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Gericht: Bundesfinanzhof
Urteil verkündet am 15.12.1998
Aktenzeichen: VIII R 74/97
Rechtsgebiete: FGO


Vorschriften:

FGO § 79a Abs. 3 und 4
BUNDESFINANZHOF

Das für die Entscheidung durch den sog. konsentierten Richter (§ 79a Abs. 3 und 4 FGO) erforderliche Einverständnis der Beteiligten muß unmißverständlich erklärt werden. Hieran fehlt es jedenfalls dann, wenn der Richter die verfahrensrechtlichen Grundlagen seiner Stellung mit den Beteiligten nicht erörtert und die Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht durch einen Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe (§ 62 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz FGO) vertreten sind.

FGO § 79a Abs. 3 und 4

Urteil vom 15. Dezember 1998 - VIII R 74/97 -

Vorinstanz: FG Düsseldorf


Gründe

Mit der von der Vorinstanz nicht zugelassenen Revision rügen die verheirateten Kläger und Revisionskläger (Kläger), daß das Finanzgericht (FG) nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen sei (§ 116 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Ihre Klage richtete sich gegen die Einkommensteuerbescheide 1986 bis 1988, mit denen der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erfaßte. Berichterstatter des Klageverfahrens war zunächst Richter P. Auf seine schriftliche Mitteilung, daß die Möglichkeit bestehe, den Rechtsstreit nach § 6 FGO einem Mitglied des Senats als Einzelrichter zu übertragen, erklärten sowohl das FA als auch die Kläger, daß hiergegen keine Bedenken bestünden. Ein Senatsbeschluß nach § 6 FGO erging jedoch nicht. Nach Ausscheiden des Richters P aus dem zuständigen Senat der Vorinstanz hat der nunmehr als Berichterstatter zuständige Richter T zur mündlichen Verhandlung geladen und diese ausweislich des Protokolls "als Verhandlungsleiter" durchgeführt. Die Kläger waren in der mündlichen Verhandlung nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten. Nach dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten in der Revisionsinstanz wurde die Stellung des Richters T weder in der mündlichen Verhandlung angesprochen noch haben sich die Verfahrensbeteiligten vor Durchführung der mündlichen Verhandlung hierzu geäußert. Das Urteil der Vorinstanz, mit dem die Klage abgewiesen und die Revision nicht zugelassen wurde, weist im Rubrum Richter T "als Berichterstatter" aus.

Mit ihrer Revision machen die Kläger vor allem geltend, daß sie ihr Einverständnis zu einer Entscheidung durch den sog. konsentierten Richter nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO nicht erteilt hätten.

Sie beantragen sinngemäß, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist begründet.

Über die Klage hat nicht der gesetzlich vorgesehene Spruchkörper, sondern ein einzelner Richter dieses Kollegiums entschieden, ohne daß die hierfür erforderlichen Voraussetzungen der FGO gegeben waren. Hierin liegt ein besonders schwerwiegender Verfahrensverstoß, der dazu geführt hat, daß die Kläger ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden sind (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes --GG--; Beschluß des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. August 1997 VII B 80/97, BFH/NV 1998, 463; Urteile des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 19. Oktober 1988 IVb ZR 10/88, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1989, 229; vom 19. Oktober 1992 II ZR 171/91, NJW 1993, 600). Demgemäß ist das Urteil der Vorinstanz ohne weitere Sachprüfung aufzuheben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. §§ 119 Nr. 1, 116 Abs. 1 Nr. 1 FGO).

1. Nach § 5 Abs. 3 der FGO in der ab 1. Januar 1993 geltenden Fassung entscheiden die Senate der FG in der Besetzung von drei Richtern und zwei ehrenamtlichen Richtern, soweit nicht ein Einzelrichter entscheidet. Für letzteres sieht zum einen § 6 FGO die Möglichkeit vor, den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder durch Senatsbeschluß zur Entscheidung zu übertragen, wenn die Sache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Zum anderen kann nach § 79a Abs. 3 und Abs. 4 FGO entweder der Senatsvorsitzende oder der Berichterstatter im Einverständnis der Beteiligten anstelle des Senats entscheiden. Auch der in § 79a Abs. 3 und 4 FGO angesprochene Fall des sog. konsentierten Richters begründet nach dem Willen des Gesetzgebers eine einzelrichterliche Zuständigkeit mit der Folge, daß --gleich § 6 FGO-- die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter an die besonderen Voraussetzungen des § 5 Abs. 4 FGO gebunden ist (BTDrucks 12/3676, S. 20; vgl. auch BTDrucks 12/1061, S. 17, sowie BFH-Urteil vom 8. März 1994 IX R 58/93, BFHE 174, 107, BStBl II 1994, 571).

2. Zutreffend rügt die Revision, daß im erstinstanzlichen Verfahren weder ein Übertragungsbeschluß nach § 6 FGO gefaßt noch von den Verfahrensbeteiligten das Einverständnis zu einer Einzelrichterentscheidung nach § 79a Abs. 4 und 3 FGO erklärt wurde.

a) Abweichend von der Ansicht des FA ist ein solches Einverständnis nicht darin zu sehen, daß die Verfahrensbeteiligten gegen eine Entscheidung durch den Einzelrichter nach § 6 FGO keine Bedenken erhoben haben. Das FA verkennt hierbei nicht nur, daß es für die einzelrichterliche Entscheidung nach dieser Vorschrift keiner Zustimmung der Verfahrensbeteiligten bedarf (BFH-Beschluß vom 6. November 1997 VII S 25/97, BFH/NV 1998, 560); die Auffassung läßt vor allem unberücksichtigt, daß im Rahmen der gebotenen Ermessensausübung (vgl. hierzu Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 5. Mai 1998 1 BvL 23/97, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1998, 680) eine gemäß § 79a Abs. 3 und 4 FGO konsentierte Einzelrichterentscheidung auch dann in Betracht kommt, wenn die Voraussetzungen des § 6 FGO nicht vorliegen, weil die Rechtssache entweder besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Demgemäß kann auch eine Äußerung der Verfahrensbeteiligten, die --wie vorliegend-- lediglich zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 6 FGO Stellung nimmt, weder nach ihrem objektiven Erklärungsgehalt noch nach dem mutmaßlichen Willen des Erklärenden (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches) darauf gerichtet sein, das Einverständnis für eine Entscheidung nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO zu erteilen.

b) Den Anforderungen des § 79a Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 FGO wurde vorliegend auch nicht dadurch Genüge getan, daß der Rechtsstreit von Richter T aufgrund der von ihm durchgeführten mündlichen Verhandlung entschieden wurde. Insbesondere kann dem Umstand, daß die Kläger zur Sache verhandelt haben, weder ein konkludentes noch ein anzuerkennendes stillschweigendes Einverständnis zur Einzelrichterentscheidung entnommen werden.

In der Literatur ist umstritten, ob eine solche Prozeßhandlung, zu deren Auslegung das Revisionsgericht selbst befugt ist, grundsätzlich der Schriftform bedarf und in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll erklärt werden muß (so zu § 87a der Verwaltungsgerichtsordnung --VwGO--, Schmid in Sodan/Ziekow, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, Bd. II, § 87a Rz. 10) oder ob das Einverständnis nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO auch formfrei erteilt werden kann (vgl. z.B. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 79a Rz. 15 i.V.m. § 90 Rz. 10; zu § 87a VwGO, Ortloff in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Bd. II, § 87a Rz. 42, § 101 Rz. 9). Der Senat braucht hierzu im anhängigen Verfahren nicht Stellung zu nehmen, da auch auf der Grundlage der zuletzt genannten Ansicht eine wirksame Einverständniserklärung der Beteiligten nicht vorliegt.

Zwar sind auch einseitige prozeßgestaltende Prozeßhandlungen einer Auslegung entsprechend den für Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Grundsätzen zugänglich (vgl. BFH-Urteil vom 1. April 1988 X R 125/94, BFH/NV 1998, 1347). Hierbei ist jedoch nicht nur das Gewicht der mit ihnen verbundenen Rechtsfolgen (keine Anfechtbarkeit, kein Recht zum freien Widerruf; vgl. Gräber/von Groll, a.a.O., Vor § 33 Rz. 17), sondern vor allem auch zu berücksichtigen, in welchem Umfang und mit welcher Intensität der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz durch die in Frage stehende Prozeßerklärung berührt wird (Art. 19 Abs. 4 GG; vgl. Woerner, Betriebs-Berater 1996, 39). Demgemäß muß beispielsweise der Verzicht auf mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 22. November 1957 IV C 161.56, BVerwGE 6, 18); wird eine solche Erklärung vor der Übertragung des Rechtsstreits auf einen Einzelrichter nach § 6 FGO abgegeben, erfaßt sie im Regelfall nur die Entscheidung durch den Senat (BFH-Urteil vom 9. August 1996 VI R 37/96, BFHE 181, 115, BStBl II 1997, 77; vgl. zu § 90 Abs. 2 FGO auch BFH-Urteil vom 5. November 1991 VII R 64/90, BFHE 166, 415, BStBl II 1992, 425; Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Rz. 9; zu § 101 Abs. 2 VwGO Urteil des BVerwG vom 22. Juni 1982 2 C 83/81, NJW 1983, 189).

Diese Auslegungsgrundsätze sind auch für die Frage zu beachten, ob die Verfahrensbeteiligten ihr Einverständnis mit einer Einzelrichterentscheidung nach § 79a FGO erteilt haben. Denn auch die durch das Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGOÄndG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2109, BStBl I 1993, 90) eingefügten und am 1. Januar 1993 in Kraft getretenen Bestimmungen der §§ 6 und 79a FGO lassen den Grundsatz unberührt, daß --wie zu Abschn. 1 ausgeführt-- die FG als Kollegialgerichte ausgestaltet sind und nur in besonderen, vom Gesetz aufgeführten Ausnahmefällen eine Entscheidung durch den Einzelrichter vorgesehen ist. Ist deshalb davon auszugehen, daß auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers den richterlichen Entscheidungen eines Kollegiums eine höhere Richtigkeitsgewähr beizumessen ist (BVerfG-Beschluß in HFR 1998, 680) und die abschließende Entscheidung von einem Mitglied des Senats gemäß § 79a Abs. 3 und 4 FGO nur dann unbedenklich ist, wenn die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden sind (BTDrucks 12/1061, S. 17), so können --gerade mit Blick auf eine möglichst effektive Gewährleistung des Rechtsschutzanspruchs-- die Anforderungen an eine unzweideutige Einverständniserklärung zur Entscheidung durch einen Einzelrichter nicht geringer sein, als die Anforderungen an einen wirksamen Verzicht auf mündliche Verhandlung. Demgemäß ist aber nicht nur ein stillschweigendes Einverständnis, sondern auch die Annahme einer konkludenten Erklärung nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn --wie vorliegend-- der Richter die verfahrensrechtlichen Grundlagen seiner Stellung mit den Beteiligten nicht erörtert und die Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht durch einen Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe (vgl. § 62 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz FGO) vertreten sind (vgl. --zu § 349 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung-- auch Oberlandesgericht Hamm, Entscheidung vom 22. September 1995 12 U 58/95, OLG-Report Hamm 1995, 276).

3. Sind somit weder die Tatbestandsvoraussetzungen einer Einzelrichterentscheidung nach § 6 FGO noch diejenigen gemäß § 79a FGO erfüllt, so ist aufgrund des hierdurch gegebenen und einem Rügeverzicht nicht zugänglichen (vgl. BGH-Urteil in NJW 1993, 600; Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 8, m.w.N.) Verstoßes gegen die Vorschriften über die Besetzung des Gerichts das Urteil der Vorinstanz aufzuheben. Demgemäß erübrigt sich eine Stellungnahme des erkennenden Senats dazu, ob eine solche Entscheidung bereits deshalb hätte ergehen müssen, weil das angefochtene Urteil die nach Ansicht der Vorinstanz einschlägige Vorschrift der einzelrichterlichen Entscheidung nicht anführt (vgl. hierzu BFH-Urteil in BFHE 174, 107, BStBl II 1994, 571). Auch braucht der Senat nicht möglichen Zweifeln darüber nachzugehen, ob die fehlerhafte Bezeichnung des Richters T "als Berichterstatter" einen greifbaren Gesetzesverstoß dergestalt begründet, daß dem Urteil der Vorinstanz die inhaltliche Wirksamkeit abzusprechen wäre (vgl. hierzu allgemein Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., 1993, § 62 IV). Denn selbst wenn man hiervon ausginge, wäre --jedenfalls im Rahmen einer Revision, die den Anforderungen an die Rüge eines absoluten Revisionsgrundes nach § 116 Abs. 1 FGO genügt-- das finanzgerichtliche Urteil aufzuheben (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozeßordnung, 56. Aufl., 1998, Übersicht § 300 Rz. 18).

4. Der Senat hat die Sache an das FG und damit an den zuständigen Vollsenat zurückverwiesen. Da auch unter Berücksichtigung des Verfahrensverstoßes im ersten Rechtszug keine ernsthaften Zweifel an der Unvoreingenommenheit dieses Spruchkörpers bestehen, wurde --entgegen der Anregung der Kläger-- von einer Zurückverweisung an einen anderen Senat des FG abgesehen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 126 FGO Tz. 18, m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Gerichtskosten für das Revisionsverfahren werden nicht erhoben (§ 8 des Gerichtskostengesetzes).

Ende der Entscheidung

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