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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 17.03.2005
Aktenzeichen: 5 StR 222/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 230
StPO § 338 Nr. 5
StPO § 344 Abs. 4 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

5 StR 222/04 (alt: 5 StR 51/03)

vom 17. März 2005

in der Strafsache

gegen

wegen Vergewaltigung u. a.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Hauptverhandlung vom 16. und 17. März 2005, an der teilgenommen haben:

Vorsitzende Richterin Harms, Richter Häger, Richterin Dr. Gerhardt, Richter Dr. Brause, Richter Schaal als beisitzende Richter,

Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,

Rechtsanwalt T , Rechtsanwalt V als Verteidiger,

Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

am 17. März 2005 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 6. November 2003 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten zunächst wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen Mißbrauch eines Kindes und versuchter Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Der Senat hat dieses Urteil durch Beschluß vom 21. Mai 2003 auf die Revision des Angeklagten aufgrund einer Verfahrensrüge aus § 338 Nr. 5 i.V. mit § 230 StPO aufgehoben. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten erneut - mit gleichem Schuldspruch und gleichem Strafausspruch - verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen verabredeten der Angeklagte, der einen Lebensmittelladen betrieb, und die Mutter der Nebenklägerin am Ostersamstag, dem 14. April 2001, gegen 14.15 Uhr, als der Laden bereits geschlossen war, daß die Nebenklägerin, die damals achtjährige L , sogleich anschließend für etwa zwei Stunden gegen ein Entgelt im Laden Flaschen sortieren solle. Der Angeklagte schloß hinter sich und L die Ladentür ab und faßte spätestens nunmehr den Entschluß, L sexuell zu mißbrauchen. Er lockte L , die zunächst Flaschen sortierte, auf seinen Schoß, zuerst an der Ladenkasse, dann in dem einige Stufen höher gelegenen Büro. L lief in den Laden zurück, kam jedoch - vom Angeklagten verfolgt - in das Büro zurück. Dort verlangte der Angeklagte, daß sie sich ausziehen solle, woraufhin L sich weinend bis auf die Unterhose entkleidete. Der Angeklagte zog seine Hose bis zu den Knien und seine Unterhose bis zum halben Oberschenkel herunter, setzte sich, verlangte und erhielt einen Zungenkuß. Danach forderte der Angeklagte L auf, seinen Penis in den Mund zu nehmen, worauf es zum Oralverkehr bis zur Ejakulation in den Mund des Kindes kam.

Der Angeklagte hat eingeräumt, L wie festgestellt in seinem Laden beschäftigt zu haben. Er hat jedoch jedwedes sexuelle Verhalten bestritten. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Tat im wesentlichen aufgrund der Angaben des Mädchens gewonnen.

I.

Zwei Beweisanträge der Verteidigung auf Einholung eines Gutachtens eines "Aussagepsychologen" zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin hat das Landgericht unter Berufung auf eigene Sachkunde gemäß § 344 Abs. 4 Satz 1 StPO zurückgewiesen. Dies hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

Allerdings ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von - auch kindlichen - Zeugen und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur dann, wenn Besonderheiten des Einzelfalls eine Sachkunde erfordern, die ein Richter - auch mit spezifischen forensischen Erfahrungen - normalerweise nicht hat (st. Rspr. des Bundesgerichtshofs; vgl. nur BGHR StPO § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO Sachkunde 4, 6, 12). Ein solcher besonderer Fall liegt hier vor. Dies ergibt sich aus dem Zusammentreffen der folgenden speziellen Umstände:

Zunächst ist zur Person der Nebenklägerin folgendes zu berücksichtigen: Sie lebte seit ihrer Geburt in besonders schwierigen Familienverhältnissen, die in - von der Revision mitgeteilten - Vermerken des Jugendamtes und der Sozialeinrichtung "Das Rauhe Haus" geschildert sind. Die Mutter der Nebenklägerin lebte danach alleinerziehend mit ihren vier Kindern aus zwei Ehen und einer nichtehelichen Beziehung, war zeitweilig überfordert und suizidal. Der häufige Wechsel ihrer Partner führte in ihrer Beziehung zu den Kindern Probleme herbei. Die Nebenklägerin lernte ihren Vater erst im Jahr 2000 kennen, wollte weiteren Kontakt zu ihm, was auf Schwierigkeiten stieß.

Es treten folgende auf die festgestellte Tat und deren Schilderungen durch die Nebenklägerin bezogene Besonderheiten hinzu: Eine Schulkameradin der Nebenklägerin war in deren unmittelbarem Wohnumfeld auf dem Schulweg vergewaltigt und anschließend von dem Täter in einen Graben geworfen worden, wo sie fast ertrunken wäre. Auf dieses Geschehen nahm der Angeklagte nach den Bekundungen der Nebenklägerin mit der Bemerkung Bezug, er könne sie "auch in den Graben schmeißen". In diesem Zusammenhang kommen theoretisch eine Identifikation der Nebenklägerin mit der Schulkameradin, eine entsprechende Übertragung oder auch ein Bemühen der Nebenklägerin um Aufmerksamkeit in Betracht. Schon aus dem angefochtenen Urteil ergeben sich mehrere Widersprüche und Variationen im Verlauf der Aussage der Nebenklägerin. Die Verteidigung hat hierzu selbst eingeholte schriftliche Stellungnahmen von zwei Sachverständigen dem Landgericht vorgelegt. Insbesondere aus der Stellungnahme von K ergibt sich, daß den zahlreichen Realkennzeichen in den Aussagen der Nebenklägerin "mehrere geradezu eklatante Diskrepanzen im absoluten Kernbereich der Aussage" gegenüberstehen, so daß eine seltene "diskrepante Befundlage" gegeben sei. Bei Würdigung dessen verkennt der Senat nicht, daß den beiden sachverständigen Stellungnahmen allein Informationen von Seiten der Verteidigung zugrundegelegen haben. Auch ist folgendes nicht ohne Belang: Nach den Feststellungen erfolgte die Erstaufnahme des Falles durch die Polizei in der Weise, daß zunächst die Mutter der Nebenklägerin der erschienenen Polizeibeamtin und deren zwei Kollegen den Sachverhalt kurz schilderte. Dann nahm die Polizeibeamtin allein die Anzeige auf. "In Gegenwart ihrer Mutter und Großmutter berichtete L - zum Teil abwechselnd mit ihrer Mutter - ... sodann von dem Vorfall mit dem Angeklagten" (UA S. 10). In der von der Revision mitgeteilten Strafanzeige ist dagegen dieser Vorgang so dargestellt, daß allein L s Mutter die Tat und das Rahmengeschehen geschildert hat. Namentlich hierbei kommt der Faktor der inzwischen verstrichenen Zeit hinzu, auf den der Senat schon in seinem Beschluß vom 21. Mai 2003 durch Bezugnahme auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 23. April 2003 hingewiesen hat. Nach alledem durfte die - wenngleich besonders erfahrene - Jugendschutzkammer sich nicht auf ihre eigene Sachkunde verlassen.

II.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

Es wird sich empfehlen, mit der Begutachtung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin einen Sachverständigen zu beauftragen, der mit der Sache bislang nicht befaßt war.

Der neue Tatrichter wird mit besonderer Sorgfalt den Beweiswert der Spermaspur zu bestimmen haben.

Sollte die Beiordnung eines anderen Pflichtverteidigers beantragt werden, so wird mit besonderer Umsicht zu prüfen sein, ob Gründe solcher Art, wie sie zuletzt zur Entpflichtung eines Pflichtverteidigers geführt haben, nach den geltenden rechtlichen Maßstäben eine Zurückweisung eines solchen Antrags rechtfertigen würden.

Ende der Entscheidung

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