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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 25.07.2006
Aktenzeichen: 4 StR 141/06
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 349 Abs. 2
StPO § 349 Abs. 4
StGB § 20
StGB § 21
StGB § 63
StGB § 66 Abs. 1
StGB § 72 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

4 StR 141/06

vom 25. Juli 2006

in der Strafsache

gegen

wegen sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger u.a.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 25. Juli 2006 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hagen vom 20. Oktober 2005 im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen, mit Ausnahme derjenigen zu den Vorfällen am 19. Februar 2005, aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs Widerstandsunfähiger und wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Ferner hat es gegen den Angeklagten die Sicherungsverwahrung angeordnet. Mit seiner Revision rügt der Angeklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge zum Rechtsfolgenausspruch Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Der Verurteilung des Angeklagten liegt Folgendes zu Grunde:

1. Am 8. Januar 2005 hielt sich der nunmehr 34 Jahre alte Angeklagte gegen 8.45 Uhr an einem Kiosk in Iserlohn auf. "Er öffnete seine Hose und onanierte vor den Zeuginnen F. und ihrer Tochter H. , die sich im Kiosk aufhielten, an seinem Penis, weil es ihn sexuell erregte, sich in dieser Weise fremden Frauen zu zeigen". Als ihn die Zeuginnen anschrieen, entfernte sich der Angeklagte. Seine Blutalkoholkonzentration betrug zum Zeitpunkt der Tat max. 1,6 Promille (Fall II. 1 der Urteilsgründe).

2. In der Folgezeit suchte der Angeklagte in den Abend- oder Nachtstunden etwa 80 bis 100 mal verschiedene Wohngegenden in Iserlohn auf, um eine günstige Gelegenheit zu finden, "zu voyeurieren oder exhibitionistische Handlungen vorzunehmen".

Am 19. Februar 2005 drang er gegen 5.30 Uhr in ein Altenheim der Arbeiterwohlfahrt in Iserlohn ein, das etwa 500 m von seiner Wohnung entfernt liegt. Er betrat nacheinander die Zimmer von drei Heimbewohnerinnen. Zwei der Zimmer verließ er wortlos, als die 65 bzw. 79 Jahre alten Heimbewohnerinnen erwachten. In einem weiteren der Zimmer trat er an das Bett der 83jährigen Heimbewohnerin heran und streichelte deren Wange. Als diese ihn fragte, was er denn da mache, verließ der Angeklagte das Zimmer. Dieses Geschehen ist nicht Gegenstand des Anklagevorwurfs.

3. Am 6. März 2005 suchte der Angeklagte nach dem Besuch einer Gaststätte (Blutalkoholkonzentration max. 1,6 Promille) erneut das Altenwohnheim auf und drang über eine unverschlossene Terrassentür in die gemeinsame Wohnung der 91jährigen Frau Sch. und der 94jährigen Frau O. ein. Er ging zunächst zu deren Bett, fasste ihr unter dem Nachthemd an die Brüste und massierte diese, bis Frau O. aufwachte und die Hände des Angeklagten weg schob. Sodann ging er zu dem Bett der Frau Sch., fasste ihr oberhalb der Nachtbekleidung an die Brüste und massierte diese. Als Frau Sch. erwachte, sagte der Angeklagte: "Halt die Klappe", und flüchtete durch die Terrassentür (Fall II. 2 b der Urteilsgründe).

II.

1. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Antragsschrift vom 27. Juni 2006. Ebenso rechtsfehlerfrei sind auch die Feststellungen zu den Vorfällen am 19. Februar 2005, die deshalb bestehen bleiben können.

2. Dagegen kann der gesamte Rechtsfolgenausspruch nicht bestehen bleiben, weil die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten nach § 21 StGB in beiden Fällen ausgeschlossen hat, rechtlicher Nachprüfung nicht standhalten.

a) Das Landgericht hat zur Frage der Schuldfähigkeit im Wesentlichen folgendes ausgeführt: Soweit der Angeklagte vor der am 8. Januar 2005 begangenen Tat seit Ende November 2004 etwa 10 Injektionen Testosteron zu je 250 mg erhalten habe, spiele dies nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen weder für sich betrachtet noch im Zusammenhang mit der Alkoholintoxikation eine forensisch relevante Rolle, wenngleich nicht auszuschließen sei, dass die sexuelle Enthemmung beim Angeklagten verstärkt worden sei. Zur Frage der Wechselwirkung von Alkohol und Testosteron gebe es keinerlei verlässliche wissenschaftliche Studien oder Abhandlungen darüber, dass Testosteron die Wirkung von Alkohol verstärke. Auch im Fall II. 2 b der Urteilsgründe habe in Übereinstimmung mit dem mündlichen Sachverständigengutachten, "nach dem eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht sicher angenommen werden könne," eine alkoholbedingte erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Angeklagten gemäß § 21 StGB auch vor dem Hintergrund der Testosteronbehandlung nicht festgestellt werden können.

b) Diese Erwägungen lassen besorgen, dass das Landgericht bei der Prüfung der Frage einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit den Grundsatz "in dubio pro reo" außer Acht gelassen hat. Dieser Grundsatz ist zwar auf die rechtliche Wertung der zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen nicht anwendbar (vgl. BGHSt 14, 68, 73; BGH NStZ 1996, 328 m.w.N.). Anwendung findet der Zweifelssatz jedoch bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit, wenn nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen (vgl. BGH aaO).

c) Die Verneinung der Voraussetzungen des § 21 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken auch deshalb, weil die Urteilsgründe die für die Beurteilung der sich nach den Feststellungen aufdrängenden Frage, ob beim Angeklagten eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB vorliegt, gebotene Gesamtschau von Täterpersönlichkeit und Taten (vgl. BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 16, 33, 37) vermissen lassen.

Das Landgericht hat lediglich im Zusammenhang mit der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB darauf hingewiesen, dass nach den Ausführungen der Sachverständigen zwar auf der Grundlage einer dissozialen Persönlichkeitsstörung eine "dissexuelle Fehlentwicklung" vorliege, diese jedoch nicht die Kriterien einer schweren anderen seelischen Abartigkeit erfülle, weshalb eine Unterbringung gemäß § 63 StGB nicht in Betracht komme. Zudem bestehe kein Anhaltspunkt für die Ausbildung einer sexuellen Perversion oder von sexuellen sadistischen Zügen. Vielmehr resultiere die sexuelle Dissozialität aus einer "unterliegenden selbstunsicheren Persönlichkeit des Angeklagten", der damit sein Sozialversagen im Sexuellen ausdrücke (UA 31).

Auf die Auffälligkeiten bei den abgeurteilten Taten, wie sie sich aus den Urteilsfeststellungen ergeben, ist das Landgericht dagegen - ebenso wie bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 21 StGB - nicht näher eingegangen. Dies gilt auch für die Auffälligkeiten der Vortaten, die den einschlägigen Vorverurteilungen des Angeklagten durch Urteil vom 5. September 1996 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und exhibitionistischer Handlungen zu einer zehnmonatigen Gesamtfreiheitsstrafe mit Bewährung, durch Urteil vom 24. Juni 1998 wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten sowie durch Urteil vom 21. Juni 2002 wegen sexueller Nötigung und wegen exhibitionistischer Handlungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten zu Grunde liegen. Im Rahmen der Begründung der auf § 66 Abs. 1 StGB gestützten Anordnung der Sicherungsverwahrung hat das Landgericht hierzu zutreffend ausgeführt, dass sowohl die abzuurteilenden Taten als auch die Vortaten "alle eine für den Angeklagten eigentümliche Art und Richtung des verbrecherischen Hanges" aufzeigen. Sowohl die Vortaten als auch die abzuurteilenden Taten machten deutlich, dass der Angeklagte es nicht beim bloßen Exhibitionismus und Voyeurieren belasse, sondern bei einigen der Taten in private Wohn- und Lebensbereiche eingedrungen sei und dort den sexuellen Kontakt zu ihm unbekannten und zum Teil wehrlosen Opfern gesucht habe. Beweggrund sei dabei stets gewesen, sexuelle Tagträume und Phantasien in deviante Handlungen münden zu lassen. Zudem sei eine deutliche Steigerung zu verzeichnen, weil die Taten nicht nur auf die Begehung exhibitionistischer Handlungen, sondern auch auf Sexualdelikte von Gewicht gerichtet gewesen seien.

Diese Besonderheiten, insbesondere auch die - allein im Zusammenhang mit der Frage der Anordnung der Sicherungsverwahrung erörterte - kurze zeitliche Abfolge der Taten und die seit 1995 mehrfach gescheiterten Versuche, eine Sozialtherapie durchzuführen, hätten bei der Prüfung der Frage, ob bei dem Angeklagten eine schwere andere seelische Abartigkeit mit der möglichen Folge einer erheblichen Einschränkung seiner Steuerungsfähigkeit vorlag, namentlich unter dem Gesichtspunkt einer Triebstörung (vgl. BGH NStZ 2001, 243; BGHR StGB § 21 seelische Abartigkeit 16, jew. m.w.N.), einer Gesamtschau unterzogen werden müssen.

d) Dass eine bei umfassender Beurteilung gegebenenfalls festzustellende schwere andere seelische Abartigkeit die Schuldunfähigkeit des Angeklagten zur Folge gehabt haben könnte, lässt sich nach den eingehenden Feststellungen zu seinem Werdegang und seinen Taten ausschließen, nicht aber die Möglichkeit der Feststellung oder Nichtausschließbarkeit einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit. Dies hat die Aufhebung des gesamten Strafausspruchs zur Folge.

3. Der die Schuldfähigkeitsbeurteilung betreffende Rechtsfehler nötigt hier auch zur Aufhebung der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung. Zwar hat das Landgericht das Vorliegen der formellen und materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 StGB bejaht. Der Senat kann aber nicht ausschließen, dass der neue Tatrichter sogar zu der sicheren Feststellung gelangt, dass der Angeklagte aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat, so dass die Anordnung der Maßregel der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß 63 StGB in Betracht kommt (vgl. BGHSt 34, 22, 26; 42, 385, 386), die gemäß § 72 Abs. 1 StGB Vorrang vor der Anordnung der Sicherungsverwahrung haben kann.

4. Für das weitere Verfahren wird es sich empfehlen, einen weiteren anerkannten psychiatrischen Sachverständigen zuzuziehen. Die knappen Urteilsausführungen zur Frage einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit geben Anlass zu dem Hinweis, dass der Tatrichter seiner Aufgabe, sich eine eigene Überzeugung über den Zustand des Angeklagten zu bilden, grundsätzlich nicht dadurch gerecht wird, dass er lediglich die Befunde des Sachverständigen wiedergibt, ohne sich mit diesen auseinanderzusetzen. Jedenfalls müssen, wenn der Tatrichter dem Ergebnis eines Sachverständigengutachtens ohne Angabe eigener Erwägungen folgt, die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (vgl. BGH NStZ 2001, 243 m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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