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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 19.03.2002
Aktenzeichen: VIII R 62/00
Rechtsgebiete: AO 1977, EStG, StAnpG, SGB I, FGO


Vorschriften:

AO 1977 § 8
AO 1977 § 9
EStG § 62 Abs. 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 1
EStG § 63 Abs. 1 Satz 3
StAnpG § 13
SGB I § 30 Abs. 3 Satz 1
FGO § 96 Abs. 1
FGO § 118 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) und ihr seit Oktober 1997 von ihr getrennt lebender Ehemann, ein gebürtiger Pakistani, haben drei Kinder, die 1979, 1982 und 1985 geboren sind. Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) überwies für die Zeit von August 1997 bis Januar 1998 auf ein gemeinsam von den Eheleuten angegebenes Konto 3 240 DM Kindergeld.

Mit Bescheid vom 18. August 1998 hob der Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes auf und forderte von der Klägerin 3 240 DM Kindergeld mit der Begründung zurück, dass die Kinder seit dem 29. Juli 1997 in Pakistan gelebt und somit keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt hätten.

Der Ehemann hatte die drei Kinder im Juli 1997 unter Vorspiegelung eines Urlaubsbesuchs nach Pakistan gebracht und sie dort gegen ihren Willen gefangen gehalten. Unter Einschaltung des Auswärtigen Amtes und der zuständigen Polizeibehörden wurden die Kinder nach Deutschland zurückgebracht. Sie befinden sich seit Mitte Oktober 1998 wieder bei der Klägerin.

Der Ehemann wurde vom Landgericht K wegen Freiheitsberaubung in einem besonders schweren Fall zu einer Haftstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt.

Der Beklagte wies den Einspruch der Klägerin mit der Begründung zurück, dass die Umstände, die dazu geführt hätten, dass die Kinder nicht mehr in ihrem Haushalt gelebt hätten, ohne Bedeutung seien.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Aufhebungsbescheid auf. Es entschied, die Kinder hätten auch während ihres Aufenthalts in Pakistan ihren Wohnsitz im Inland bei der Klägerin nicht aufgegeben. Deren Wohnung habe objektiv zur Nutzung durch die Kinder zur Verfügung gestanden und sei subjektiv auch dazu bestimmt gewesen. Jedenfalls bei einer erzwungenen Abwesenheit von wenig mehr als einem Jahr könne nicht von einer Aufgabe der Wohnung gesprochen werden.

Der Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 8 der Abgabenordnung (AO 1977) i.V.m. §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.

Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass der angefochtene Aufhebungsbescheid (§ 70 Abs. 2 EStG) in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig und deshalb aufzuheben ist (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Klägerin konnte entgegen der Auffassung der Revision in der Zeit von August 1997 bis Januar 1998 gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG Kindergeld für ihre drei Kinder beanspruchen. Zwar werden nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG Kinder nicht berücksichtigt, wenn sie weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet. Aber die Entscheidung des FG, die drei Kinder der Klägerin hätten im streitigen Zeitraum trotz ihres zwangsweisen Aufenthalts in Pakistan ihren Wohnsitz weiterhin bei ihrer Mutter im Inland beibehalten, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

1. Was unter Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG zu verstehen ist, beurteilt sich nach den §§ 8, 9 AO 1977. Melderechtliche Normen sowie bürgerlich-rechtliche Vorschriften zur Begründung, Beibehaltung und Aufgabe eines Wohnsitzes sind für die Auslegung dieser Vorschriften unmaßgeblich (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BFHE 178, 294, BStBl II 1996, 2, 3). Nach § 8 AO 1977 hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird.

Im Streitfall ist unstreitig, dass die Kinder der Klägerin bis zu ihrer Reise nach Pakistan im Juli 1997 ihren Wohnsitz in der Wohnung ihrer Mutter im Inland hatten. Deshalb stünde der Klägerin für die Zeit von August 1997 bis Januar 1998 nur dann kein Kindergeld zu, wenn die Kinder ihren Wohnsitz in Deutschland aufgegeben hätten.

a) Der Reichsfinanzhof (RFH) hat zu dem nahezu mit § 8 AO 1977 wortlautgleichen § 13 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) entschieden, dass die Aufgabe des Wohnsitzes im Inland vollzogen sei, sobald Umstände eingetreten seien, die erkennen ließen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde (Entscheidungen vom 16. März 1939 III 49/39, RStBl 1939, 537, 538; vom 23. Februar 1939 III 41/39, RStBl 1939, 643, 644; vom 8. Dezember 1939 III 299/38, RStBl 1939, 328). Bei einer Auslandsreise könne dies der Zeitpunkt der Ausreise oder ein späterer Zeitpunkt sein, wenn sich der Steuerpflichtige zunächst nur vorübergehend im Ausland aufgehalten habe (vgl. Entscheidung vom 27. Juli 1938 III 193/38, RStBl 1938, 1076, 1077). Bei einem ursprünglich vorübergehenden Auslandsaufenthalt sei dann entscheidend, in welchem Zeitpunkt Umstände eingetreten seien, die die Annahme rechtfertigten, dass der Steuerpflichtige nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde (RFH in RStBl 1938, 1076, 1077). Die Würdigung, ob die festgestellten Umstände erkennen ließen, dass der Steuerpflichtige nicht mehr nach Deutschland zurückkehren werde, liege auf tatsächlichem Gebiet, sei daher Aufgabe der Tatsacheninstanz und vom RFH nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. RFH-Entscheidungen vom 24. Oktober 1935 III A 234/53, RStBl 1935, 1395; vom 18. Februar 1937 III A 183/36, RStBl 1937, 382; in RStBl 1939, 537, 538; in RStBl 1938, 1076, 1077; in RStBl 1939, 643, 644).

b) Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich mit dem Wohnsitz eines Kindes im Zusammenhang mit § 2 Abs. 5 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) befasst. Danach werden Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes haben, nicht berücksichtigt. Das BSG hat zu dieser Vorschrift i.V.m. § 30 Abs. 3 Satz 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I), der mit der Legaldefinition des § 8 AO 1977 wörtlich übereinstimmt, entschieden, dass Kinder keinen Wohnsitz im Inland haben, wenn sie von ihrem algerischen Vater gegen den Willen der sorgeberechtigten Mutter zu seinen Eltern gebracht worden sind und dort leben (Urteil vom 14. April 1983 10 RKg 15/82, SozSich 1984, RsprNr. 3794). Der Wille der sorgeberechtigten Mutter sei ohne Bedeutung, weil ein nicht realisierbarer Wille nicht zur Begründung oder Beibehaltung eines Wohnsitzes führen könne. Unerheblich sei auch, ob die Entfernung aus dem Heimatland freiwillig oder unfreiwillig geschehen sei.

Das BSG hat zur verfahrensrechtlichen Situation ausgeführt, dass sich in Anwendung des § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtung entscheiden lasse, ob jemand seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG habe (Urteile vom 17. Mai 1989 10 RKg 19/88, BSGE 65, 84, 86; vom 30. September 1996 10 RKg 29/95, BSGE 79, 147, 148). Die Prognose und die Feststellung der dafür erheblichen Anhaltspunkte obliege den Tatsachengerichten. Es handele sich um die Feststellung einer hypothetischen Tatsache, die im Revisionsverfahren mit Verfahrensrügen angegriffen werden könne und die nur dann rechtsfehlerhaft sei, wenn das Gericht --unter Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung oder unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht-- die zugrunde zu legenden Fakten nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt habe bzw. wenn die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruhe (vgl. BSG in BSGE 65, 84, 87; in BSGE 79, 147, 151).

c) Auch der BFH nimmt an, dass die Entscheidung, ob jemand eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird, eine Prognose, d.h. eine Schlussfolgerung aus den festgestellten Umständen auf ein zukünftiges Verhalten, erfordert (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 107/99, BFHE 193, 558, BStBl II 2001, 294, 296). Prognoseentscheidungen des FG werden revisionsrechtlich den tatsächlichen Feststellungen i.S. des § 118 Abs. 2 FGO zugeordnet und sind deshalb vom Revisionsgericht nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 9. Mai 2000 VIII R 77/97, BFHE 192, 445, BStBl II 2000, 660, 662; BFH-Beschluss vom 14. April 2000 X B 118/99, BFH/NV 2000, 1333, 1334). Sie sind vom FG unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles (§ 96 Abs. 1 FGO) zu treffen (vgl. BFH-Urteile vom 30. August 1989 I R 215/85, BFHE 158, 118, BStBl II 1989, 956; in BFHE 178, 294, BStBl II 1996, 2, 3).

2. Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist für die Entscheidung, ob ein Kind, das von einem Elternteil ins Ausland entführt worden ist oder dort gegen seinen Willen festgehalten wird, seinen bisherigen inländischen Wohnsitz i.S. des § 8 AO 1977 aufgegeben hat, ausschlaggebend, ob die Umstände darauf schließen lassen, dass das Kind nicht zurückkehren wird. Von dieser Voraussetzung ist auch das FG im Streitfall ausgegangen. Seine Auffassung, die Umstände hätten nicht den Schluss zugelassen, dass die Kinder der Klägerin nicht in deren Wohnung zurückkehren würden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Aus der Feststellung des FG, dass die Kinder unter Einschaltung des Auswärtigen Amtes und der zuständigen Polizeibehörden nach Deutschland zurückgebracht wurden, ergibt sich, dass die Klägerin, als sie erkannt hatte, dass der Vater die Kinder in Pakistan festhielt, alle erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Schritte eingeleitet hat, um ihre Kinder zurückzuerhalten. Das FG hat keine Tatsachen festgestellt und der Beklagte hat auch keine Gesichtspunkte vorgetragen, die dafür gesprochen hätten, dass dieses ernsthafte Bemühen der Klägerin um eine Rückkehr ihrer Kinder von vornherein keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.

Das FG hat seine Auffassung, die Kinder hätten ihren Wohnsitz in Deutschland nicht aufgegeben, weiter darauf gestützt, dass die objektiven Umstände bezüglich der Wohnung der Mutter im Inland unverändert gewesen seien; deshalb sei auch nach Ablauf der Ferienzeit der Kinder weiterhin der Schluss zulässig gewesen, dass die Wohnung gehalten werde, um sie durch die Kinder zu nutzen. In Fällen einer erzwungenen Abwesenheit --wie sie im Streitfall vorliege-- ließen die objektiven Umstände jedenfalls für einen überschaubaren Zeitraum gerade nicht darauf schließen, dass die Wohnung nicht mehr als solche genutzt werden solle. Auch könne im Falle einer Entführung von der Bildung eines natürlichen Aufgabewillens keine Rede sein.

Diese Ausführungen lassen keine Rechtsfehler und auch keinen Verstoß gegen Erfahrungssätze oder Denkgesetze erkennen. Der Beklagte hat im Revisionsverfahren zwar gerügt, dass das FG nicht geklärt habe, ob die Kinder überhaupt einen "natürlichen Willen" zur Beibehaltung des Wohnsitzes in Deutschland besessen hätten. Soweit der Beklagte damit einen Verfahrensfehler geltend machen will, hat er diesen aber nicht schlüssig dargelegt. Denn das FG hat festgestellt, dass der Vater der Kinder wegen Freiheitsberaubung zu einer Haftstrafe verurteilt worden ist. Daraus konnte das FG folgern, dass jedenfalls die beiden älteren Kinder gegen ihren "natürlichen Willen" in Pakistan festgehalten worden waren und ihren Wohnsitz in Deutschland nicht hatten aufgeben wollen. Anders wäre dies nur dann, wenn der Beklagte im Klageverfahren substantiiert und unter Beweisantritt das Gegenteil vorgetragen und dies auch in der Revisionsbegründung dargelegt hätte.



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