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Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 12.05.1998
Aktenzeichen: VI ZR 182/97
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 847
BGB § 847

a) Die Bemessung des Schmerzensgeldes bei einer Körperverletzung, an deren Folgen der Verletzte alsbald verstirbt, erfordert eine Gesamtbetrachtung der immateriellen Beeinträchtigung unter besonderer Berücksichtigung von Art und Schwere der Verletzungen, des hierdurch bewirkten Leidens und dessen Wahrnehmung durch den Verletzten wie auch des Zeitraums zwischen Verletzung und Eintritt des Todes.

b) Ein Anspruch auf Schmerzensgeld kann zu verneinen sein, wenn die Körperverletzung nach den Umständen des Falles gegenüber dem alsbald eintretenden Tod keine abgrenzbare immaterielle Beeinträchtigung darstellt, die aus Billigkeitsgesichtspunkten einen Ausgleich in Geld erforderlich macht.

BGH, Urteil vom 12. Mai 1998 - VI ZR 182/97 - OLG Hamm LG Detmold


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

VI ZR 182/97

Verkündet am: 12. Mai 1998

Freitag Justizamtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 1998 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner

für Recht erkannt:

Die Revision gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. April 1997 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

Der Kläger verlangt für sich und seine Geschwister als Erben seiner bei einem Verkehrsunfall tödlich verletzten Eltern ein Schmerzensgeld.

Der Beklagte zu 1 geriet am 7. Oktober 1994 nach einer scharfen Rechtskurve mit einem bei der Beklagten zu 3 pflichtversicherten Pkw infolge überhöhter Geschwindigkeit schleudernd auf die Gegenfahrbahn. Dort stieß er mit einem ihm entgegenkommenden Pkw zusammen, in welchem sich auch die Eltern des Klägers befanden. Der Vater des Klägers saß auf dem Beifahrersitz. Er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades mit mehreren Hämatomen, ein stumpfes Thorax-Trauma mit Rippenserienfraktur links und rechts, eine Lungenkontusion, eine Claviculafraktur, ein stumpfes Bauchtrauma und eine Radiusfraktur rechts. Er war unmittelbar nach dem Unfall bei Bewußtsein und ansprechbar, klagte über Schmerzen im Brustbereich und wiederholte vielfach türkische Wörter unter mehrfacher Nennung des Namens seiner Ehefrau. Etwa 20 Minuten nach dem Unfall wurde ihm gegen 22.30 Uhr ein schmerzstillendes Medikament verabreicht. Ab 22.45 Uhr wurde er in ein künstliches Koma versetzt, das eine bewußte Wahrnehmung sowie die Empfindung von Schmerzen ausschloß. Am 17. Oktober 1994 verstarb er an den Unfallfolgen, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.

Die Mutter des Klägers erlitt durch den Unfall lebensgefährliche Verletzungen u.a. im Brustbereich, an denen sie trotz eingeleiteter Notbehandlung etwa eine Stunde nach dem Unfall verstarb, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.

Die Beklagte zu 3 hat auf Aufforderung des Klägers im August 1995 ein Schmerzensgeld von 23.000 DM bezahlt, und zwar 3.000 DM für die Mutter und 20.000 DM für den Vater.

Mit seiner Klage hat der Kläger ein weiteres Schmerzensgeld nebst Zinsen gefordert, wobei er insgesamt 70.000 DM für den Vater und 15.000 DM für die Mutter für angemessen hielt. Das Landgericht hat der Klage in Höhe von 10.000 DM stattgegeben und ist dabei von einem Schmerzensgeldanspruch der Mutter auf weitere 2.000 DM und des Vaters auf weitere 8.000 DM ausgegangen. Das Berufungsgericht hat die Verurteilung zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes für den Vater in Höhe von 8.000 DM bestätigt; die Verurteilung zur Zahlung von weiteren 2.000 DM für die Mutter hat es dagegen aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner (in NZV 1997, 233 veröffentlichten) Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, die Bemessung des auf den Kläger übergegangenen Schmerzensgeldanspruchs des Vaters auf insgesamt 28.000 DM sei nicht zu beanstanden. In der obergerichtlichen Rechtsprechung sei streitig, wie das Schmerzensgeld in Fällen zu bemessen sei, in denen der Verletzte kurz nach dem Schadensfall in ein Koma gerate, ohne bis zum Tode das Bewußtsein wiederzuerlangen; vorliegend sei ein - nicht nur symbolisches - Schmerzensgeld zu gewähren. Dieses sei unter Berücksichtigung der Dauer der jeweiligen Verletzungsphase zu bemessen. Hiernach habe dem Vater des Klägers, der unmittelbar nach dem Unfall ca. eine halbe Stunde lang bei Bewußtsein gewesen sei und unter körperlichen Schmerzen sowie unter Angst um seine Ehefrau und sich selbst gelitten habe, nach dem objektiv sehr schwer wiegenden Verletzungsbild und den subjektiv empfundenen Schmerzen und Ängsten als Ausgleich ein weit überdurchschnittliches Schmerzensgeld zugestanden. Auch für die anschließende Phase eines künstlichen Komas bis zum Tode nach zehn Tagen sei ein fühlbares Schmerzensgeld gerechtfertigt.

Dagegen sei ein über die bezahlten 3.000 DM hinausgehender Anspruch auf ein weiteres Schmerzensgeld für die Mutter des Klägers nicht berechtigt. Zwar sei auch die Mutter nach dem Unfall nicht sofort, sondern erst nach etwa einstündiger Bewußtlosigkeit verstorben. Die Erbengemeinschaft müsse sich jedoch ein erhebliches Mitverschulden der Verletzten, die den Sicherheitsgurt nicht ordnungsgemäß angelegt gehabt habe, entgegenhalten lassen. Unter Berücksichtigung dieses Mitverschuldens rechtfertige die kurze Verletzungsphase der Mutter des Klägers nur einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 2.500 DM, der durch Zahlung der Beklagten in überschießender Höhe bereits erfüllt sei.

II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision stand.

1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß - was auch von der Revisionserwiderung nicht in Frage gestellt wird - dem Vater des Klägers ein Schmerzensgeldanspruch erwachsen ist.

Dessen Höhe hat es entgegen der Auffassung der Revision in letztlich beanstandungsfreier Weise ermittelt und mit insgesamt 28.000 DM nicht zu niedrig angesetzt.

a) Die Bemessung von Schmerzensgeldansprüchen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters, der hier durch § 287 ZPO besonders frei gestellt ist. Sie ist deshalb vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält (ständige Rechtsprechung; vgl. Senatsurteile vom 11. Dezember 1973 - VI ZR 189/72 - VersR 1974, 489, 490 vom 19. September 1995 - VI ZR 226/94 - VersR 1996, 380), insbesondere ob das Gericht sich mit allen für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt (vgl. Senatsurteile vom 24. Mai 1988 - VI ZR 159/87 - VersR 1988, 943 und vom 19. September 1995 aaO) und um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Verletzungen bemüht hat (vgl. Senatsurteil vom 15. Januar 1991 - VI ZR 163/90 - VersR 1991, 350, 351).

b) Auf der Grundlage dieser eingeschränkten Prüfungsmöglichkeit läßt das Berufungsurteil keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers erkennen.

Maßgebend für die Höhe des Schmerzensgeldes sind im wesentlichen die Schwere der Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Diese Gesichtspunkte hat das Berufungsgericht beachtet und der Sachlage gerecht werdend hinreichend gewürdigt und gewichtet.

aa) Zu Unrecht beanstandet die Revision insoweit, daß das Berufungsgericht das Schmerzensgeld auch an der Dauer der verletzungsbedingten Beeinträchtigung des Vaters bis zu dessen Tod gemessen hat. Den Umstand, daß der Geschädigte die Verletzungen nur kurze Zeit überlebt hat, hat die Rechtsprechung stets selbst dann schmerzensgeldmindernd berücksichtigt, wenn der Tod - wie hier - gerade durch das Schadensereignis verursacht worden ist (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 1975 - VI ZR 175/74 - VersR 1976, 660, 662 m.w.N.). Entgegen der Ansicht der Revision ist eine abweichende Betrachtungsweise nicht gerechtfertigt, falls sich der Verletzte bis zu seinem Tode durchgehend oder überwiegend in einem Zustand der Empfindungsunfähigkeit oder Bewußtlosigkeit befunden hat (vgl. OLG München, VersR 1998, 645, bestätigt durch Nichtannahmebeschluß des erkennenden Senats vom 4. März 1997 - VI ZR 282/96 -). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des Senats vom 13. Oktober 1992 (VI ZR 201/91, BGHZ 120, 1; vgl. hierzu auch Senatsurteil vom 16. Februar 1993 - VI ZR 29/92 - VersR 1993, 585). Diese Rechtsprechung betrifft im übrigen die immaterielle Beeinträchtigung, die für den Geschädigten darin besteht, daß er infolge des schädigenden Ereignisses unter gravierender Herabminderung bzw. Zerstörung seiner Persönlichkeit leben muß. Dem kann im Streitfall die fehlende Empfindungsfähigkeit des Vaters des Klägers schon deshalb nicht gleichgestellt werden, weil sie die Folge des künstlichen Komas als einer Heilmaßnahme darstellt und mit einer Zerstörung der Persönlichkeit nichts zu tun hat.

bb) Ohne Erfolg beanstandet die Revision ferner, daß das Berufungsgericht bei der Ermittlung der Schmerzensgeldhöhe trotz teilweise abweichender Beurteilungsgrundlagen (nur) zu demselben Betrag wie das Landgericht gelangt sei. Auch wenn das Berufungsgericht die Zeit, in der sich der Vater des Klägers im künstlichen Koma befand, anders als das Landgericht mit Recht nicht nur symbolisch in die Bemessung des Schmerzensgeldes einbezogen hat, mußte dies entgegen der Auffassung der Revision nicht zur Zuerkennung eines höheren Schmerzensgeldes führen. Insoweit dürfen nämlich keine gesonderten Schmerzensgeldbeträge für die unterschiedlichen Bewußtseinsphasen des Verletzten angesetzt werden. Vielmehr ist die Leidenszeit einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen und auf dieser Grundlage eine einheitliche Entschädigung für das sich insgesamt darbietende Schadensbild festzusetzen. Daß das Berufungsgericht insoweit in der gebotenen eigenen Würdigung den bereits vom Landgericht zugebilligten Betrag für eine nach den Umständen des Falles ausreichende billige Entschädigung erachtet hat, ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

cc) Schließlich greift auch der Einwand der Revision nicht durch, das Berufungsgericht habe außer acht gelassen, daß der Beklagte zu 1 in beträchtlichem Maße verantwortungslos gehandelt habe. Das Berufungsgericht hat das Verhalten des Beklagten zu 1 im Tatbestand seines Urteils dargestellt und ersichtlich - ohne daß es insoweit einer Erörterung in den Entscheidungsgründen im einzelnen bedurft hätte (vgl. § 313 Abs. 3 ZPO) - bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang geltend macht, das Berufungsgericht habe Beweis über die Behauptung des Klägers erheben müssen, der Beklagte habe sich mit einem anderen Pkw ein Rennen geliefert und deshalb den Unfall verursacht, hat der Senat diese Verfahrensrüge geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet; von einer Begründung wird abgesehen (§ 565 a ZPO).

2. Das angefochtene Urteil hat auch Bestand, soweit das Berufungsgericht dem Kläger ein über den bereits gezahlten Betrag hinausgehendes Schmerzensgeld für die Mutter versagt hat.

a) Dabei kann offenbleiben, ob der Mutter überhaupt ein Schmerzensgeldanspruch zugestanden hat, der auf den Kläger und seine Miterben hätte übergehen können.

aa) Die Zubilligung eines Schmerzensgeldes setzt nicht stets voraus, daß der Geschädigte die ihm zugefügten Verletzungen empfunden hat. Vielmehr kann nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 13. Oktober 1992 - BGHZ 120, 1, 8/9 - in den schon erwähnten Fällen schwerster Schädigung eine ausgleichspflichtige immaterielle Beeinträchtigung gerade darin liegen, daß die Persönlichkeit ganz oder weitgehend zerstört und hiervon auch die Empfindungsfähigkeit des Verletzten betroffen ist, wobei freilich ein völliger Mangel an Empfindungsfähigkeit auch in solchen Fällen die Höhe des Schmerzensgeldes mindern kann. Besteht mithin in solchen Fällen die immaterielle Beeinträchtigung gerade darin, daß der Geschädigte mit ihr weiterleben muß, so stellt sich in Fällen der vorliegenden Art eine gänzlich anders gelagerte Frage. Es geht nämlich darum, ob der das Bewußtsein des Verletzten auslöschenden Körperverletzung gegenüber dem alsbald und ohne zwischenzeitliche Wiedererlangung der Wahrnehmungsfähigkeit eintretenden Tod überhaupt noch die Bedeutung einer abgrenzbaren immateriellen Beeinträchtigung zukommt. Dies wäre jedoch für einen Anspruch auf Schmerzensgeld nach § 847 BGB vorauszusetzen, weil diese Vorschrift nach der grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers weder für den Tod noch für die Verkürzung der Lebenserwartung eine Entschädigung vorsieht. Deshalb kommt es in Fällen der vorliegenden Art darauf an, ob die Körperverletzung gegenüber dem nachfolgenden Tod eine immaterielle Beeinträchtigung darstellt, die nach Billigkeitsgrundsätzen einen Ausgleich in Geld erforderlich macht. Das kann ebenso wie in Fällen, in denen die Verletzungshandlung sofort zum Tode führt, selbst bei schwersten Verletzungen dann zu verneinen sein, wenn diese bei durchgehender Empfindungslosigkeit des Geschädigten alsbald den Tod zur Folge haben und dieser nach den konkreten Umständen des Falles, insbesondere wegen der Kürze der Zeit zwischen Schadensereignis und Tod, sowie nach dem Ablauf des Sterbevorgangs derart im Vordergrund steht, daß eine immaterielle Beeinträchtigung durch die Körperverletzung als solche nicht faßbar ist und folglich auch die Billigkeit keinen Ausgleich in Geld gebietet.

bb) Daß ein solcher Ausnahmefall hier hinsichtlich der Mutter des Klägers angenommen werden könnte - was allerdings in erster Linie zur Beurteilung des Tatrichters stünde -, liegt zwar nicht fern, weil diese - ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben - bereits eine Stunde nach dem Unfall verstorben ist, braucht aber nicht abschließend entschieden zu werden.

b) Jedenfalls kann die Revision des Klägers auch aus einem anderen Grund keinen Erfolg haben. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Mutter des Klägers habe unter Berücksichtigung der kurzen Verletzungsphase und ihrer Bewußtlosigkeit kein über den schon gezahlten Betrag von 3.000 DM hinausgehendes Schmerzensgeld zugestanden, ist nämlich aus Rechtsgründen selbst dann nicht zu beanstanden, wenn der Mutter, wie die Revision geltend macht, kein Mitverschulden wegen Verstoßes gegen die Gurtanschnallpflicht anzulasten sein sollte.

Ende der Entscheidung

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