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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 11.01.2001
Aktenzeichen: IX ZR 201/98
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB §§ 765 ff
BGB § 771
BGB § 773 Abs. 1 Nr. 1
BGB § 768
ZPO §§ 373 ff
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

IX ZR 201/98

Verkündet am: 11. Januar 2001

Preuß Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2000 durch die Richter Dr. Kreft, Kirchhof, Dr. Fischer, Dr. Zugehör und Dr. Ganter

beschlossen:

Tenor:

Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gemäß Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. a) Gilt die Frist, die in Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 (EWG) der Kommission vom 2. Juli 1993 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1993 Nr. L 253/1) mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung Nr. 2913/92 (EWG) des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 302/1) für den Nachweis des tatsächlichen Ortes der Zuwiderhandlung festgelegt ist, auch für den Fall, daß ein Mitgliedstaat unter Berufung auf Art. 454 Abs. 2, 3 Unterabsatz 1, 2 der Verordnung Nr. 2454/93 eine Abgabenforderung gegen den bürgenden Verband einklagt und dieser im Rechtsstreit nachweisen will, daß der Ort, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, in einem anderen Mitgliedstaat liegt?

b) Für den Fall, daß der Gerichtshof die Frage zu 1. a) bejaht:

aa) Gilt in einem solchen Fall die einjährige Frist des Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1, Art. 455 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 Satz 1 des TIR-Übereinkommens oder die zweijährige Frist des Art. 455 Abs. 2 der genannten Verordnung in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 Satz 1 des TIR-Übereinkommens?

bb) Gilt die Nachweisfrist in dem in Frage 1. a) geschilderten Fall in der Weise, daß der bürgende Verband seine unter Beweis gestellte Behauptung, die Zuwiderhandlung sei tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat begangen worden, innerhalb der Frist in den Rechtsstreit einführen muß und, falls dies nicht geschieht, mit dem Nachweis ausgeschlossen ist?

2. a) Ist nach Art. 454, 455 der Verordnung Nr. 2454/93 derjenige Mitgliedstaat, der eine Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit einem Transport mit Carnet TIR feststellt, gegenüber dem bürgenden Verband verpflichtet, über die Mitteilungen gemäß Art. 455 Abs. 1 der genannten Verordnung und eine Suchanzeige an die Bestimmungszollstelle hinaus zu ermitteln, wo die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde und wer die Zollschuldner im Sinne des Art. 203 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 sind, indem er einen anderen Mitgliedstaat um Amtshilfe bei der Aufklärung des Sachverhalts bittet (vgl. Verordnung - EWG - Nr. 1468/81 des Rates vom 19. Mai 1981, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1981 Nr. L 144, S. 1)?

b) Falls der Gerichtshof die Frage zu 2. a) bejaht:

aa) Gilt bei Verletzung einer solchen Ermittlungspflicht die Zuwi- derhandlung nicht gemäß Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 als in dem Mitgliedstaat begangen, der sie festgestellt hat?

bb) Hat der Mitgliedstaat, der die Zuwiderhandlung festgestellt hat, bei Inanspruchnahme des bürgenden Verbandes die Erfüllung einer solchen Ermittlungspflicht darzulegen und zu beweisen?

Gründe:

I.

Zur Beantwortung der vorstehenden Vorlagefragen, von denen die Entscheidung des Rechtsstreits abhängt, sind die Art. 454, 455 der Verordnung Nr. 2454/93 (EWG) der Kommission vom 2. Juli 1993 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 253 S. 1 vom 11. Oktober 1993; künftig: Verordnung Nr. 2454/93) auszulegen; diese Verordnung ist am dritten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft getreten mit Geltung ab 1. Januar 1994 (Art. 915 dieser Verordnung). Da dem Senat die Auslegung nicht offenkundig erscheint, hat er eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (fortan: Gerichtshof) einzuholen (Art. 234 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft - EG -).

Die Verordnung Nr. 2454/93 dient der Durchführung der Verordnung Nr. 2913/92 (EWG) des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 302 S. 1 vom 19. Oktober 1992; künftig: Verordnung Nr. 2913/92), in Kraft getreten am dritten Tag nach der Veröffentlichung mit Geltung ab 1. Januar 1994 (Art. 253 dieser Verordnung). Diese Verordnung regelt den Warenverkehr zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Drittländern (Art. 1 dieser Verordnung); das gilt auch für den Warenverkehr aufgrund des Zollübereinkommens vom 14. November 1975 über den internationalen Warentransport mit Carnets TIR (künftig: TIR-Übereinkommen), dem die "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" - jetzt Europäische Union (EU) - als Zollunion und deren Mitgliedstaaten - darunter die klagende Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1979 (Gesetz vom 21. Mai 1979 - BGBl. II S. 445) - beigetreten sind. Dieses Übereinkommen soll das Zollverfahren für internationale Warentransporte mit Hilfe eines einheitlichen Versanddokuments (Carnet TIR) vereinfachen, indem die Entrichtung oder Hinterlegung von Eingangs- und Ausgangsabgaben für die beförderten Waren an den Durchgangszollstellen grundsätzlich entfällt (Art. 4, 5 des TIR-Übereinkommens). Das Carnet wird einem Transportunternehmer von der "International Road Transport Union" - IRU -, dem Dachverband der nationalen Transportverbände (Verein nach Schweizer Recht), über einen in seinem Heimatstaat zugelassenen "bürgenden Verband" (Art. 1 Buchstabe l TIR-Übereinkommen) erteilt. Dieser Verband - in der Bundesrepublik Deutschland der beklagte Verein - hat sich zu verpflichten, die fälligen Eingangs- oder Ausgangsabgaben nach den Zollgesetzen und anderen Zollvorschriften des Landes zu entrichten, in dem eine Unregelmäßigkeit im Zusammenhang mit einem TIR-Transport festgestellt worden ist; der bürgende Verband haftet mit den Abgabenschuldnern als Gesamtschuldner (Art. 8 Abs. 1 TIR-Übereinkommen). Kann nicht ermittelt werden, wo die Unregelmäßigkeit begangen worden ist, so gilt sie als im Gebiet des Staates begangen, in dem sie festgestellt worden ist (Art. 37 TIR-Übereinkommen).

II.

1. Im vorliegenden Rechtsstreit nimmt die klagende Bundesrepublik Deutschland (künftig: Klägerin) den beklagten deutschen "bürgenden Verband" - einen Verein deutschen Rechts (fortan: Beklagter) - aus einer Bürgschaft nach deutschem Recht (§§ 765 ff BGB) von August 1993 in Anspruch. Danach haftet der Beklagte der Klägerin für den Zoll und die sonstigen Eingangsabgaben, die der Inhaber eines Carnet nach den Vorschriften des Zollrechts und der Verbrauchsteuergesetze schuldet, wenn von ihm das abgefertigte und zur Beförderung überlassene Zollgut nicht oder nicht ordnungsgemäß wiedergestellt wird, bei Beförderung mit dem Carnet TIR für Tabak bis zum Höchstbetrag von 175.000 ECU. Diese Sicherungszweckerklärung ist in Übereinstimmung mit den Parteien dahin auszulegen, daß der verbürgte Anspruch der Klägerin nach dem - in der Bürgschaftsurkunde mehrfach genannten - "TIR-Übereinkommen 1975" in Verbindung mit Zollvorschriften zur Durchführung dieses Übereinkommens gegen den Inhaber eines Carnets zustehen muß. Da der Beklagte sich "selbstschuldnerisch" verbürgt hat, kann er die Klägerin nach deutschem Recht nicht darauf verweisen, vor ihm zunächst den Inhaber des Carnet in Anspruch zu nehmen (§§ 771, 773 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Hat der Beklagte an die Klägerin aufgrund seiner Bürgschaft zu leisten, so hat er ein Rückgriffsrecht aus einem Garantievertrag mit der IRU. Diese hat ihrerseits einen Versicherungsvertrag mit einem internationalen Versichererpool abgeschlossen, dem die Streithelferin des Beklagten angehört.

2. Der Klageforderung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Das britische Transportunternehmen F. F. S. (künftig: FFS) ließ am 23. März 1994 unter Vorlage des Carnet TIR Nr. ..., ausgegeben durch den britischen, der IRU angehörenden Verband F. T. A. Ltd, durch einen unbekannten Fahrer eine aus der Schweiz kommende Ladung von 12,5 Mio. Zigaretten beim Hauptzollamt F. (künftig: HZA) abfertigen, die über die Bestimmungszollstelle A. (Spanien) - Ausgangszollstelle der EU - nach M. befördert werden sollte. Zur Durchführung dieses Versandverfahrens innerhalb der EU wurde eine Frist bis zum 28. März 1994 gesetzt. Eine Erledigungsbestätigung der Bestimmungszollstelle ging beim HZA nicht ein. Auf dessen Suchanfrage teilte die Bestimmungszollstelle am 13. Juli 1994 mit, daß die Ware dort nicht gestellt worden sei. In dem später aufgefundenen, der IRU zugegangenen Original-Carnet befindet sich ein Stempel mit dem Abdruck dieser Zollstelle nebst dem Datum des 28. März 1994, der gefälscht wurde. Die Klägerin teilte dem Beklagten mit Schreiben vom 16. August 1994 die Nichterledigung des Carnet mit. Sie übersandte FFS auf dem Postweg durch Einschreiben mit Rückschein einen Steuerbescheid vom 16. August 1994 über Abgaben von 3.197.500 DM wegen des streitgegenständlichen Transports. FFS zahlte nicht.

Mit der im Februar 1996 erhobenen Klage hat die Klägerin vom Beklagten wegen der Abgabenforderung aus dem unerledigten Carnet den Höchstbetrag der Bürgschaft von 334.132,75 DM nebst Zinsen verlangt. Land- und Oberlandesgericht haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision erstreben der Beklagte und seine Streithelferin weiterhin die Abweisung der Klage.

III.

Zur ersten Vorlagefrage

1. Im vorliegenden Rechtsstreit ist zunächst zu entscheiden, ob der beklagte Bürge mit Hilfe der von ihm benannten Zeugen seine Behauptung beweisen darf und kann, die streitgegenständliche Transportware sei in Spanien entladen worden. Ein solcher Einwand gegen eine Abgabenforderung der Klägerin stand FFS als Hauptschuldner zu; deswegen kann der Bürge nach deutschem Recht diesen Einwand ebenfalls gegen eine Abgabenforderung der Klägerin geltend machen, selbst wenn der Hauptschuldner darauf verzichtet hat (§ 768 BGB). An den bestandskräftigen Steuerbescheid der Klägerin gegen den Hauptschuldner ist der Bürge nach deutschem Recht nicht gebunden. Könnte der beklagte Bürge beweisen, daß die Ware in Spanien entladen worden ist, so wäre der spanische Staat, nicht aber die Klägerin Gläubigerin der von FFS geschuldeten Abgaben; das ergibt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts aus Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 bis 4 der Verordnung Nr. 2454/93. In diesem Falle wäre die vorliegende Bürgschaftsklage unbegründet. Deswegen hält der Senat - im Gegensatz zu den Vorinstanzen - eine Beweisaufnahme über die Behauptung des Beklagten für unentbehrlich. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 23. März 2000 in den verbundenen Rechtssachen C-310/98 und C-406/98 entschieden, daß der tatsächliche Ort der Zuwiderhandlung nicht nur durch Urkunden, sondern mit allen nach nationalem Recht zulässigen Beweismitteln geführt werden kann. Der vom Beklagten angebotene Zeugenbeweis ist nach deutschem Recht zulässig (§§ 373 ff ZPO).

2. Das vorlegende Gericht sieht sich an einer entsprechenden Entscheidung durch die Unklarheit gehindert, ob der Einwand des Beklagten durch den Ablauf einer Nachweisfrist ausgeschlossen ist. Der beklagte bürgende Verband hat, nachdem die Klägerin ihm mit Schreiben vom 16. August 1994 die Nichterledigung des Carnet TIR mitgeteilt hatte, seinen Einwand erst im vorliegenden Rechtsstreit mit Schriftsatz vom 8. Mai 1996 vorgebracht.

a) Wird im Zusammenhang mit einem Transport mit Carnet TIR in einem bestimmten Mitgliedstaat eine Zuwiderhandlung festgestellt, so erhebt dieser Mitgliedstaat die Zölle gemäß den gemeinschaftlichen oder innerstaatlichen Vorschriften (Art. 454 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93). Die Klägerin hat eine solche Zuwiderhandlung festgestellt, weil die am 23. März 1994 in ihr Staatsgebiet eingeführte Ware nicht an der Bestimmungszollstelle A. bis zum 28. März 1994 unter Erledigung des Carnet TIR gestellt worden ist (Art. 10, 28 TIR-Übereinkommen; Art. 4 Nr. 19, Art. 37, 38, 40 der Verordnung Nr. 2913/92).

Nach Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 gilt die Zuwiderhandlung, wenn nicht festgestellt werden kann, in welchem Gebiet sie begangen worden ist, als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt worden ist, es sei denn, die Ordnungsmäßigkeit des (Transport-)Verfahrens oder der Ort, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, wird den Zollbehörden innerhalb der gemäß Art. 455 Abs. 1 dieser Verordnung vorgeschriebenen Frist glaubhaft nachgewiesen. Nach Art. 455 Abs. 1 dieser Verordnung teilen die Zollbehörden, wenn im Verlauf oder anläßlich einer Beförderung mit Carnet TIR eine Zuwiderhandlung festgestellt wird, dies dem Inhaber des Carnet sowie dem bürgenden Verband innerhalb der in Art. 11 Abs. 1 TIR-Übereinkommen vorgeschriebenen Frist mit. Nach Art. 11 Abs. 1 Satz 1 dieses Übereinkommens können die zuständigen Behörden, wenn ein Carnet TIR nicht erledigt worden ist, vom bürgenden Verband die Entrichtung der in Art. 8 Abs. 1, 2 des Übereinkommens genannten Abgaben nur verlangen, wenn sie diesem innerhalb eines Jahres nach der Annahme des Carnet TIR dessen Nichterledigung schriftlich mitgeteilt haben. Der Gerichtshof hat in seinem genannten Urteil vom 23. März 2000 für den Fall, daß ein Mitgliedstaat den Inhaber eines Carnet wegen Zollabgaben in Anspruch nimmt, entschieden, daß die Frist für den Nachweis des Ortes, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, gemäß diesen Bestimmungen ein Jahr beträgt. Im vorliegenden Falle gilt nicht die Mitteilungsfrist von zwei Jahren nach Art. 11 Abs. 1 Satz 2 TIR-Übereinkommen, die dann anzuwenden ist, wenn die Erledigungsbescheinigung mißbräuchlich oder betrügerisch erwirkt worden ist. Die Bestimmungszollstelle hat keine Erledigungsbescheinigung erteilt. Einer mißbräuchlich oder betrügerisch erlangten Erledigungsbestätigung steht es nicht gleich, daß die deutsche Abgangszollstelle das Carnet TIR angenommen hat und dieses inzwischen mit einem gefälschten Stempel der Bestimmungszollstelle aufgefunden worden ist. Gilt die Zuwiderhandlung mangels eines Nachweises des Ortes, an dem sie tatsächlich begangen worden ist, als in dem Mitgliedstaat begangen, in dem sie festgestellt worden ist, so werden die Zölle und andere Abgaben von diesem Mitgliedstaat nach den gemeinschaftlichen oder innerstaatlichen Vorschriften erhoben (Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 2454/93).

b) Für das vorlegende Gericht ist zunächst gemäß der Vorlagefrage zu 1. a) unklar, ob eine Frist gemäß Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 und Art. 455 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 Satz 1 TIR-Übereinkommen für den Nachweis des Ortes, an dem die Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit einem Transport mit Carnet TIR tatsächlich begangen worden ist, auch für den beklagten bürgenden Verband gilt, der von dem Mitgliedstaat (Klägerin), der die Zuwiderhandlung festgestellt hat, auf Entrichtung der Zollabgaben verklagt worden ist und der in diesem Rechtsstreit nachweisen will, daß die Zuwiderhandlung in einem anderen Mitgliedstaat begangen worden ist. Das genannte Urteil des Gerichtshofs vom 23. März 2000 bezieht sich nicht auf diesen Fall.

Die genannten Bestimmungen scheinen nur einen außergerichtlichen Nachweis zu betreffen, weil darin nicht der Fall geregelt ist, daß der Nachweis in einem Rechtsstreit geführt werden soll. Nach Art. 454 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 gilt dieser Artikel "unbeschadet der die Haftung der bürgenden Verbände betreffenden besonderen Bestimmungen des TIR-Übereinkommens". Der bürgende Verband wird nicht in Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 dieser Verordnung, wohl aber in Art. 455 Abs. 1 dieser Verordnung und in der Bestimmung des Art. 11 Abs. 1 Satz 1 TIR-Übereinkommen, auf die Art. 455 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 verweist, erwähnt. Die Regelung des Art. 8 Abs. 1 TIR-Übereinkommen, nach der ein bürgender Verband neben den Zollschuldnern (Art. 203 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92) als Gesamtschuldner haftet, kann dafür sprechen, daß dieser den Zollschuldnern auch bezüglich der Nachweisfrist gleichstehen soll.

c) Sollte der Gerichtshof die Vorlagefrage zu 1. a) bejahen, so stellen sich die beiden weiteren Vorlagefragen zu 1. b), deren Beantwortung für das vorlegende Gericht ebenfalls nicht offenkundig ist.

aa) Sollte die Frist gemäß Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 zum Nachweis des Ortes, an dem die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen worden ist, auch für den beklagten bürgenden Verband gelten, so erscheint es nicht ausgeschlossen, daß dann nicht gemäß Art. 455 Abs. 1 dieser Verordnung in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 Satz 1 TIR-Übereinkommen eine - vom Beklagten versäumte - Frist von einem Jahr nach Mitteilung der Nichterledigung des Carnet gilt, sondern eine - vom Beklagten eingehaltene - Frist von zwei Jahren gemäß Art. 455 Abs. 2 dieser Verordnung.

Nach dieser Bestimmung ist der Nachweis für die ordnungsmäßige Durchführung der Beförderung mit Carnet TIR im Sinne des Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 innerhalb der in Art. 11 Abs. 2 TIR-Übereinkommen vorgeschriebenen Frist zu erbringen. Nach dieser Vorschrift ist die Aufforderung an den bürgenden Verband zur Entrichtung der in Art. 8 Abs. 1, 2 des Übereinkommens genannten Abgaben frühestens drei Monate und spätestens zwei Jahre nach der Mitteilung an den Verband zu richten, daß das Carnet nicht erledigt worden ist (Art. 11 Abs. 2 Satz 1 TIR-Übereinkommen). Ist jedoch innerhalb dieser Frist von zwei Jahren die Sache zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens gemacht worden, so muß die Zahlungsaufforderung binnen einem Jahr nach dem Tage ergehen, an dem die gerichtliche Entscheidung rechtskräftig geworden ist (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 TIR-Übereinkommen).

In den verbundenen Rechtssachen C-310/98 und C-406/98 hat der Generalanwalt in seinen Schlußanträgen (Ziffer 31 - 44) ausgeführt, für den Nachweis der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens und des tatsächlichen Ortes der Zuwiderhandlung gelte die - vorstehend dargelegte - Frist von zwei Jahren. Dieser Ansicht ist der Gerichtshof nicht gefolgt, soweit der Nachweis von einem Zollschuldner (Art. 203 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92) zu erbringen ist. Danach ist es noch offen, welche Nachweisfrist für einen bürgenden Verband gilt.

Eine längere Nachweisfrist für einen bürgenden Verband könnte berechtigt sein, weil dieser - anders als ein Zollschuldner, der an der Zuwiderhandlung beteiligt ist (Art. 203 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92) - die Tatumstände nicht kennt oder hätte kennen müssen, sondern diese ermitteln muß. Vergeht darüber ein Jahr, so könnte ein bürgender Verband, der nicht über staatliche Ermittlungsmöglichkeiten verfügt, bei Geltung einer solchen Frist gegenüber der Abgabenforderung des Mitgliedstaates, in dem er zugelassen ist, nicht mehr geltend machen, die Zuwiderhandlung habe in einem anderen Mitgliedstaat stattgefunden.

bb) Sollte insoweit für den bürgenden Verband eine Nachweisfrist von einem Jahr gelten, so wäre noch zu klären, ob es sich dabei um eine unverbindliche Ordnungsfrist oder um eine Ausschlußfrist in dem Sinne handelt, daß der beklagte bürgende Verband nach Versäumung dieser Frist im vorliegenden Rechtsstreit mit seiner unter Beweis gestellten Verteidigung, die Zuwiderhandlung sei tatsächlich in Spanien begangen worden, ausgeschlossen ist.

3. Durch Art. 1 Ziff. 54, 55 der Verordnung (EG) Nr. 2787/2000 der Kommission vom 15. Dezember 2000 (Amtsblatt der EG vom 27. Dezember 2000 Nr. L 330/1), in Kraft getreten am siebten Tag nach ihrer Veröffentlichung (Art. 4 Abs. 1), wurden Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1, Art. 455 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 geändert. In Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 dieser Verordnung wurden die Worte "gemäß Artikel 455 Absatz 1" durch die Worte "gemäß Artikel 455 Absatz 2" ersetzt; zugleich wurden in Art. 455 Abs. 2 dieser Verordnung die Worte "in Artikel 11 Absatz 2 des TIR-Übereinkommens" durch die Worte "in Artikel 11 Absatz 3 des TIR-Übereinkommens" ersetzt. Nach der letztgenannten Bestimmung hat der bürgende Verband die gemäß Art. 8 Abs. 1, 2 des TIR-Übereinkommens geforderten Abgaben binnen drei Monaten nach dem Tage der Zahlungsaufforderung zu entrichten (Art. 11 Abs. 3 Satz 1 TIR-Übereinkommen); die entrichteten Beträge werden dem bürgenden Verband erstattet, wenn innerhalb von zwei Jahren nach dem Tage der Zahlungsaufforderungen ein die Zollbehörden zufriedenstellender Nachweis erbracht worden ist, daß bei dem betreffenden Transport eine Unregelmäßigkeit nicht begangen wurde (Art. 11 Abs. 3 Satz 2 TIR-Übereinkommen). Nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2787/2000 sind die geänderten Bestimmungen ab 1. Juli 2001 anwendbar.

Danach scheinen die Änderungen der genannten Vorschriften der Verordnung Nr. 2454/93 keine Rückwirkung auf den hier vorliegenden Altfall zu haben. Außerdem ist auch nach den geänderten Bestimmungen unklar, ob die Nachweisfrist - gemäß der Vorlagefrage zu 1 a - für einen bürgenden Verband gilt, und, wenn dies - gemäß der Vorlagefrage zu 1 b - der Fall sein sollte, die Verweisung auf Art. 11 Abs. 3 des TIR-Übereinkommens in Art. 455 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 der neuen Fassung die Frist von drei Monaten in Art. 11 Abs. 3 Satz 1 dieses Übereinkommens oder diejenige von zwei Jahren in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 des Übereinkommens betrifft.

4. Die vorgelegten Fragen sind entscheidungserheblich.

Zwar macht der beklagte bürgende Verband geltend, eine Fristenregelung in Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93, die - ebenso wie die Verordnung Nr. 2913/92 - seit dem 1. Januar 1994 gilt, für den Nachweis des tatsächlichen Ortes einer Zuwiderhandlung sei auf seine Bürgschaft von August 1993 nicht anzuwenden. Das trifft jedoch nicht zu. Nach Ziffer 2 der Bürgschaftsurkunde haftet der Beklagte für eine Zollschuld von Inhabern eines Carnet TIR nach den Vorschriften des Zollrechts und der Verbrauchsteuergesetze "von dem Zeitpunkt ab, in dem ihnen das abgefertigte Zollgut zur Beförderung überlassen wird". Dieser Zeitpunkt lag im März 1994, also in der Geltungszeit der beiden genannten Verordnungen.

Der beklagte bürgende Verband ist durch eine Fristenregelung in Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 alter Fassung auch nicht nachträglich belastet worden. Vielmehr ist erst durch diese Bestimmung ermöglicht worden, in den Fällen, in denen nicht festgestellt werden kann, wo die Zuwiderhandlung begangen worden ist, die Fiktion, daß die Zuwiderhandlung in dem Mitgliedstaat als begangen gilt, in dem sie festgestellt worden ist, durch den Nachweis zu entkräften, daß diese tatsächlich in einem anderen Mitgliedstaat begangen wurde. Vorher wurde ein solcher Gegenbeweis durch Art. 37 TIR-Übereinkommen nicht gestattet (vgl. auch Art. 215 der seit dem 1. Januar 1994 geltenden Verordnung Nr. 2913/92).

IV.

Zur zweiten Vorlagefrage

1. Die Vorlagefrage zu 2. a) bezieht sich darauf, daß der beklagte bürgende Verband den Art. 454, 455 der Verordnung Nr. 2454/93 eine Ermittlungspflicht des Mitgliedstaats entnimmt, der eine Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit einem Transport mit Carnet TIR feststellt. Der Mitgliedstaat soll danach gehalten sein, über die Mitteilungen gemäß Art. 455 Abs. 1 dieser Verordnung und die Suchanzeige an die Bestimmungszollstelle hinaus zu ermitteln, wo die Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde und wer die Zollschuldner im Sinne des Art. 203 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 sind. Dazu macht der Beklagte geltend, die Klägerin hätte die britischen Steuerbehörden um Amtshilfe bei der Aufklärung des Sachverhalts bitten müssen (vgl. Verordnung-EWG-Nr. 1468/81 des Rates vom 19. Mai 1981, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 144 vom 2. Juni 1981). Nach Ansicht des bürgenden Verbandes gilt die Fiktion des Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 erst dann, wenn die ordnungsmäßige Erfüllung einer solchen Ermittlungspflicht erfolglos geblieben ist.

Sollte die Ansicht des bürgenden Verbandes richtig sein, so könnte die Klägerin nicht gemäß Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 als Abgabengläubigerin gelten, so daß die vorliegende Bürgschaftsklage abzuweisen wäre. Der Senat neigt zu der Auffassung, daß die genannten Bestimmungen keine entsprechende Ermittlungspflicht des Mitgliedstaats begründen, der die Zuwiderhandlung festgestellt hat. Gegen eine solche Pflicht spricht insbesondere die Regel-Ausnahme-Bestimmung in Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 1 der genannten Verordnung. Andererseits ist aber eine solche Auslegung nicht offenkundig. Nach Art. 454 Abs. 3 Unterabsatz 5 der genannten Verordnung treffen die Zollverwaltungen der Mitgliedstaaten die nötigen Vorkehrungen zur Bekämpfung von Zuwiderhandlungen und zu deren wirksamer Ahndung.

2. Falls der Gerichtshof die Vorlagefrage zu 2. a) bejaht, so stellen sich noch die Vorlagefragen zu 2. b), deren Beantwortung dann im vorliegenden Rechtsstreit ebenfalls entscheidungserheblich wäre.

Ende der Entscheidung

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