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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 12.12.2003
Aktenzeichen: IXa ZB 209/03
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 574 Abs. 1 Nr. 2
ZPO § 574 Abs. 3 Satz 2
ZPO § 850c
ZPO § 850d
ZPO § 850d Abs. 1 Satz 2
ZPO § 850d Abs. 1 Satz 3
ZPO § 850i
ZPO § 850f Abs. 1
ZPO § 850f Abs. 1 Buchst. a
ZPO § 850f Abs. 1 Buchst. b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

IXa ZB 209/03

vom

12. Dezember 2003

in dem Zwangsvollstreckungsverfahren

Der IXa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Dr. Kreft, die Richter Raebel, Dr. Boetticher, von Lienen und die Richterin Dr. Kessal-Wulf

am 12. Dezember 2003

beschlossen:

Tenor:

Dem Schuldner wird zur Durchführung der Rechtsbeschwerde unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. Nassall Prozeßkostenhilfe bewilligt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners wird der Beschluß der XI. Zivilkammer des Landgerichts Karlsruhe vom 30. Juni 2003 aufgehoben.

Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin gegen den Beschluß des Amtsgerichts Karlsruhe vom 1. April 2003 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Rechtsmittelverfahren trägt die Gläubigerin.

Der Antrag des Schuldners auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist erledigt.

Wert des Beschwerdegegenstands: 3.067,68 Euro.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat mit Beschluß vom 27. November 1996 zugunsten von Unterhaltsforderungen der Gläubigerin, der geschiedenen Ehefrau des Schuldners, dessen Ansprüche auf Rentenzahlung gegen die Drittschuldner zu 1 und 2 gepfändet. Mit Beschluß vom 3. Juli 1997 hat das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners den pfändungsfreien Betrag auf 1.491,30 DM monatlich angehoben. Die Unterhaltsrückstände sind seit Februar 2003 getilgt, der Anspruch der Gläubigerin auf laufenden Unterhalt beläuft sich gegenwärtig auf 255,64 Euro.

Seit Ende Januar 2002 lebt der Schuldner in einem Seniorenzentrum. Die Renteneinkünfte des Schuldners betragen 727,70 Euro (BfA) und 511,14 Euro (VBL), zusammen 1.238,84 Euro. Sein Bedarf beläuft sich nach seiner Einstufung in die Pflegeklasse III seit dem 1. Juni 2002 auf monatlich 1.681,11 Euro. Nach Aufnahme des Schuldners in das Seniorenzentrum hat die Sozial- und Jugendbehörde der Stadt Karlsruhe rückwirkend zu dessen Rente Hilfe in besonderen Lebenslagen gewährt. Im Januar 2003 hat der Betreuer des Schuldners die Aufhebung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses mit dem Ziel begehrt, den bei der VBL-Rente vorgenommenen Abzug des laufenden Unterhalts von 255,64 Euro zu beseitigen. Das Amtsgericht hat mit Beschluß vom 1. April 2003 den pfändungsfreien Betrag auf 1.681,11 Euro mit der Begründung angehoben, die Einkünfte des Schuldners aus Versorgungsbezügen reichten nicht aus, den sozialhilferechtlichen Mehrbedarf zu decken.

Gegen diesen Beschluß hat sich die Gläubigerin mit der rechtszeitig eingelegten sofortigen Beschwerde gewandt, der das Amtsgericht nicht abgeholfen hat. Die Gläubigerin hat geltend gemacht, sie sei aufgrund ihrer eigenen Altersrente von 846,17 Euro und laufenden Belastungen von 355,53 Euro dringend auf den Unterhalt angewiesen. Das Landgericht hat den Beschluß des Amtsgerichts aufgehoben und den Antrag des Schuldners auf Anhebung des pfändungsfreien Betrags abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Schuldner mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.

Mit seinem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung begehrt er bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde die Hinterlegung des abgezogenen Unterhalts.

II.

Die gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und auch im übrigen zulässige Rechtsbeschwerde des Schuldners ist begründet. Damit erledigt sich auch der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts läßt sich das Ziel des Antrags nach § 850f Abs. 1 ZPO nicht mehr erreichen, das Existenzminimum des Schuldners zu sichern und das Eintreten des Sozialhilfeträgers zu verhindern, weil dieser in jedem Fall Zahlungen für den Schuldner erbringen müsse. In einem solchen Fall sei es dem Schuldner regelmäßig gleichgültig, wie hoch der Sozialhilfeanteil sei. Von seinen Einkünften habe er keinen direkten Vorteil, weil sie entweder von der Gläubigerin gepfändet oder zur Deckung der Sozialhilfeaufwendungen herangezogen würden. Dagegen sei Grund der Vollstreckung ein privilegierter Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau nach § 850d ZPO. Unter diesen Umständen sei die dem Wortlaut des § 850f Abs. 1 ZPO widersprechende und nur in Ausnahmefällen in Betracht kommende völlige Pfandfreigabe der Einkünfte des Schuldners nicht gerechtfertigt.

2. Die Rechtsbeschwerde meint dagegen, die Auffassung des Beschwerdegerichts laufe darauf hinaus, daß die Gläubigerin ihre titulierte Forderung auf Kosten des Sozialhilfeträgers befriedigen könne. Das Interesse der Allgemeinheit gehe auch dahin, für den Schuldner möglichst wenig Sozialhilfe aufwenden zu müssen, um den Lebensunterhalt des Sozialhilfeberechtigten zu sichern. Das Beschwerdegericht habe es im übrigen unterlassen festzustellen, daß der Gläubigerin durch die Anhebung des pfändungsfreien Betrages ein Nachteil entstehen würde, der schwerer zu bewerten sei als der besondere Nachteil, der dem Schuldner aus dem Zusammentreffen der Pfändung mit seinen erhöhten Lasten erwachse.

3. Der Ansicht des Beschwerdegerichts ist nicht zu folgen.

a) Nach § 850f Abs. 1 ZPO kann das Vollstreckungsgericht dem Schuldner auf Antrag von dem nach den Bestimmungen der § 850c, § 850d und § 850i ZPO pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens einen Teil belassen, wenn er nachweist, daß bei Anwendung der Pfändungsfreigrenzen entsprechend der Anlage zu § 850c ZPO der notwendige Lebensunterhalt für sich und die Personen, denen er Unterhalt zu gewähren hat, nicht gedeckt ist (Buchst. a) oder besondere Bedürfnisse aus persönlichen oder beruflichen Gründen es erfordern, die Pfändungsfreigrenze heraufzusetzen (Buchst. b), sofern überwiegende Belange des Gläubigers nicht entgegenstehen. Schon nach seinem Wortlaut gilt § 850f Abs. 1 Buchst. a und b ZPO uneingeschränkt auch für die Vollstreckung von Ehegattenunterhalt. Die Bestimmung steht im Zusammenhang mit der des § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO und geht der Regelung in § 850d Abs. 1 Satz 3 ZPO vor (vgl. OLG Frankfurt am Main NJW-RR 2000, 220; Zöller/Stöber, ZPO 24. Aufl. § 850d Rn. 10; Thomas/Putzo, ZPO 25. Aufl. § 850f Rn. 1; Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO 62. Aufl. § 850f Rn. 3; Stein/Jonas/Brehm ZPO 21. Aufl. § 850f Rn. 7). Die Vorschrift soll im Interesse des Schuldners sicherstellen, daß diesem nach Durchführung der Pfändungsmaßnahme das Existenzminimum verbleibt. Sie soll zugleich im Interesse der Allgemeinheit, die die Mittel für ergänzende Sozialhilfeleistungen aufzubringen hat, verhindern, daß der Gläubiger zu ihren Lasten befriedigt wird. Der Pfändungsschutz nach § 850f Abs. 1 ZPO ist zu gewähren, wenn die Vermeidung von Sozialhilfeleistungen oder besondere Bedürfnisse des Schuldners einen weitergehenden Freibetrag erfordern und nicht überwiegende Belange des Gläubigers entgegenstehen (Stöber, Forderungspfändung 13. Aufl. Rn. 1175a). Dies macht die Abwägung der Belange des Schuldners und des Gläubigers im Einzelfall erforderlich. Dabei kann auch zu berücksichtigen sein, ob der Gläubiger bei Anwendung des § 850f Abs. 1 ZPO selbst in eine Notlage gerät (Zöller/Stöber aaO § 850f Rn. 7).

b) Nach diesem Maßstab ist es rechtlich nicht zu beanstanden, daß das Amtsgericht angesichts des erhöhten Bedarfs des Schuldners den pfandfreien Betrages nach § 850f Abs. 1 ZPO angehoben und das Einkommen des Schuldners derzeit pfändungsfrei gestellt hat.

aa) Der Schuldner lebt in einem Seniorenheim und ist hinsichtlich der Aufwendungen für den Heimaufenthalt und die Pflege in erheblichem Umfang und dauerhaft auf Hilfe in besonderen Lebenslagen angewiesen. Selbst bei vollständiger Freistellung seiner Einkünfte von der Pfändung nach § 850f Abs. 1 ZPO kann das Eintreten des Sozialhilfeträgers nicht vermieden werden. Da jedoch die Vorschrift nicht nur ein Absinken des nach der Pfändung verbleibenden Einkommens des Schuldners unter den Sozialhilfesatz verhindern, sondern auch vermeiden soll, daß eine Befriedigung des Gläubigers auf Kosten der Allgemeinheit erfolgt, ist es auch von Bedeutung, in welchem Umfang die Allgemeinheit zum Lebensunterhalt des Schuldners beitragen muß, wenn dessen eigene, ihm dazu zur Verfügung stehenden Einkünfte infolge der Pfändung durch den Gläubiger geschmälert sind. Das Interesse der Allgemeinheit und der Sozialhilfeträger muß deshalb auch dahin gehen, möglichst wenig Sozialhilfe für den Schuldner aufzuwenden, um den - hier sogar erhöhten - Lebensunterhalt des Schuldners zu sichern. § 850f Abs. 1 ZPO schützt damit das Interesse der Allgemeinheit und der Sozialhilfeträger ebenso wie die Anpassung der Pfändungsfreigrenzen in § 850c ZPO (vgl. Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen, BT-Drucks, 14/6812, S. 8 und 9).

bb) Demgegenüber kann nach den bisherigen Feststellungen - jedenfalls zur Zeit - nicht davon ausgegangen werden, daß überwiegende Belange der Gläubigerin den Interessen der Allgemeinheit entgegenstehen. Sie hat lediglich vorgetragen, daß sie eine eigene Altersrente von 846,17 Euro erhält, von denen sie laufende Belastungen in Höhe von 355,53 Euro zu bestreiten habe. Damit fehlen nähere Angaben über ihre Lebens- und Vermögensverhältnisse, etwa, ob die Gläubigerin in einem Eigenheim lebt, ob sie Ersparnisse hat oder über Kapitaleinkünfte verfügt oder ob ihr Unterhaltsansprüche gegen Dritte zustehen. Ohne nähere Feststellungen überwiegt das Interesse der Allgemeinheit an einer Anhebung der Pfändungsfreigrenze, damit die Hilfe für die Heim- und Pflegekosten reduziert werden kann; allein der Umstand, daß der Gläubigerin ein titulierter Ehegattenunterhalt zusteht, führt zu keinem anderen Ergebnis. Deshalb kann hier dahingestellt bleiben, ob anders zu entscheiden wäre, wenn die Gläubigerin ohne den titulierten Ehegattenunterhalt aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse gezwungen sein sollte, selbst Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, nur um den für den Schuldner zuständigen Sozialhilfeträger zu entlasten. Hierüber wird gegebenenfalls das Vollstreckungsgericht auf Antrag neu zu befinden haben.

Ende der Entscheidung

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