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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 26.02.2003
Aktenzeichen: 5 StR 20/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 249 Abs. 1
StPO § 261
StPO § 349 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

5 StR 20/03

vom 26. Februar 2003

in der Strafsache

gegen

wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Februar 2003 beschlossen:

Tenor:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 3. Juli 2002 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freisprechung im übrigen - wegen sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit einer auf Verletzung des § 261 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg. Zutreffend beanstandet die Revision, daß ein wesentliches Detail einer in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunde mit Feststellungen unvereinbar ist, die für die Beweiswürdigung des Landgerichts zum Nachteil des Angeklagten tragend sind.

Die abgeurteilten Taten zum Nachteil der Nebenklägerin, der Stieftochter des Angeklagten, wurden nach den Feststellungen des Landgerichts in folgender Situation aufgedeckt: Am 5. Juli 2001 besuchte der Freund der Nebenklägerin deren Mutter. Diese zeigte ihm ein Schreiben der Prozeßbevollmächtigten des Angeklagten im Scheidungsverfahren vom 2. Juli 2001, in dem die Übertragung der elterlichen Sorge für den damals 5-jährigen gemeinsamen Sohn der Eheleute auf den Angeklagten beantragt wurde, das die Ehefrau und der Freund indes dahin mißverstanden, daß der Angeklagte auch die Übertragung der elterlichen Sorge für seine damals 17-jährige Stieftochter, die Nebenklägerin, erstrebe. Dies veranlaßte den Freund, sein Schweigen gegenüber der Mutter der Nebenklägerin zu brechen und ihr seine Kenntnis über den sexuellen Mißbrauch ihrer Tochter durch den Angeklagten, von dem die Mutter bis dahin nichts geahnt hatte, zu offenbaren. Am Abend des Folgetages erstattete die Nebenklägerin, kurz nachdem sie von einer Klassenreise aus Holland zurückgekehrt war, auf Veranlassung ihrer Mutter in deren Begleitung Strafanzeige gegen den Angeklagten.

Das Landgericht stützt seine die Verurteilung des Angeklagten tragenden Feststellungen wesentlich auf die Zeugenaussage der Nebenklägerin, für die es in der Aussage des Freundes als Zeugen vom Hörensagen eine gewisse Bestätigung findet. Maßgeblich aufgrund der festgestellten Umstände zur Offenbarung der Taten schließt das Landgericht ein Komplott zum Nachteil des Angeklagten, veranlaßt von seiner Ehefrau aus Anlaß der Sorgerechtsfrage, aus.

Der Ehefrau des Angeklagten wurde anläßlich ihrer Zeugenladung aufgegeben, das von ihr in ihrer Aussage bei der Polizei erwähnte Anwaltsschreiben, das zur Aufdeckung des Tatgeschehens durch den Freund geführt habe, zur Hauptverhandlung mitzubringen. Die Zeugin überreichte daraufhin in der Hauptverhandlung das Schreiben der Prozeßbevollmächtigten des Angeklagten im Scheidungsverfahren vom 2. Juli 2001, das nach § 249 Abs. 1 StPO verlesen wurde. Dieses Schreiben - die beglaubigte Kopie eines an das Familiengericht gerichteten, dort (gemäß Stempelaufdruck) am 3. Juli 2001 eingegangenen Schriftsatzes, die ersichtlich von dort an den Prozeßbevollmächtigten der Ehefrau weitergeleitet wurde - trägt einen Eingangsstempel dieses Rechtsanwalts vom 6. Juli 2001.

Dieses Detail verschweigt das Landgericht im Urteil. Die Revision weist zutreffend darauf hin, daß der Eingangsstempel des Rechtsanwalts dem Inhalt der Zeugenaussagen der Ehefrau des Angeklagten und des Freundes der Nebenklägerin widerstreitet, die Ehefrau sei bereits am Tag zuvor im Besitz dieses Schreibens gewesen, wenn sie es von ihrem Rechtsanwalt erhalten hatte. Der tagesgenaue Ablauf der Ereignisse der Offenbarung durch den Freund und der daraufhin veranlaßten Strafanzeige, wie er sich aus den Urteilsfeststellungen ergibt, ist für die landgerichtliche Beweiswürdigung tragend; die Möglichkeit eines Irrtums über die Daten in diesem Zusammenhang scheidet angesichts des eindeutig fixierten Termins der Strafanzeige aus. Mit der unterbliebenen Erörterung der unmittelbar aus dem Inhalt der verlesenen Urkunde folgenden, für die Beweiswürdigung wesentlichen Einzelheit des notierten Datums des Zugangs des Schriftsatzes beim Prozeßbevollmächtigten der Ehefrau des Angeklagten ist der Inbegriff der Hauptverhandlung nicht erschöpft worden; dies begründet die Revision wegen eines Verfahrensverstoßes gegen § 261 StPO (vgl. BGHSt 38, 14, 16 f.; BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 7, 15, 22, 25, 30).

Freilich sind Erklärungen theoretisch nicht ausgeschlossen, welche den auf den ersten Blick offenkundigen Widerspruch zwischen dem anwaltlichen Eingangsstempel und den Urteilsfeststellungen zum Zeitpunkt der Kenntnis der Mandantin von dem Schriftsatz beseitigen würden. Zum einen ist eine versehentliche Vordatierung des Stempels nicht ganz undenkbar, wenngleich die Revision insoweit zutreffend auf die Plausibilität des aufgedruckten Datums nach den familiengerichtlichen Abläufen hinweist. Zum anderen erscheint aber - worauf der Generalbundesanwalt verweist - insbesondere möglich, daß die Prozeßbevollmächtigte des Angeklagten dem ihr bekannten Prozeßbevollmächtigten seiner Ehefrau vorab einen Abdruck ihres an das Familiengericht gerichteten Schriftsatzes übersandt hatte; danach wäre denkbar, daß der Ehefrau des Angeklagten bereits am 5. Juli 2001 dieses Stück oder eine Kopie davon vorgelegen hatte, daß sie indes dieses Schriftstück nicht mehr fand, sie sich daher auf die gerichtliche Aufforderung eine weitere Abschrift von ihrem Rechtsanwalt beschaffte und diese - versehen mit dem späteren, scheinbar unplausiblen Datum des Eingangsstempels - dem Gericht in der Hauptverhandlung präsentierte.

Der Grundsatz, daß eine freibeweisliche Rekonstruktion der tatgerichtlichen Hauptverhandlung in der Revisionsinstanz nicht zu erfolgen hat, verbietet dem Senat, hierüber etwa durch Einholung dienstlicher Erklärungen - oder sogar durch Beiziehung der Familiengerichtsakten oder Befragung der im Scheidungsverfahren beteiligten Rechtsanwälte - eine Aufklärung zu versuchen. Bei der gegebenen Urkundenlage, die einen vom Gericht übersehenen wesentlichen, in der Hauptverhandlung nicht beseitigten Widerspruch zu den getroffenen Urteilsfeststellungen nahelegt, können verbleibende, auf diesem Wege nicht zu beseitigende Zweifel nicht zum Nachteil des Angeklagten wirken. Es wäre Sache des Tatgerichts gewesen, sofern es entsprechende Zweifel in der Hauptverhandlung aufgrund der Zeugenaussage der Ehefrau ausgeräumt haben sollte, dies im Urteil - unter Umständen auch durch einen protokollierten Hinweis in der Hauptverhandlung - zu belegen. Hat das Tatgericht hingegen den Widerspruch zwischen Urkundenlage und Urteilsfeststellungen übersehen und daher auch nur ungeklärt gelassen, begründet allein dies den gerügten Verstoß gegen § 261 StPO.

Dieser zieht die Aufhebung des Urteils nach sich, weil er die Grundlage für die Beweiswürdigung des Tatgerichts beseitigt. Daß selbst auf der Basis einer gegenüber den Zeugenaussagen abweichenden Aufdeckungssituation eine Überführung des Angeklagten bei Berücksichtigung der gesamten Beweislage - nicht zuletzt auch im Blick auf zwei weitere, freilich bislang deutlich im Hintergrund stehende Zeugen vom Hörensagen - keineswegs undenkbar wäre, vermag an dem Ergebnis der revisionsgerichtlichen Beurteilung nichts zu ändern.

Ende der Entscheidung

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