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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesgerichtshof
Urteil verkündet am 19.10.1999
Aktenzeichen: XI ZR 308/98
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 530
ZPO § 530

a) Nach Abstandnahme vom Urkundenprozeß in der Berufungsinstanz darf die Sachdienlichkeit einer Aufrechnung, wenn überhaupt, nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen verneint werden.

b) Bei mehreren hintereinander hilfsweise zur Aufrechnung gestellten Forderungen ist die Sachdienlichkeit für jede Aufrechnungsforderung gesondert zu prüfen.

BGH, Urteil vom 19. Oktober 1999 - XI ZR 308/98 - OLG Brandenburg LG Frankfurt/Oder


BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

XI ZR 308/98

Verkündet am: 19. Oktober 1999

Bartholomäus, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 1999 durch den Vorsitzenden Richter Nobbe und die Richter Dr. Schramm, Dr. van Gelder, Dr. Müller und Dr. Joeres

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 25. November 1998 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

Die Klägerin nimmt die beklagte GmbH aus einem von der Ehefrau des Geschäftsführers der Beklagten ohne Vertretungszusatz ausgestellten, bei Vorlage nicht eingelösten Inhaberscheck auf Zahlung von 58.800 DM zuzüglich Zinsen, Auslagen und Provision in Anspruch.

Das Landgericht hat der Scheckklage im Februar 1998 durch Vorbehaltsurteil stattgegeben. In der Berufungsinstanz hat die Beklagte, nachdem die Klägerin von der Scheckklage Abstand genommen hatte, ohne Einwilligung der Klägerin mit fünf streitigen Gegenansprüchen oder Teilen davon in bestimmter Reihenfolge hilfsweise aufgerechnet und Eventualwiderklage auf Zahlung von 59.020,50 DM zuzüglich Zinsen erhoben. Das Berufungsgericht hat das Vorbehaltsurteil für vorbehaltslos erklärt und die Eventualwiderklage als unzulässig abgewiesen.

Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungs- und Eventualwiderklageantrag weiter.

Entscheidungsgründe:

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Das Berufungsgericht hat im wesentlichen ausgeführt:

Die von der Klägerin geltend gemachte Scheckforderung sei begründet. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, daß die Ehefrau des Geschäftsführers der Beklagten den Scheck namens und in Vollmacht der Beklagten ausgestellt habe.

Die von der Beklagten erklärte Aufrechnung und ihre Eventualwiderklage seien nicht sachdienlich. Dies gelte auch unter Berücksichtigung des Rechts der Beklagten auf rechtliches Gehör sowie des Umstands, daß der Beklagten Aufrechnung und Widerklage vor Abstandnahme der Klägerin vom Scheckprozeß in der Berufungsinstanz verwehrt gewesen seien. Auch in einem solchen Falle seien Aufrechnung und Widerklage ganz ausnahmsweise nicht zuzulassen. Ein solcher Ausnahmefall sei hier gegeben. Zwar liege es im Interesse der Beklagten, die Aufrechnung und die Eventualwiderklage zuzulassen. Der bei der gebotenen Interessenabwägung maßgeblich zu berücksichtigende Gesichtspunkt der Prozeßwirtschaftlichkeit spreche jedoch eindeutig gegen die Zulassung. Durch sie werde die Entscheidung des Rechtsstreits nämlich erheblich verzögert, weil zur Klärung der streitigen Gegenforderungen der Beklagten eine umfangreiche und zeitaufwendige Beweisaufnahme erforderlich sei. Da die Beklagte von mehreren Gegenforderungen nur Teile zur Aufrechnung stelle, sei die Zulassung der Aufrechnung und Eventualwiderklage nicht einmal geeignet, den Streit insgesamt zu erledigen und einen weiteren Rechtsstreit zwischen den Parteien zu vermeiden. Daß die Sachdienlichkeit der Abstandnahme der Klägerin vom Scheckprozeß bejaht worden sei, ändere nichts. Über die Sachdienlichkeit dieser Klageänderung sei auf der Grundlage des damals vorliegenden Vortrags der Parteien zu einem Zeitpunkt zu entscheiden gewesen, als noch davon auszugehen gewesen sei, der Rechtsstreit werde durch die Abstandnahme vom Scheckprozeß nur unwesentlich verzögert.

II.

Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht stand. Nicht zu beanstanden sind die von der Revision nicht angegriffenen Ausführungen zur Scheckforderung der Klägerin; dagegen beruhen die Nichtzulassung der Hilfsaufrechnung und der Eventualwiderklage der Beklagten auf rechtsfehlerbehafteten Erwägungen des Berufungsgerichts.

1. Nach § 530 Abs. 1 und 2 ZPO sind eine Widerklage und eine Aufrechnung in der Berufungsinstanz, wenn der Kläger - wie hier - nicht einwilligt, nur zuzulassen, wenn das Gericht die Geltendmachung der Gegenforderung für sachdienlich hält. Bei der Beurteilung der Sachdienlichkeit ist, was das Berufungsgericht nicht verkannt hat, die Besonderheit des vorliegenden Falles zu berücksichtigen, daß die Beklagte bei der von der Klägerin erhobenen Scheckklage in erster Instanz nicht die Möglichkeit hatte, eine Widerklage zu erheben (§ 595 Abs. 1 ZPO), und eine Aufrechnung mit streitigen Gegenforderungen mit Rücksicht auf die Beschränkung der Beweismittel im Scheckprozeß (§ 595 Abs. 2 und 3 ZPO) sinnlos war. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 29, 337, 343), der die Literatur ganz überwiegend gefolgt ist (Stein/Jonas/Grunsky, ZPO 21. Aufl. § 530 Rdn. 20; Zöller/Gummer, ZPO 21. Aufl. § 530 Rdn. 21; Baumbach/Lauterbach/Albers, ZPO 57. Aufl. § 530 Rdn. 6; Thomas/Putzo, ZPO 22. Aufl. § 530 Rdn. 9), darf in einem solchen Fall die Zulassung der Aufrechnung, wenn überhaupt, nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen versagt werden, da der Kläger dem Beklagten sonst durch Abstandnahme vom Urkundenprozeß die Aufrechnungsmöglichkeit im Nachverfahren nehmen könnte.

2. Das Berufungsgericht möchte dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dadurch Rechnung tragen, daß es die widerstreitenden Interessen der Klägerin und der Beklagten an der Zulassung der Aufrechnung nach Abstandnahme vom Urkundenprozeß in der Berufungsinstanz gegeneinander abwägt und an die Sachdienlichkeit der Aufrechnung und der Eventualwiderklage nur geringe Anforderungen stellt.

a) Dieses Vorgehen ist im Prinzip nicht zu beanstanden. Die Beurteilung der Sachdienlichkeit erfordert eine Berücksichtigung, Bewertung und Abwägung der beiderseitigen Interessen. Dabei steht dem Berufungsgericht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Beurteilungsspielraum zu (vgl. nur BGHZ 33, 398, 400; BGH, Urteil vom 10. Januar 1985 - III ZR 93/83, NJW 1985, 1841, 1842). Das muß - allerdings in engen Grenzen - auch für die Beurteilung der Frage gelten, ob Aufrechnung und Widerklage des Beklagten nach Abstandnahme des Klägers vom Urkundenprozeß ganz ausnahmsweise nicht zuzulassen sind.

b) Diese Beurteilung ist der Nachprüfung der Revisionsinstanz nur daraufhin unterworfen, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff der Sachdienlichkeit verkannt oder seinen Beurteilungsspielraum überschritten hat (vgl. BGHZ 123, 132, 137; BGH, Urteil vom 4. Oktober 1976 - VIII ZR 139/75, WM 1976, 1278, 1280; BGH, Urteil vom 11. Juli 1996 - IX ZR 80/95, WM 1996, 1507, 1509). Das ist hier, wie die Revision zu Recht rügt, der Fall, weil in die Abwägung des Berufungsgerichts zugunsten der Klägerin Gesichtspunkte eingeflossen sind, die nicht oder nicht so hätten berücksichtigt werden dürfen, und weil zumindest ein wesentlicher Umstand außer acht gelassen worden ist.

aa) Das Berufungsgericht hat bei der Abwägung als wesentlich berücksichtigt, daß sich die Entscheidung über die Klageforderung durch Beweiserhebungen und angekündigtes oder zu erwartendes Prozeßverhalten der Parteien erheblich verzögern würde, wenn die Aufrechnung zugelassen würde. Dies ist kein wesentlicher Gesichtspunkt.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht der Sachdienlichkeit nicht entgegen, daß durch die Zulassung der Aufrechnung oder der Widerklage neue Parteierklärungen und Beweiserhebungen notwendig werden und die Erledigung des Rechtsstreits dadurch verzögert wird (BGH, Urteil vom 5. Mai 1983 - VII ZR 117/82, WM 1983, 1162, 1163; BGH, Urteil vom 10. Januar 1985 - III ZR 93/83, NJW 1985, 1841, 1842; BGH, Urteil vom 26. Mai 1986 - II ZR 237/85, WM 1986, 1200, 1201).

bb) Das Berufungsgericht hat bei seiner Abwägung nicht zwischen den fünf verschiedenen hintereinander zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen unterschieden, sondern ohne Differenzierung angenommen, die Zulassung der Aufrechnung sei nicht prozeßökonomisch, da zur Entscheidung über alle Aufrechnungsforderungen eine mehr oder weniger umfangreiche und zeitaufwendige Beweisaufnahme notwendig sei und überdies ein weiterer Rechtsstreit nicht vermieden würde, soweit Teilforderungen zur Aufrechnung gestellt worden seien. Dieses Vorgehen ist zu beanstanden.

(1) Richtigerweise hätte die Frage der Sachdienlichkeit für jede Aufrechnungsforderung gesondert beurteilt werden müssen. Die Sachdienlichkeit einer erst an dritter oder vierter Stelle hilfsweise erklärten Aufrechnung mit einer entscheidungsreifen oder mit geringem Aufwand entscheidungsreif zu machenden Forderung kann nicht deshalb verneint werden, weil an erster Stelle eine Forderung nur mit einem Teilbetrag zur Aufrechnung gestellt wird oder ihre Klärung besonders aufwendig ist. In einem solchen Falle kann allenfalls die Sachdienlichkeit der Aufrechnung dieser Teilforderung verneint werden, nicht aber die Aufrechnung der übrigen Forderungen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, das Berufungsgericht sei an die von der Beklagten vorgegebene Reihenfolge der mehreren Aufrechnungen gebunden. Dies trifft zwar zu, ändert aber nichts daran, daß die Sachdienlichkeit einer nachrangigen Aufrechnung nicht mit der Begründung verneint werden kann, eine vorrangige Aufrechnung sei nicht zuzulassen. Auch in einem solchen Fall soll die hilfsweise Aufrechnung mit einer weiteren Forderung nach dem Willen des Beklagten grundsätzlich zum Zuge kommen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn er zum Ausdruck bringt, daß das Gericht über nachrangige Forderungen nur dann entscheiden soll, wenn es die vorrangig zur Aufrechnung gestellten nicht oder nicht im Umfang der Klageforderung für gegeben erachtet. Für eine solche Beschränkung der Hilfsaufrechnung ist hier nichts ersichtlich.

(2) Nur bei den an erster und an fünfter Stelle zur Aufrechnung gestellten Forderungen handelt es sich um Teilforderungen. Das Argument des Berufungsgerichts, durch die Zulassung der Aufrechnung würde ein weiterer Rechtsstreit nicht vermieden, gilt deshalb nur bei diesen Forderungen, nicht aber bei den anderen zur Aufrechnung gestellten Ansprüchen.

(3) Überdies trifft es jedenfalls bei der an dritter Stelle zur Aufrechnung gestellten Forderung nicht zu, daß ihre Klärung eine umfangreiche Beweisaufnahme erfordert. Der Streit darüber, ob die Beklagte vereinbarungsgemäß für die Klägerin Rechnungen bezahlt hat und ihr deshalb ein Erstattungsanspruch zusteht, läßt sich anhand von Urkunden und weniger Zeugenaussagen entscheiden.

cc) Rechtsfehlerhaft ist weiter die Ansicht des Berufungsgerichts, für die Beurteilung der Sachdienlichkeit der Abstandnahme vom Urkundenprozeß in der Berufungsinstanz, die unter den gleichen Voraussetzungen wie eine Klageänderung zuzulassen ist (BGHZ 29, 337, 339; 69, 66, 69; Senatsurteil vom 1. Februar 1994 - XI ZR 105/93, WM 1994, 455, 456), sei auf einen anderen Zeitpunkt abzustellen als für die Beurteilung der Sachdienlichkeit der von der Beklagten erklärten Aufrechnung. Da das Berufungsgericht kein Zwischenurteil erlassen hat, war jeweils der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht entscheidend. Das Argument des Berufungsgerichts, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. Juli 1998 habe es davon ausgehen müssen, durch die Abstandnahme vom Scheckprozeß werde der Rechtsstreit nur unwesentlich verzögert, offenbart einen Ermessensfehler, da es auf die Verzögerung von vornherein nicht ankommt. Das Berufungsgericht mißt hier zu Lasten der Beklagten erklärtermaßen mit zweierlei Maß. Die Rüge der Revision, der prozessuale Grundsatz der Waffengleichheit sei verletzt, ist deshalb begründet. Daß die Beklagte die Möglichkeit hat, ihre Aufrechnungsforderungen in einem gesonderten Prozeß geltend zu machen, ändert nichts. Der Grundsatz der Waffengleichheit muß in jedem Rechtsstreit gewahrt werden.

III.

Das Berufungsurteil war daher aufzuheben (§ 564 Abs. 1 ZPO) und die Sache, da der Streit über die zur Aufrechnung gestellten Forderungen nicht entscheidungsreif ist, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 565 Abs. 1 ZPO).

Ende der Entscheidung

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