach Bekanntgabe des ursprünglichen und vor Erlass des Änderungsbescheides bekannt werden. In seinem Falle seien Tatsachen danach nur dann als neu zu werten, wenn sie zwischen Erlass des ersten Bescheides vom 28. November 1996 und des zweiten, hier im Streit stehenden Bescheides vom 11. November 1997 bekannt geworden wären. Die Tatsache, dass für die Kinder des Klägers ein Kinderzuschuss geleistet worden sei, sei der Familienkasse jedoch bereits vor Erlass des Bescheides vom 28. November 1996 bekannt gewesen.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung sowie den angefochtenen Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben.

Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Kindergeldfestsetzung hinsichtlich des Sohnes des Klägers habe gemäß § 70 Abs. 2 EStG geändert werden können, da sich durch die Wiederaufnahme der Zahlung des Kinderzuschusses die für die Festsetzung des Kindergeldes erheblichen Verhältnisse geändert hätten. Hinsichtlich der Tochter des Klägers sei die Änderung der Kindergeldfestsetzung gemäß § 173 AO 1977 zulässig gewesen, da die Tatsache, dass für die Tochter durchgängig ein Kinderzuschuss gezahlt worden sei, der Familienkasse aufgrund der falschen Tatsachenangaben des Klägers zunächst nicht bekannt gewesen sei.

Die Revision ist unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Dem Kläger stand von Januar bis September 1996 nur Kindergeld gemindert um den für seine Tochter geleisteten Kinderzuschuss zur Erwerbsunfähigkeitsrente sowie ab Oktober 1996 nur Kindergeld gemindert um den für seine beiden Kinder geleisteten Kinderzuschuss zu.

Gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG wird Kindergeld nicht für Kinder gezahlt, für die Kinderzuschüsse aus der gesetzlichen Rentenversicherung geleistet werden. Ist allerdings der Bruttobetrag des Kinderzuschusses aus der Rentenversicherung niedriger als das Kindergeld nach § 66 EStG, wird gemäß § 65 Abs. 2 EStG Kindergeld in Höhe des Unterschiedsbetrages gezahlt, wenn dieser mindestens 10 DM beträgt. Da für die Tochter des Klägers seit Januar 1996 laufend und für seinen Sohn ab Oktober 1996 ein Kinderzuschuss zur Erwerbsunfähigkeitsrente in Höhe von 152,90 DM monatlich je Kind gezahlt wurde, hatte der Kläger in diesen Monaten nur Anspruch auf den Unterschiedsbetrag nach § 65 Abs. 2 EStG.

2. Die Familienkasse war berechtigt, die Kindergeldfestsetzungen für die Kinder des Klägers zu ändern.

a) Rechtsgrundlage für die Änderung der Kindergeldfestsetzung hinsichtlich des Sohnes des Klägers ist, wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, § 70 Abs. 2 EStG.

aa) Nach dieser Vorschrift ist die Festsetzung des Kindergeldes aufzuheben oder zu ändern, soweit sich die für den Anspruch auf Kindergeld erheblichen Verhältnisse ändern. Die Aufhebung oder Änderung erfolgt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse. Eine Änderung der Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG ist die Änderung der tatsächlichen oder auch rechtlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes (Greite in Korn, § 70 EStG Rz. 15). § 70 Abs. 2 EStG lässt dabei die rückwirkende Aufhebung oder Änderung der Festsetzung zum Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse nicht nur zu, sondern erzwingt sie bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen, denn die Entscheidung über die Aufhebung oder Änderung ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut (" ... ist ... aufzuheben oder zu ändern.") eine gebundene Entscheidung und räumt der Behörde keinen Ermessensspielraum ein.

bb) Das für den Sohn des Klägers im Jahr 1995 noch unter Geltung der Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes a.F. ohne Berücksichtigung eines Kinderzuschusses zur Rente festgesetzte Kindergeld gilt gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 EStG a.F. als zum 1. Januar 1996 nach den Vorschriften des EStG festgesetzt (vgl. Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 78 EStG Anm. 10). Diese Festsetzung war rechtmäßig, da ab Januar 1996 kein Kinderzuschuss für den Sohn des Klägers gezahlt wurde. Eine Änderung der Verhältnisse liegt in der Wiederaufnahme der Leistung eines Kinderzuschusses für den Sohn des Klägers ab Oktober 1996. Sie ist auch für den Anspruch auf Kindergeld erheblich, da die Leistung des Kinderzuschusses gemäß § 65 EStG zu einer Verminderung des Anspruchs des Klägers führt.

cc) Unerheblich ist es im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG, wann der Familienkasse der Umstand bekannt wurde, dass für den Sohn des Klägers ein Kinderzuschuss geleistet wurde. Ebenso wenig kommt es darauf an, dass die Familienkasse in dem angefochtenen Bescheid als Rechtsgrundlage für die Änderung irrtümlich § 173 AO 1977 angegeben hat.

b) Rechtsgrundlage für die Änderung der Kindergeldfestsetzung hinsichtlich der Tochter der Klägers ist § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977.

aa) § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 wird nicht, wie der Kläger meint, durch § 70 Abs. 2 und 3 EStG verdrängt. Das Kindergeld wird seit der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt. Auf die Festsetzung einer Steuervergütung finden gemäß § 155 Abs. 4 AO 1977 die Vorschriften über die Steuerfestsetzung --also auch § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977-- sinngemäß Anwendung. § 70 Abs. 2 und 3 EStG ergänzt diese Vorschriften lediglich im Hinblick darauf, dass die Bestimmungen der AO 1977 auf Dauerverwaltungsakte, wie es Kindergeldbescheide sind, nicht zugeschnitten sind (BTDrucks 13/3084, S. 21).

Die Anwendbarkeit des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 neben § 70 Abs. 3 EStG wird von der ganz herrschenden Meinung zu Recht bejaht (Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 70 EStG Anm. 16; Berlebach, Familienleistungsausgleich, § 70 EStG Rdnr. 22 ff.; Greite in Korn, § 70 EStG Rz. 13; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 7. Aufl. 2000, § 173 Rz. 9). § 70 Abs. 3 EStG betrifft die Fälle, in denen der zutreffende Sachverhalt der Familienkasse bekannt ist, sie die ihr bekannten Tatsachen jedoch rechtlich unzutreffend würdigt, oder ihrer Entscheidung irrtümlich einen unrichtigen Sachverhalt zugrunde legt. In diesen Fällen schafft § 70 Abs. 3 EStG einen Interessenausgleich dahin gehend, dass die Familienkasse nicht über einen längeren Zeitraum hinweg an die später als unrichtig erkannte Festsetzung gebunden bleibt (vgl. BTDrucks 13/3084, S. 21), der Kindergeldberechtigte jedoch für die Vergangenheit Vertrauensschutz hinsichtlich der fehlerhaften Festsetzung genießt. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 greift demgegenüber ein, wenn der Familienkasse der zutreffende Sachverhalt zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht bekannt war. Für die Gewährung von Vertrauensschutz zugunsten des Kindergeldberechtigten besteht in diesen Fällen über die Anwendung des § 176 AO 1977 hinaus kein Anlass.

bb) Die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 liegen vor. Nach dieser Vorschrift sind Bescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer bzw. einer geringeren Steuervergütung führen. Der Umstand, dass für die Tochter des Klägers ein Kinderzuschuss zur Erwerbsunfähigkeitsrente gezahlt wurde, ist eine Tatsache in diesem Sinn. Diese Tatsache wurde der Familienkasse auch erst nachträglich bekannt. Eine Tatsache wird dann nachträglich bekannt, wenn sie bei Erlass des Bescheides bereits vorhanden, der Behörde jedoch nicht bekannt war. Maßgeblicher Bescheid ist hier die Kindergeldfestsetzung vom 10. Januar 1996 und nicht, wie der Kläger meint, das Schreiben vom 28. November 1996. In dem letztgenannten Schreiben ist kein Verwaltungsakt zu sehen; es handelt sich vielmehr um eine bloße Mitteilung der Familienkasse. Die Tatsache, dass für die Tochter des Klägers ein Kinderzuschuss zur Erwerbsunfähigkeitsrente gezahlt wurde, wurde der Familienkasse erst nach dem 10. Januar 1996 und somit nachträglich bekannt. Dieser Umstand führt schließlich auch zu einer niedrigeren Steuervergütung, denn das Kindergeld für die Tochter des Klägers ist danach gemäß § 65 Abs. 2 EStG um den für sie geleisteten Kinderzuschuss zu vermindern.

3. Da aufgrund der rechtmäßigen Änderung der Kindergeldfestsetzungen für die Kinder des Klägers der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes insoweit weggefallen war, als es den nach § 65 Abs. 2 EStG zu leistenden Betrag überstieg, konnte die Familienkasse gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 das danach zuviel gezahlte Kindergeld in Höhe von 1 978 DM zurückfordern.

Ende der Entscheidung

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