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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.12.2006
Aktenzeichen: VI R 63/02
Rechtsgebiete: AO 1977, FGO


Vorschriften:

AO 1977 § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
AO 1977 § 351 Abs. 1
FGO § 42
FGO § 99 Abs. 2
FGO § 110
FGO § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
FGO § 110 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Streitjahr 1995 technischer Redakteur bei der Firma B. Zu seinem Aufgabengebiet gehörte u.a.

- das Übersetzen der Kunden-Handbücher und Produktinformationen in deutsch-englischer und englisch-deutscher Sprache,

- das Umarbeiten englischer Bediener-Oberflächen in die deutsche Sprache und das Einarbeiten in die Software und

- die Terminologie-Vorgabe für fremdsprachige Übersetzungen bei Vergabe von Übersetzungs- und Layout-Arbeiten an externe Büros.

In der Zeit vom 9. bis 20. Oktober 1995 nahm der Kläger an einem zweiwöchigen Sprachkurs in New York teil. Nach der Bescheinigung des Veranstalters handelte es sich um einen "Hochintensivkurs" mit 20 Stunden Gruppenunterricht und 10 Stunden Einzelunterricht pro Woche. Der Gruppenunterricht fand von Montag bis Freitag von 9.30 bis 11.00 Uhr und von 11.30 bis 13.00 Uhr, der Einzelunterricht von 14.00 bis 15.30 Uhr statt. Während des Kurses war der Kläger bei einer amerikanischen Gastfamilie untergebracht. Für den Weg zur Unterrichtsstätte benötigte der Kläger rd. 30 Minuten. Der Kläger flog am 7. Oktober 1995, einem Samstag, von X nach New York und kehrte am 24. Oktober 1995, einem Dienstag, nach X zurück.

Der Kläger machte bei seiner Einkommensteuer-Erklärung 1995 die Kosten der Auslands-Sprachreise in Höhe von 7 390 DM als Werbungskosten bei seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit geltend.

Bei der Einkommensteuer-Veranlagung berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lediglich Aufwendungen in Höhe von 4 110 DM als Werbungskosten. Dieser Betrag setzte sich aus dem Preis für den Sprachkurs (3 495 DM), Verpflegungsmehraufwendungen für 10 Unterrichtstage (556 DM) und Fachliteratur (59 DM) zusammen. Dabei vertrat das FA die Auffassung, nur an 10 Tagen könne ein hinreichender Zusammenhang mit der Berufstätigkeit des Klägers angenommen werden.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab, mit der der Kläger den restlichen Betrag in Höhe von 3 280 DM als Werbungskosten geltend gemacht hatte. Das Urteil vom 29. Januar 1998 (Az.: 6 K 352/97 - im Folgenden kurz: Ersturteil) wurde rechtskräftig.

Das FA nahm das Ersturteil zum Anlass, den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und die bisher als Werbungskosten anerkannten Aufwendungen in Höhe von 4 110 DM gleichfalls den privaten Lebensführungskosten zuzuweisen. Die bisherige Steuerfestsetzung sei zu Lasten des Klägers zu ändern, weil im finanzgerichtlichen Verfahren nachträglich Tatsachen und Beweismittel bekannt worden seien, die zu einer höheren Steuer führten. Der Kläger habe Unterlagen zu den Kursinhalten vorgelegt, aus denen sich ergebe, dass der besuchte Sprachkurs nicht so gut wie ausschließlich auf die beruflichen Bedürfnisse des Klägers ausgerichtet gewesen sei. Dies ergebe sich auch aus den einschlägigen Ausführungen im Ersturteil.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte keinen Erfolg.

Mit seiner Revision bringt der Kläger im Wesentlichen vor, das angefochtene Urteil sei in mehreren Punkten rechtsfehlerhaft. Die Voraussetzungen für eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 seien nicht gegeben. Es sei nicht ersichtlich, welche neuen Tatsachen dem FA im Rahmen des ursprünglichen Verfahrens vor dem FG bekannt geworden sein sollen. Alle vom FG gewürdigten Unterlagen hätten bereits dem FA bei der Durchführung der Veranlagung 1995 vorgelegen. Eine nähere Substantiierung der angeblich nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen sei nicht erfolgt. Die Beweislast hierfür trage jedoch das FA.

Das FG habe zu Unrecht darauf abgestellt, dass die Rechtskraft des (klageabweisenden) Ersturteils für die Überprüfung des jetzt angefochtenen Einkommensteuerbescheids ein "nicht überwindbares Hindernis" darstelle. Die Streitgegenstände des alten und des neuen Klageverfahrens seien nicht identisch. Die Rechtsauffassung des FG im angefochtenen Urteil weiche vom Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. Juli 1967 GrS 1/66 (BFHE 91, 393, BStBl II 1968, 344) ab.

In der Sache bestünden im Übrigen keine Zweifel daran, dass der Sprachkurs durch die besonderen beruflichen Gegebenheiten des Klägers veranlasst gewesen sei. Die Aufwendungen des Klägers seien deshalb --wenngleich begrenzt durch die Rechtskraft des Ersturteils-- als Werbungskosten zu berücksichtigen. Er, der Kläger, habe die Berufsbezogenheit des Sprachkurses auch im zweiten Verfahren vor dem FG insbesondere durch Benennung von Zeugen unter Beweis gestellt. Dem FG seien Verfahrensfehler unterlaufen, da es die angebotenen Beweise zur Berufsbezogenheit der Aufwendungen nicht erhoben habe.

Der Kläger beantragt, die angefochtene Vorentscheidung, den geänderten Einkommensteuerbescheid für 1995 vom 15. April 1998 und die Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 1998 aufzuheben,

hilfsweise die Sache nach Aufhebung der Vorentscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es vertritt die Auffassung, die ursprüngliche Steuerfestsetzung sei zutreffend nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geändert worden. Über die Frage, ob die Kosten für den Sprachkurs als Werbungskosten zu berücksichtigen seien, sei im Ersturteil rechtskräftig entschieden worden. An diese Entscheidung seien die Beteiligten auch im jetzigen gerichtlichen Verfahren gebunden.

II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG vom 2. September 1999 6 K 294/88, der angefochtene geänderte Einkommensteuerbescheid vom 15. April 1998 und die Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 1998 sind aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Nach § 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 1 AO 1977 können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, grundsätzlich nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht. Mit dieser Regelung wird sichergestellt, dass der bestandskräftig geregelte, unveränderte Teil des Verwaltungsakts im Interesse der Rechtssicherheit unberührt bleibt (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 42 Rz. 7). Hinsichtlich des Anfechtungsrahmens kommt es auf den jeweiligen Tenor (Ausspruch) des Erstbescheids einerseits und des nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 geänderten Steuerbescheids andererseits an. Hinsichtlich dieser Beschwer ist der Kläger berechtigt, den geänderten Bescheid anzufechten. Dabei kann der Kläger nach ständiger Rechtsprechung und ganz herrschender Meinung innerhalb des Änderungsrahmens nicht nur sämtliche Einwendungen, die sich nach Erlass des ursprünglichen Bescheids ergeben haben, geltend machen; vielmehr ist er auch berechtigt, solche Einwendungen vorzubringen, die er bereits gegen den ursprünglichen Bescheid hätte vorbringen können (vgl. z.B. Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 42 FGO Rz. 37 und 103, m.w.N.). Dies ist eine Konsequenz daraus, dass bei der Steuerfestsetzung nur die festgesetzten Beträge, nicht jedoch die rechtlichen Begründungen in Bestandskraft (bzw. Rechtskraft) erwachsen.

2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ergibt sich aus der Vorschrift des § 110 FGO nichts Anderes.

a) Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Dem Erlass eines späteren Verwaltungsakts steht die Rechtskraftwirkung eines früheren Urteils deshalb dann entgegen, wenn dieses denselben Streitgegenstand betrifft.

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH erfährt der allgemeine Streitgegenstandsbegriff im Rahmen des § 110 Abs. 1 FGO indessen eine Einschränkung dadurch, dass die materielle Rechtskraftwirkung auf den Teil des Streitgegenstands begrenzt ist, über den jeweils entschieden worden ist (BFH-Urteil vom 21. November 1989 VII R 3/88, BFH/NV 1990, 650; Gräber/von Groll, a.a.O., § 110 Rz. 13; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 110 FGO Tz. 10; Lange in HHSp, § 110 FGO Rz. 48). Deshalb differenziert die Rechtsprechung im Rahmen des § 110 Abs. 1 FGO zwischen Streitgegenstand und Entscheidungsgegenstand. Zu beachten ist ferner, dass über den Streitgegenstand auch insoweit nicht entschieden wird (bzw. werden kann), als das Gericht in einem Sachurteil einerseits nicht zugunsten des Klägers über dessen Klagebegehren hinausgehen (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO), andererseits den Steuerbescheid nicht zum Nachteil des Klägers ändern darf (zutreffend Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 110 FGO Tz. 10).

Der sachliche Umfang der materiellen Rechtskraft ergibt sich in erster Linie aus der Urteilsformel. Wie weit die Bindungswirkung im Einzelfall reicht, muss im Zweifel durch Auslegung ermittelt werden (siehe auch BFH-Beschluss vom 25. Februar 2004 I B 130/03, BFH/NV 2004, 969). Zum Verständnis der Urteilsformel sind erforderlichenfalls Tatbestand und Entscheidungsgründe heranzuziehen (Gräber/von Groll, a.a.O., § 110 Rz. 14, m.w.N.; vgl. auch BFH-Beschluss vom 2. April 2002 IX B 66/01, BFH/NV 2002, 898). Dies bedeutet indessen nicht, dass die Begründung eines Urteils als solche bzw. die Urteilselemente rechtskraftfähig wären. Diese können nicht in Rechtskraft erwachsen.

b) Nach § 110 Abs. 2 FGO bleiben die Vorschriften der Abgabenordnung über die Änderung von Verwaltungsakten unberührt, soweit sich aus Abs. 1 Satz 1 nichts anderes ergibt. Dies bedeutet, dass das FA einen Verwaltungsakt nach einem rechtskräftigen Sachurteil nur noch insoweit korrigieren darf, als über den Streitgegenstand (genauer: Entscheidungsgegenstand) nicht entschieden worden ist. Eine Änderung wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel (im Streitfall: § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977) ist insoweit zulässig, als der Entscheidungsgegenstand nicht betroffen ist.

3. Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen erweist sich die Vorentscheidung als widersprüchlich. Entgegen der Auffassung des FG sind die Entscheidungsgegenstände des alten und des neuen Klageverfahrens nicht identisch.

Der Entscheidungsgegenstand des Ersturteils umfasste die Frage, ob der Kläger den vom FA nicht anerkannten Restbetrag in Höhe von 3 280 DM als Werbungskosten erfolgreich geltend machen konnte. Dies hat das FG rechtskräftig abgelehnt. Entscheidungsgegenstand --da auch nicht streitig-- war im ursprünglichen Verfahren jedoch nicht die Frage, ob der vom FA als Werbungskosten anerkannte Betrag in Höhe von 4 110 DM (insbesondere Lehrgangsgebühren) anzuerkennen war. Das FG hat zwar im Ersturteil die Auffassung vertreten, der Auslandssprachkurs sei (insgesamt) nicht ausschließlich beruflich veranlasst. Insoweit handelte es sich dort nur um ein Begründungselement, das einer Rechtskraft nicht fähig war. Anders hätte dies nur sein können, wenn das FG eine Vorabentscheidung nach § 99 Abs. 2 FGO (Zwischenurteil) erlassen hätte.

Im Streitfall hat das FA einen zu Lasten des Klägers gehenden Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 erlassen. Das FG geht insoweit selbst davon aus, dass dieser Bescheid einen anderen Entscheidungsgegenstand betrifft; wäre es anders, so hätte das FG den Änderungsbescheid bereits wegen bestehender Bindungswirkung aufheben müssen.

Betrifft der vorliegende Änderungsbescheid indessen einen anderen Streitgegenstand (Entscheidungsgegenstand), so kann dem Kläger --anders als die Vorinstanz meint-- nicht entgegengehalten werden, die (nicht rechtskraftfähige) Begründung aus dem Ersturteil greife auch im vorliegenden Verfahren durch.

4. Die Sache ist spruchreif (vgl. Bergkemper in HHSp, § 126 FGO Rz. 45). Unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Senats zur Anerkennung von Sprachkursen im Ausland (vgl. hierzu z.B. Urteile vom 19. Dezember 2005 VI R 88/02, BFH/NV 2006, 730; vom 19. Dezember 2005 VI R 89/02, BFH/NV 2006, 934; vom 19. Dezember 2005 VI R 65/04, BFH/NV 2006, 1075 mit Anmerkung Greite, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2006, 568; umfassend: Schmidt/Drenseck, EStG, 25. Aufl., § 12 Rz. 25, Stichwort: Sprachkurs) und der insoweit vorhandenen tatsächlichen Entscheidungsgrundlage ist der vom Kläger durchgeführte Intensivkurs als beruflich veranlasst anzuerkennen.

5. Bei dieser Sach- und Rechtslage braucht der Senat nicht dazu Stellung zu nehmen, ob es sich bei den im ursprünglichen Gerichtsverfahren vorgelegten Unterlagen --wie das FG und das FA meinen-- um neue Tatsachen gehandelt hat, die eine Änderung zu Lasten des Klägers rechtfertigten. Der Senat lässt auch die Frage offen, ob auszuschließen ist, dass sich (lediglich) die Rechtsauffassung des FA (im Anschluss an das Ersturteil) geändert hat (vgl. Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 173 AO Tz. 3; Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 173 Rz. 12). Der Senat braucht ferner der Frage nicht nachzugehen, ob das FG dem Beweisantritt des Klägers hinsichtlich der Berufsbezogenheit des Sprachkurses verfahrensfehlerhaft nicht nachgekommen ist.

Ende der Entscheidung

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