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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Beschluss verkündet am 26.07.2005
Aktenzeichen: KZR 16/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 139
BGB § 306
BGB § 306 Abs. 3
BGB § 307 Abs. 1
BGB § 307 Abs. 2 Nr. 1
BGB § 313
BGB § 314
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

KZR 16/04

vom 26. Juli 2005

in dem Rechtsstreit

Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. Juli 2005 durch den Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Hirsch, den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Goette und die Richter Ball, Prof. Dr. Bornkamm und Dr. Raum

beschlossen:

Tenor:

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden folgende Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 234 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (Verordnung (EG) Nr. 1475/95) dahin auszulegen, daß sich die Notwendigkeit, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren, und das davon abhängige Recht des Lieferanten, Verträge mit Händlern seines Vertriebsnetzes mit einer Frist von einem Jahr zu kündigen, auch daraus ergeben kann, daß mit dem Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (Verordnung (EG) Nr. 1400/2002) tiefgreifende Änderungen des von dem Lieferanten und seinen Händlern bis dahin praktizierten, an der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 ausgerichteten und durch diese Verordnung freigestellten Vertriebssystems erforderlich wurden?

2. Falls die erste Frage zu verneinen ist:

Ist Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 dahin auszulegen, daß die in einem Kraftfahrzeughändlervertrag enthaltenen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen, die nach dieser Verordnung an sich Kernbeschränkungen ("schwarze Klauseln") darstellen, ausnahmsweise dann nicht mit Ablauf der einjährigen Übergangsfrist nach Art. 10 der Verordnung am 30. September 2003 zum Wegfall der Freistellung für sämtliche wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen des Vertrages vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG geführt haben, wenn dieser Vertrag unter der Geltung der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 abgeschlossen, an den Vorgaben dieser Verordnung ausgerichtet und durch diese Verordnung freigestellt worden ist?

Gilt dies jedenfalls dann, wenn die aus dem Gemeinschaftsrecht folgende Nichtigkeit aller wettbewerbsbeschränkenden Vertragsbestimmungen nach nationalem Recht die Gesamtnichtigkeit des Händlervertrages zur Folge hat?

Gründe:

I.

Die Klägerin ist eine ehemalige Vertragshändlerin der beklagten Kraftfahrzeugherstellerin. Der den Vertragsbeziehungen zugrundeliegende, nach einem einheitlich verwendeten Muster der Beklagten geschlossene Händlervertrag datiert aus dem Jahre 1996. Er enthält unter anderem folgende Bestimmungen:

11.3 Ordentliche Kündigung durch BMW

BMW kann den Vertrag mit einer Frist von 24 Monaten kündigen.

11.6 Kündigung wegen Umstrukturierung des Vertriebsnetzes

Falls sich die Notwendigkeit ergibt, das BMW Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren, ist BMW berechtigt, den Vertrag mit einer Frist von 12 Monaten zu kündigen.

Dies gilt auch für den Fall, daß sich die diesem Vertrag zugrundeliegenden rechtlichen Rahmenbedingungen in wesentlichen Bereichen ändern.

13.2 Unwirksamkeitsklausel

Die Unwirksamkeit einzelner Bestimmungen dieses Vertrages oder seiner Bestandteile läßt die Wirksamkeit der übrigen Regelungen unberührt. Die Vertragspartner sind im Rahmen des Zumutbaren nach Treu und Glauben verpflichtet, eine unwirksame Bestimmung durch eine ihr im wirtschaftlichen Erfolg gleichkommende wirksame Regelung zu ersetzen, sofern dadurch keine wesentliche Änderung des Vertragsinhalts herbeigeführt wird; das gleiche gilt, falls ein regelungsbedürftiger Sachverhalt nicht ausdrücklich geregelt ist.

Die Beklagte sprach im September 2002 die Kündigung sämtlicher Händlerverträge ihres europäischen Vertriebsnetzes zum 30. September 2003 aus. Sie begründete diesen Schritt damit, daß die am 1. Oktober 2002 mit einer Übergangsfrist für bestehende Händlerverträge bis zum 30. September 2003 in Kraft tretende Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 gravierende rechtliche und strukturelle Veränderungen für den Automobilvertrieb mit sich bringe, die auch eine wesentliche Umstrukturierung ihres Vertriebsnetzes erforderten. Mit dem Großteil ihrer bisherigen Händler schloß die Beklagte in der Folgezeit mit Wirkung vom 1. Oktober 2003 neue, an den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 ausgerichtete Verträge ab.

Die Klägerin, der die Beklagte ebenso wie mehreren anderen ehemaligen Händlern keinen neuen Händlervertrag anbot, ist der Auffassung, die Kündigung der Beklagten habe nicht vor Ablauf der zweijährigen Frist für eine ordentliche Kündigung nach Nr. 11.3 des Händlervertrages am 30. September 2004 zur Beendigung ihres Händlervertrages geführt, weil die Voraussetzungen einer sogenannten Strukturänderungskündigung nach Nr. 11.6 Abs. 1 des Händlervertrages nicht erfüllt seien und Nr. 11.6 Abs. 2 des Vertrages unwirksam sei. Sie hat deshalb Klage auf Feststellung erhoben, daß das Vertragshändlerverhältnis über den 30. September 2003 hinaus bis längstens 30. September 2004 fortbestehe.

Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen. Es hält die in Nr. 11.6 Abs. 1 des Händlervertrages getroffene Kündigungsregelung für wirksam und deren Voraussetzungen für gegeben. Nach seiner Auffassung hatten die aus dem Erlaß der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 resultierenden Änderungen für den Automobilvertrieb die Notwendigkeit einer Umstrukturierung des Vertriebsnetzes der Beklagten zur Folge. Eine Reihe von Wettbewerbsbeschränkungen des Händlervertrages, die bis dahin durch die Verordnung (EG) Nr. 1475/95 freigestellt gewesen seien, stellten nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 Kernbeschränkungen dar. Dies habe zur Folge, daß ohne die Kündigung zum 30. September 2003 in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft am 1. Oktober 2003 die Freistellung für sämtliche wettbewerbsbeschränkenden Klauseln der Händlerverträge der Beklagten entfallen wäre. Es sei der Beklagten nicht zumutbar, auch nur bis zum 30. September 2004, dem Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung, einen Rechtszustand zu akzeptieren, der allenfalls in einem Vertragsrest ohne wettbewerbsbeschränkende Klauseln oder gar in einem - wegen Gesamtnichtigkeit nach nationalem Recht (§ 306 BGB) - vertragslosen Zustand bestünde. Die daraus folgende Notwendigkeit der Umstrukturierung des Vertriebsnetzes der Beklagten entfalle auch nicht im Hinblick auf die Ersetzungsklausel in Nr. 13.2 Satz 2 Halbs. 1 des Händlervertrages; deren Voraussetzungen seien nicht gegeben, weil den infolge des Inkrafttretens der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 notwendigen Änderungen im Automobilvertrieb nicht ohne eine wesentliche Änderung des Vertragsinhalts Rechnung getragen werden könne.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Feststellungsbegehren weiter.

II.

1. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt in erster Linie von der Beantwortung der Frage ab, ob die Beklagte nach Nr. 11.6 Abs. 1 des Händlervertrags berechtigt war, die Händlerverträge mit einjähriger Frist zum 30. September 2003 zu kündigen. Der Senat neigt dazu, die Frage mit dem Berufungsgericht zu bejahen. Die dazu erforderliche Vertragsauslegung kann er indessen nicht vornehmen, ohne zuvor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 234 EG die entsprechende Frage zur Auslegung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 vorzulegen, dessen Regelung die vertragliche Kündigungsklausel wörtlich übernimmt.

a) Die Frage ist entscheidungserheblich.

aa) Eine vertragliche Befugnis der Beklagten, den mit der Klägerin geschlossenen Händlervertrag mit nur einjähriger Frist zum 30. September 2003 zu kündigen, kann allein aus Nr. 11.6 Abs. 1 des Händlervertrages hergeleitet werden. Auf Nr. 11.6 Abs. 2 des Händlervertrages kann eine wirksame Sonderkündigung mit einjähriger Frist nicht gestützt werden. Geht die Bestimmung inhaltlich über die nach Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 zulässigen Abweichungen von der zweijährigen Frist für eine ordentliche Kündigung (Art. 5 Abs. 2 Nr. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1475/95) hinaus, was von der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Spiegelstrich der Verordnung abhängt, so ist sie - ungeachtet der gemeinschaftsrechtlichen Folgen, die dies nach sich zieht - jedenfalls wegen unangemessener Benachteiligung der Händler gemäß § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam (vgl. BGH, Urt. v. 21.2.1995 - KZR 33/93, WuW/E 2983, 2985 - Kfz-Vertragshändler). Sollte Art. 5 Abs. 3 Satz 1 1. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 dagegen im Sinne der Vorlagefrage auszulegen sein, so hat Nr. 11.6 Abs. 2 des Händlervertrages daneben keinen eigenständigen Regelungsgehalt.

bb) Ein außerordentliches Kündigungsrecht aus wichtigem Grund gemäß § 314 BGB oder wegen Störung der Geschäftsgrundlage des Händlervertrages gemäß § 313 BGB (dazu Wendel WRP 2002, 1395, 1401; Schönbohm WRP 2004, 695, 698) kommt als Grundlage der hier zu beurteilenden, allein auf die vertragliche Kündigungsregelung gestützten Kündigung der Beklagten nicht in Betracht. Es bedarf deshalb keines weiteren Eingehens auf die Frage, ob Art. 5 Abs. 3 Satz 1 2. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 die außerordentliche Kündigung eines Kraftfahrzeughändlervertrages aus einem anderen als dem dort genannten Grund der Nichterfüllung wesentlicher Vertragspflichten zuläßt.

b) Ob der Änderungsbedarf, den die am 1. Oktober 2002 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 für den Automobilvertrieb mit sich brachte, eine Umstrukturierung der Vertriebsnetze im Sinne des Art. 5 Abs.3 Satz 1 1. Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 erforderte und die Kraftfahrzeughersteller zur Kündigung ihrer Händlerverträge mit einjähriger Frist berechtigte, ist umstritten.

aa) Nach einer engeren Auffassung, die sich auf die Ausführungen zu Frage 16 der Leitlinien der Europäischen Kommission zu der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 (ebenso zu Frage 68 des Leitfadens zu der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002) stützt, kann sich ein Umstrukturierungsbedarf nur aufgrund des Verhaltens von Wettbewerbern oder sonstiger wirtschaftlicher Entwicklungen ergeben, wobei letztere allerdings auch auf interne Entscheidungen des Herstellers zurückzuführen sein können. Nach dieser Auffassung kann das Inkrafttreten der neuen Gruppenfreistellungsverordnung mit einjähriger Anpassungsfrist eine Kündigung wegen notwendiger Umstrukturierung des Vertriebsnetzes nicht rechtfertigen, weil die Anpassung an eine neue Rechtslage keine Änderung des Vertriebsnetzes darstelle (so insbesondere Creutzig, EuZW 2002, 560, 563; Reckmann, WuW 2003, 752, 755 f.). Auch in dem Leitfaden zu der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 (abgedr. in Gemeinschaftskommentar, 5. Aufl., EG Gruppenfreistellungen - Branchenregelungen - Kfz-Vertrieb, Anhang) vertritt die Europäische Kommission zu Frage 20 die Auffassung, die Tatsache, daß die Geltungsdauer der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 am 30. September 2002 ende und sie durch eine neue Verordnung ersetzt werde, bedeute noch nicht, daß ein Vertriebsnetz umgestaltet werden müsse.

bb) Die Gegenmeinung stellt auf die Auswirkungen ab, die sich aus dem Inkrafttreten der neuen Gruppenfreistellungsverordnung für die inhaltliche Ausgestaltung der Automobil-Vertriebssysteme zwangsläufig ergeben, und hält dementsprechend Restrukturierungskündigungen mit einjähriger Frist zum 30. September 2003 für zulässig (so vor allem Wendel, aaO, S. 1400 f.; Schumacher, Recht des Kfz-Vertriebs in Europa, 2005, S. 102 f.). Diese Auffassung erscheint dem Senat vorzugswürdig.

(1) Es ist schon nicht zu erkennen, weshalb sich die Notwendigkeit einer Netzumstrukturierung allein aus wirtschaftlichen Gründen ergeben können soll. Es mag sein, daß dem Verordnungsgeber dieser Fall bei der Formulierung des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 vor Augen gestanden hat. Das schließt indessen nicht aus, die Bestimmung so auszulegen, daß auch rechtliche Umstände, die Auswirkungen auf das Vertriebssystem haben, die Kündigungsvoraussetzungen erfüllen.

(2) Richtig ist dagegen ohne Zweifel, daß bei einer reinen Wortlautinterpretation zwischen dem Vertriebssystem, das auf die Vorgaben der neuen Gruppenfreistellungsverordnung umgestellt werden mußte, und dem Vertriebsnetz zu unterscheiden ist. Andererseits läßt sich das Vertriebssystem aber auch als Teil der Struktur des Vertriebsnetzes verstehen, das nicht nur aus der Summe der Vertriebspartner (dem Hersteller auf der einen, den Händlern auf der anderen Seite) besteht, sondern durch die vertragliche Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen den Vertriebspartnern - das Vertriebssystem - geprägt wird. Denn zu einem Vertriebsnetz werden Hersteller und Händler erst dadurch, daß ein vertragliches Regelwerk sie miteinander verbindet, durch das ihre Vertriebskooperation im einzelnen ausgestaltet wird. Untrennbarer Teil dieses vertraglichen Regelwerks sind auch diejenigen Vereinbarungen, deren Gesamtheit das Vertriebssystem darstellt.

(3) Unabhängig von diesen am Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 anknüpfenden Überlegungen erscheint dem Senat eine weite Auslegung aber insbesondere im Hinblick auf das Ergebnis geboten.

Die Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 hat einen erheblichen, bis dahin nicht gekannten Änderungsbedarf für die in Europa praktizierten Automobilvertriebssysteme mit sich gebracht. Die bis dahin verbreitete Kombination von exklusivem und selektivem Vertrieb ist unter ihrer Geltung nicht mehr vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG freigestellt. Die Kraftfahrzeughersteller mußten sich für eines der beiden Vertriebssysteme entscheiden, was in der Praxis zur Folge hat, daß im Rahmen des nahezu ausnahmslos gewählten selektiven Vertriebssystems Gebietsbeschränkungen und Gebietsschutz der Händler nicht mehr freigestellt sind. Um in den Genuß der Gruppenfreistellung zu kommen, mußten ferner Verkauf und Kundendienst, bis zum Inkrafttreten der neuen Gruppenfreistellungsverordnung zwangsweise kombiniert, entkoppelt und markenunabhängige Werkstätten als Servicewerkstätten zugelassen werden, sofern sie bestimmte Standards erfüllten. Weitgehend entfallen ist mit der neuen Gruppenfreistellungsverordnung auch die bis dahin noch weit verbreitete Markenexklusivität.

All diesen Veränderungen mußte ein Kraftfahrzeughersteller vor Ablauf der einjährigen Übergangsfrist des Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 durch Anpassung der bestehenden oder durch Kündigung und Abschluß neuer Händlerverträge Rechnung tragen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, am 1. Oktober 2003 ohne wirksame Vertriebsvereinbarungen mit der Händlerschaft dazustehen. Gelang es nämlich nicht, einen der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 entsprechenden Händlervertrag rechtzeitig vor Ablauf der Umstellungsfrist an die Vorgaben der neuen Gruppenfreistellungsverordnung anzupassen oder ihn (notfalls) zu beenden, so hatte dies möglicherweise (dazu unten zu II 2) zur Folge, daß alle wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen ab 1. Oktober 2003 nach Art. 81 Abs. 2 EG nichtig waren, weil wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, die nach der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 noch freigestellt waren, nach der neuen Gruppenfreistellungsverordnung zum Teil Kernbeschränkungen darstellen, die nach Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 zur Folge haben, daß die Freistellung für alle wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen des Händlervertrages entfällt (Schütz in Gemeinschaftskommentar, aaO, Art. 4 Rdn. 1). Für die Beklagte hätte das beispielsweise dazu führen können, daß die betreffenden Händler nicht mehr gehindert gewesen wären, BMW-Neufahrzeuge an nicht autorisierte Wiederverkäufer abzugeben. Innerhalb des Vertriebsnetzes der Beklagten hätte zweierlei Recht gegolten mit einer deutlich freieren Stellung derjenigen Händler, die nicht bereit gewesen wären, einer Anpassung des Händlervertrages an die Vorgaben der neuen Gruppenfreistellungsverordnung zuzustimmen. Der Senat ist mit dem Berufungsgericht der Auffassung, daß einem Automobilhersteller derart ungeordnete Verhältnisse innerhalb seines Vertriebsnetzes auch nicht für die Dauer eines Jahres zumutbar sind.

Ein einseitiger Verzicht des Automobilherstellers auf Wettbewerbsbeschränkungen, die in den früheren Händlerverträgen enthalten, nach der neuen Gruppenfreistellungsverordnung aber nicht mehr freigestellt sind, vermag das Problem entgegen einer im Schrifttum vertretenen Ansicht (Reckmann aaO S. 758) nicht zu lösen. Durch einen einseitigen Verzicht kann der Vertragsinhalt nicht verändert werden. Die sich aus Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 möglicherweise (dazu unten zu 2) ergebende Folge, daß die Freistellung auch für die nach der neuen Gruppenfreistellungsverordnung an sich weiterhin zulässigen Wettbewerbsbeschränkungen mit Ablauf des 30. September 2003 entfallen würde, konnte durch einen einseitigen Verzicht des Herstellers folglich nicht vermieden werden.

2. Die Frage, ob die von der Beklagten im September 2002 ausgesprochene Kündigung den mit der Klägerin geschlossenen Händlervertrag gemäß deren Nr. 11.6 Abs. 1 mit einjähriger Frist zum 30. September 2003 oder - als ordentliche Kündigungen nach Nr. 11.3 - mit zweijähriger Frist erst zum 30. September 2004 beendet hat, bedarf allerdings dann keiner Entscheidung, wenn der Händlervertrag auch ohne die Kündigung den 30. September 2003, den Ablauf der Übergangsfrist nach Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002, nicht überdauert hat.

Dies könnte deswegen der Fall sein, weil der im Jahre 1996 abgeschlossene, an der damals geltenden Verordnung (EG) Nr. 1475/95 ausgerichtete Vertrag wettbewerbsbeschränkende Klauseln - wie etwa die Kombination von exklusivem und selektivem Vertrieb, Beschränkungen des Mehrmarkenvertriebs und die obligatorische Verbindung von Vertrieb und Kundendienst - enthält, die durch die Verordnung (EG) Nr. 1475/95 freigestellt waren, nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 aber Kernbeschränkungen darstellen, die nicht nur selbst nicht freigestellt (und auch nicht freistellungsfähig) sind, sondern als "schwarze Klauseln" bewirken, daß die Gruppenfreistellung für sämtliche vereinbarten Wettbewerbschränkungen, auch soweit sie für sich genommen nach der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 freigestellt wären, nicht gilt. Ob der danach verbleibende Vertragstorso rechtlich Bestand hat oder der Vertrag insgesamt nichtig ist, beurteilt sich nach nationalem Recht (BGH, Urt. v. 8.2.1994 - KZR 2/93, WuW/E 2909, 2913 - Pronuptia II), d.h. nach § 306 BGB, der für den hier gegebenen Formularvertrag § 139 BGB verdrängt. Nach § 306 Abs. 3 BGB hat die Unwirksamkeit einzelner Vertragsklauseln die Gesamtnichtigkeit des Vertrages zur Folge, wenn das Festhalten an dem lückenhaften Vertrag für eine Vertragspartei eine unzumutbare Härte darstellen würde. Dies ist nach Auffassung des Senats aus den oben unter II 1 b bb (3) dargelegten Gründen hinsichtlich der Beklagten anzunehmen.

Sollte der mit der Klägerin geschlossene Händlervertrag schon aus diesem Grunde - und damit unabhängig von der Wirksamkeit und dem Wirkungszeitpunkt der Kündigung - den Ablauf der Übergangsfrist nach Art. 10 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 nicht überdauert haben, so ist die erste Vorlagefrage obsolet. Dasselbe würde dann freilich auch für die in den Leitlinien zu der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 erörterte, von der Kommission verneinte Frage gelten, ob allein das Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 mit einjähriger Übergangsfrist eine Umstrukturierung des Vertriebsnetzes erfordert und bestehende Händlerverträge von den Herstellern deshalb mit einjähriger Frist zum 30. September 2003 gekündigt werden konnten. Die Tatsache, daß die Frage gleichwohl in den Leitlinien angesprochen und in dem soeben genannten Sinne beantwortet wird, spricht dafür, daß Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 nicht zu dem Ergebnis führen soll, daß sämtliche Wettbewerbsbeschränkungen in Händlerverträgen, die weder rechtzeitig - mit zweijähriger Frist zum 30. September 2003 - gekündigt noch der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 angepaßt wurden, mit Ablauf des 30. September 2003 unwirksam geworden und die betroffenen Händlerverträge infolgedessen nach nationalem Recht möglicherweise insgesamt nichtig sind. Ob Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 in diesem Sinne einschränkend auszulegen ist, hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften zu entscheiden.

Ende der Entscheidung

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