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Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 19.06.2002
Aktenzeichen: 4 StR 206/02
Rechtsgebiete: BGB, StPO, StGB, StGB/DDR


Vorschriften:

BGB § 847
StPO § 349 Abs. 4
StPO § 349 Abs. 2
StGB § 176 Abs. 1
StGB/DDR § 64
StGB/DDR § 61 Abs. 3
StGB/DDR § 148 Abs. 2
StGB/DDR § 148 Abs. 1
StGB/DDR § 82 Abs. 1 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

4 StR 206/02

vom

19. Juni 2002

in der Strafsache

gegen

wegen Vergewaltigung u.a.

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 19. Juni 2002 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg vom 20. September 2001

a) in den Fällen B I 1 bis 10 der Urteilsgründe mit den die Ursächlichkeit dieser Taten für die depressive Erkrankung der Nebenklägerin Daniela J. betreffenden Feststellungen,

b) in den Aussprüchen über die Gesamtfreiheitsstrafe und den Adhäsionsanspruch mit den jeweils zugehörigen Feststellungen

aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten "des sexuellen Mißbrauchs von Kindern in elf Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Nötigung zu sexuellen Handlungen im schweren Fall, und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung im schweren Fall" schuldig gesprochen und ihn deswegen unter Freisprechung im übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Ferner hat es ihn verurteilt, an die Nebenklägerin Daniela J. ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.500 DM nebst 4% Zinsen seit dem 27. August 2001 zu zahlen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlußformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben, soweit ihn das Landgericht in dem Christin J. betreffenden Fall B I 11 der Urteilsgründe wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes nach § 176 Abs. 1 StGB zu der Einzelfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt hat. Auch in den übrigen Fällen hält die Beweiswürdigung, aufgrund derer sich das Landgericht von der Tatbegehung durch den Angeklagten überzeugt hat, im Ergebnis der rechtlichen Prüfung stand. Dabei läßt der Senat dahingestellt, ob der methodische Ansatz des zur Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin Daniela J. gehörten Sachverständigen Dr. D., dem sich das Landgericht angeschlossen hat, in jeder Hinsicht den Mindeststandards bei aussagepsychologischen Gutachten (vgl. BGHSt 45, 164) entspricht. Dem Senat erscheint zumindest eine "Mathematisierung" der Glaubhaftigkeitsbeurteilung insoweit bedenklich, als sie wesentlich auf das quantitative Verhältnis abstellt, in dem die von der betreffenden Person bei verschiedenen Befragungen berichteten Aussagedetails gemessen an deren Gesamtzahl "übereinstimmten" oder aber "Differenzen" bzw. "echte Widersprüche" aufwiesen (UA 15/16). Jedenfalls muß der Tatrichter, wenn er dem so vorgehenden Sachverständigen folgen will, die Einzelheiten dieses "Aussagevergleiches" (UA 15) hinterfragen und das Ergebnis in den Urteilsgründen so wiedergeben, daß das Revisionsgericht prüfen kann, ob er sich gegenüber der Bewertung des Sachverständigen die gebotene Selbständigkeit seines Urteils bewahrt und diesem Teil der Aussageanalyse für das Gesamtergebnis der Glaubhaftigkeitsbeurteilung das ihm zutreffende Gewicht beigemessen hat. Mängel in dieser Hinsicht haben sich hier jedoch im Ergebnis nicht zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt. Das Urteil weist aus, daß dem "mathematisierenden" Ansatz auch nach den Darlegungen des Sachverständigen hier neben der Vielzahl weiterer Glaubwürdigkeitskriterien keine für die Beurteilung ausschlaggebende Bedeutung zukommt. Angesichts dessen und des Beweisergebnisses im übrigen schließt der Senat aus, daß das Landgericht ohne den "mathematisierenden" Ansatz des Sachverständigen bei der Aussageanalyse zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.

2. Die Verurteilung in den die Nebenklägerin Daniela J. betreffenden Fällen B I 1 bis 10 der Urteilsgründe kann gleichwohl nicht bestehen bleiben, weil die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe in sämtlichen dieser Fälle den qualifizierten Tatbestand des § 148 Abs. 2 StGB/DDR verwirklicht, nicht ausreichend durch Tatsachen belegt ist.

a) Nach dieser Vorschrift wurde mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu acht Jahren bestraft, wer durch den sexuellen Mißbrauch eines Kindes fahrlässig dessen "erhebliche Schädigung" verursacht hat oder bereits wegen einer derartigen Handlung bestraft war. Das Landgericht hat die - allein in Betracht kommende - erste Alternative dieses qualifizierten Tatbestandes in allen Fällen bejaht. Die erhebliche Schädigung hat es in der "beschriebenen psychischen und sozialen Störung" der Geschädigten gesehen (UA 23). Hinsichtlich der "Ursächlichkeit aller Taten des Angeklagten für die depressive Erkrankung der Zeugin Daniela J. " (UA 18) hat es sich dem Zusatzgutachten des gehörten Sachverständigen Dr. D. angeschlossen. Den - für die Überprüfung durch das Revisionsgericht allein maßgeblichen - Gründen des angefochtenen Urteils kann jedoch die sichere Annahme eines Ursachenzusammenhangs zwischen den im Zeitraum von 1982 bis 1988 begangenen sexuellen Handlungen des Angeklagten und der in den Jahren 1998 und 1999 bei der Geschädigten aufgetretenen "multifaktoriellen Depression" (UA 19) nicht entnommen werden. Denn danach hat der Sachverständige lediglich nicht ausschließen können, daß "bereits das Erleben der ersten Tat des Angeklagten im Sommer 1982 wie auch jede der weiteren Taten ... die Ursache für die depressive Erkrankung" der Geschädigten gesetzt haben "könne" (UA 19). Dies genügt für die sichere Feststellung, daß die psychischen Störungen der Geschädigten gerade auf die Taten des Angeklagten zurückgehen, nicht, zumal dafür eine "Vielzahl von Konfliktbereichen" in Betracht kommt, in denen Daniela J. ihren Angaben gegenüber dem Sachverständigen zufolge "gemischt Angst und Verstimmungen" erlebt hat (UA 19).

b) Der Senat schließt nicht aus, daß sich noch Feststellungen treffen lassen, die mit der für eine Verurteilung genügenden Sicherheit den erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen den Taten des Angeklagten und der psychischen Erkrankung der Geschädigten belegen. Ist das nicht der Fall und kommt eine Strafbarkeit des Angeklagten deshalb nur nach § 148 Abs. 1 StGB/DDR in Betracht, wäre hinsichtlich des Falles B I 1 der Urteilsgründe Verfolgungsverjährung eingetreten. Denn die dann geltende achtjährige Verjährungsfrist nach § 82 Abs. 1 Nr. 3 StGB/DDR wäre im Sommer 1990, und damit vor Inkrafttreten des Einigungsvertrages, abgelaufen. Dabei bliebe es.

c) Der aufgezeigte Rechtsfehler läßt die zu den einzelnen Taten getroffenen Feststellungen unberührt. Diese können deshalb mit Ausnahme derjenigen, die die Ursächlichkeit der Taten des Angeklagten für die psychischen Störungen bei der Geschädigten betreffen, bestehen bleiben.

d) Die Aufhebung der Verurteilung in den Fällen B I 1 bis 10 hat die Aufhebung der insoweit gemäß § 64 StGB/DDR gebildeten Hauptstrafe zur Folge. Unabhängig davon könnte diese nicht bestehen bleiben. Denn das Landgericht hat "in erheblichem Maße" zu Lasten des Angeklagten "die durch die Tat bei Daniela J. ausgelösten Folgen" gewertet (UA 26), obwohl ein solcher Ursachenzusammenhang nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist (vgl. BGH, Beschluß vom 16. April 2002 - 3 StR 59/02). Im übrigen begegnen die Erwägungen zur Bemessung der Hauptstrafe unter dem Gesichtspunkt des auch nach dem Recht der DDR geltenden Doppelverwertungsverbots (§ 61 Abs. 3 StGB/DDR) durchgreifenden Bedenken, soweit das Landgericht dem Angeklagten angelastet hat, er habe sich "bei Tatbegehung der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse wegen über das Interesse seiner Enkelin an einer ungestörten Entwicklung ihrer Persönlichkeit hinweggesetzt" (UA 26). Hiermit hat das Landgericht in unzulässiger Weise den Strafzweck der angewandten Vorschriften strafschärfend gewertet (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 3 Sexualdelikte 2, 4).

3. Die Aufhebung der Hauptstrafe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

Der Ausspruch über die vermögensrechtlichen Ansprüche der Nebenklägerin Daniela J. kann ebenfalls nicht bestehen bleiben. Der aufgezeigte Rechtsfehler berührt auch diesen Ausspruch, denn die Feststellungen belegen bislang nicht, daß der Angeklagte die festgestellten psychischen Schäden bei der Nebenklägerin verursacht hat (vgl. BGH, Beschluß vom 3. April 2002 - 3 StR 50/02). Zudem bildet § 847 BGB keine Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch für die vor der Wiedervereinigung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begangenen Handlungen (vgl. BGH, Beschluß vom 7. Februar 2001 - 3 StR 3/01).

Ende der Entscheidung

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