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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 09.02.2009
Aktenzeichen: IV ZB 25/08
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 517
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat

durch

die Richter Seiffert, Dr. Schlichting, Wendt,

die Richterin Dr. Kessal-Wulf und

den Richter Felsch

am 9. Februar 2009

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Essen vom 11. Juni 2008 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Wert: 3.115,99 EUR

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 3.115,99 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Ihre Prozessbevollmächtigten haben gegen das ihnen am 28. Januar 2008 zugestellte Urteil Berufung eingelegt. Der Schriftsatz trägt den Eingangsstempel des Landgerichts vom 29. Februar 2008. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, das Rechtsmittel sei nicht binnen der Monatsfrist des § 517 ZPO eingelegt, haben die Prozessbevollmächtigten mitgeteilt, die Berufungsschrift sei von einer Kanzleimitarbeiterin am Tage des Fristablaufs, dem 28. Februar 2008, persönlich bei der Gerichtsvollzieherverteilerstelle - zugleich Gemeinsame Briefannahme des Land- und Amtsgerichts - abgegeben worden, und sich zur Glaubhaftmachung auf die beigefügte eidesstattliche Versicherung der Mitarbeiterin bezogen.

Das Berufungsgericht hat die Akten daraufhin der Gerichtsvollzieherverteilerstelle zur Stellungnahme zugeleitet. Ein dort eingesetzter Justizbeschäftigter hat sich dahin geäußert, dass die Berufungsschrift den Eingangsstempel des Landgerichts trage, nicht aber den der Gemeinsamen Briefannahme. Der Schriftsatz sei nicht über die Gemeinsame Briefannahme gelaufen und habe von dieser daher auch nicht präsentiert werden können. Das Berufungsgericht hat durch die Berichterstatterin verfügt, den Prozessbevollmächtigten - formlos - eine Ablichtung der dienstlichen Stellungnahme zu übersenden. Die Verfügung trägt einen "Ab-Vermerk" der Geschäftsstelle; eine Stellungnahme ist indes nicht eingegangen.

Das Berufungsgericht hat daraufhin das Rechtsmittel gemäß §§ 522 Abs. 1, 517 ZPO unter Bezugnahme auf die dienstliche Stellungnahme des Mitarbeiters der Gemeinsamen Briefannahme als unzulässig verworfen, weil der Beklagten der ihr obliegende Nachweis des rechtzeitigen Eingangs der Berufungsschrift nicht gelungen sei. Zusätzlich hat es darauf verwiesen, die Gemeinsame Briefannahme verwende zu Präsentationszwecken einen eigenen Stempel; auf der Berufungsschrift befinde sich indes der Aufdruck des Stempels, der ausschließlich von der Wachtmeisterei des Landgerichts eingesetzt werde.

Gegen diese Verwerfungsentscheidung wendet sich die Beklagte mit ihrer Rechtsbeschwerde.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig, weil nicht auszuschließen ist, dass die Rechte der Beklagten aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt worden sind (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO; vgl. BGHZ 154, 288, 296 f.) . Dadurch ist der Beklagten möglicherweise der Zugang zu den Gerichten und zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert worden (BVerfGE 52, 203, 207) .

1.

Die Rechtsbeschwerde rügt unter anderem die Verletzung rechtlichen Gehörs mit der Begründung, der Inhalt der seitens des Berufungsgerichts eingeholten dienstlichen Äußerung sei der Beklagten vor Verwerfung ihres Rechtsmittels nicht bekannt gewesen. Auf Nachfrage des Senats im Rechtsbeschwerdeverfahren hat sie ergänzend mitgeteilt, entgegen der gerichtlichen Verfügung habe ihrer Prozessbevollmächtigten eine Ablichtung der dienstlichen Äußerung nicht vorgelegen. Daher habe sie keine Gelegenheit erhalten, ihr Vorbringen zu ergänzen und für dessen Richtigkeit Zeugenbeweis anzutreten und auf diese Weise den Nachweis für den fristgerechten Eingang der Berufungsschrift zu führen. Sie sei deshalb gehindert worden, dem Berufungsgericht folgenden Sachverhalt zu unterbreiten:

Die Kanzleimitarbeiterin sei mit dem betreffenden Schriftsatz am Tage des Fristablaufs vormittags bei der Gemeinsamen Briefannahme erschienen, die organisatorisch zum Amtsgericht gehöre. Dort befinde sich neben einem Posteingangsfach für das Amtsgericht ein gesondertes und entsprechend beschriftetes Eingangsfach für das Landgericht. In dieses habe die Mitarbeiterin den Schriftsatz eingelegt. Der in der Poststelle eingesetzte Justizbeschäftigte, der die vom Berufungsgericht eingeholte dienstliche Äußerung abgegeben habe, sei nur für das Postfach des Amtsgerichts und für den am Gebäude angebrachten Tages- und Nachtbriefkasten des Amts- und Landgerichts zuständig; diese Post versehe er mit dem Stempel der Gemeinsamen Briefannahme. Das in der Poststelle für das Landgericht unterhaltene Fach werde in der Regel einmal am Tag von den Wachtmeistern des Landgerichts geleert, die die darin befindliche Post mit dem Posteingangsstempel des Landgerichts präsentierten, wie er sich auch auf der Berufungsschrift befinde. Dabei könne es durchaus geschehen, dass Post, die im Nachgang zu der täglichen Abholung in das Fach eingelegt werde, erst am darauf folgenden Tage entnommen und abgestempelt werde, auch wenn sie schon am Vortage in das Fach des Landgerichts gelangt sei. Auf diese Besonderheiten im dienstlichen Ablauf finde sich am Posteingangsfach des Landgerichts kein Hinweis; sie seien durch ihre Prozessbevollmächtigten erst im Nachhinein durch Rückfragen bei den zuständigen Mitarbeitern des Amts- und Landgerichts in Erfahrung gebracht worden. Zum Beweis ihres Vorbringens hätte sie sich auf die dienstlichen Äußerungen bzw. Zeugenaussagen eben dieser Mitarbeiter bezogen. Diese Möglichkeit sei ihr durch die Vorgehensweise des Berufungsgerichts genommen worden.

2.

Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor deren Erlass zu äußern. Das gilt auch, wenn die Verfahrensordnung - wie hier § 522 ZPO - die Anhörung der Parteien nicht ausdrücklich vorsieht; denn die Pflicht zur Anhörung folgt unmittelbar aus dem Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 53, 109, 113 f. ; 52 aaO; BGH, Beschlüsse vom 15. August 2007 - XII ZB 101/07 -FamRZ 2007, 1725 Tz. 7 f.; vom 18. Juli 2007 - XII ZB 162/06 - VersR 2008, 1087 Tz. 6; vom 29. Juni 1993 - X ZB 21/92 - NJW 1994, 392 unter II).

Der Pflicht zur Anhörung ist nicht allein dadurch genügt, dass die betreffende Partei auf die vom Gericht beabsichtigte Vorgehensweise - die Verwerfung der Berufung als unzulässig - hingewiesen wird und sie sich dazu äußern kann. Es ist vielmehr erforderlich, dass ihr der Tatsachenstoff, den das Gericht für seine Entscheidung einbeziehen möchte, vollständig bekannt gemacht worden ist, damit sie in der Lage ist, ihr Vorbringen gegebenenfalls zu ergänzen und unter Beweis zu stellen. Das gilt insbesondere für den Fall, dass eine erste Stellungnahme der Partei dem erkennenden Gericht Anlass gegeben hat, eine dienstliche Äußerung einzuholen, deren Inhalt dem Vortrag der Partei entgegensteht und auf die sich das Gericht in seiner späteren und für die Partei nachteiligen Entscheidung stützen möchte.

Es lässt sich derzeit nicht feststellen, ob das Berufungsgericht diesen Anforderungen nachgekommen ist und die Beklagte die Gelegenheit hatte, sich mit dem aus der dienstlichen Äußerung hervorgehenden Sachverhalt zu befassen und diesem gegebenenfalls entgegenzutreten. Schon der Zugang einer Ablichtung lässt sich aus den Gerichtsakten nicht nachvollziehen, da das Berufungsgericht nur eine formlose Übersendung verfügt hat. Überdies wäre das Berufungsgericht gehalten gewesen, anstatt die Ablichtung "kommentarlos" zu übersenden, die Beklagte darauf hinzuweisen, dass die bis dahin vorgelegten Mittel zur Glaubhaftmachung nicht mehr ausreichten und dieser Gelegenheit geben müssen, Zeugenbeweis anzutreten (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Dezember 1999 - VI ZB 30/99 - VersR 2000, 1129 unter 3).

3.

Es ist daher nicht auszuschließen, dass der angefochtene Beschluss auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruht. Hätte das Berufungsgericht seinen prozessualen Pflichten genügt und die Beklagte vor Erlass der angegriffenen Entscheidung ausreichend gehört, hätte diese darlegen können, weshalb sie aus ihrer Sicht den Schriftsatz zur Einlegung der Berufung rechtzeitig beim Berufungsgericht eingereicht hat.

Ihr Vorbringen wäre auch erheblich gewesen. Das geltende Zivilprozessrecht enthält keine Vorschrift, die für den Eingang eines Schriftsatzes bei Gericht dessen "Annahme" durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder einen sonstigen Bediensteten vorschreibt. Es genügt für die Fristwahrung, dass für die Partei erkennbar an dem Schriftstück der Gewahrsam der zuständigen Stelle begründet worden ist, der es dann überlassen bleibt, die weiteren - dem Einfluss der Partei entzogenen - organisatorischen Abläufe gerichtsintern zu regeln (BVerfGE 52 aaO 208 ff.; BGHZ 80, 62, 63 f.) .

Daher ist es gleich, ob die Wachtmeister des Landgerichts das in der Gemeinsamen Briefannahme unterhaltene Postfach noch am selben Tage, an dem ein Schriftstück dort eingelegt worden ist, entleert und die darin befindlichen Schriftsätze mit dem Eingangsstempel des Landgerichts versehen haben. Es kann ebenso dahinstehen, ob sich am Postfach des Landgerichts ein Hinweis darauf befunden hat, mit welcher Regelmäßigkeit bzw. zu welchen Zeiten die darin eingelegte Post entnommen wird. Entscheidend ist allein, wann der Schriftsatz in das Fach eingelegt worden und damit in den Empfangsbereich und die Verfügungsgewalt des Landgerichts gelangt ist, gleich ob die Partei mit einer Leerung des Fachs noch am selben Tage rechnen konnte (vgl. BGH, Urteile vom 25. Januar 1984 - IVb ZR 43/82 - VersR 1984, 388; vom 21. Juni 1989 - VIII ZR 252/88 - VersR 1989, 932; Beschluss vom 19. Juni 1986 - VII ZB 20/85 - VersR 1986, 1204 unter b). Kann die Beklagte den Nachweis für den von ihr beschriebenen fristgerechten Eingang am Vormittag des 28. Februar 2008 führen, ist ihr zugleich in Bezug auf den Eingangsstempel des Landgerichts, der das Datum vom 29. Februar 2008 trägt, der nach § 418 Abs. 2 ZPO erforderliche Gegenbeweis gelungen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 1985 - X ZB 11/85 - VersR 1986, 60 unter 2 b).

4.

Das Berufungsgericht wird daher Veranlassung haben, sich mit dem ergänzenden Vorbringen der Beklagten auseinanderzusetzen, ihr Gelegenheit zu entsprechenden Beweisantritten zu geben und die von der Beklagten vorgebrachten gerichtsinternen organisatorischen Abläufe zu klären. Für die gebotene weitere Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsmittels der Beklagten gilt der Freibeweis, auch soweit es um die rechtzeitige Einlegung der Berufung geht und in diesem Zusammenhang um die Entkräftung des aus dem Eingangsstempel des Landgerichts ersichtlichen Datums. Dadurch werden die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung nicht herabgesetzt; zur Beweisführung ist der volle Beweis zu erbringen, wenn dieser auch nicht auf die Mittel des Strengbeweises beschränkt ist. Dabei ist der Beweiswert einer eidesstattlichen Versicherung, die lediglich auf Glaubhaftmachung angelegt ist, zum Nachweis der Fristwahrung regelmäßig nicht ausreichend. Insoweit muss - liegen entsprechende Beweisantritte vor - auf die Vernehmung der Beweispersonen als Zeugen oder auf andere Beweismittel zurückgegriffen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Juli 2007 aaO Tz. 8; vom 7. Dezember 1999 aaO unter 2; vom 29. Juni 1993 aaO; vom 8. Oktober 1985 aaO; Urteil vom 25. Oktober 1977 - VI ZR 198/76 -VersR 1978, 155 unter II 2 a). Die Beweislast, dass die Berufung rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen ist, trägt nach allgemeinen Grundsätzen die Beklagte als Rechtsmittelklägerin (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 1979 - III ZB 13/79 - VersR 1980, 90 unter 1 m.w.N.).

Ende der Entscheidung

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