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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 19.03.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 131/04
Rechtsgebiete: BVerfGG


Vorschriften:

BVerfGG § 93 d Abs. 1 Satz 3
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG § 93 c
BVerfGG § 93 c Abs. 2
BVerfGG § 95 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 131/04 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 18. November 2003 - L 14 KR 1006/03 ER -,

b) den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 6. Oktober 2003 - S-12/KR-1805/03 ER -,

c) den Widerspruchsbescheid der Barmer Ersatzkasse vom 9. Oktober 2003 - 1010-I/3808/03 -,

d) den Bescheid der Barmer Ersatzkasse vom 21. August 2003 - Vers.-Nr.: 168 791 852 -

und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, den Richter Steiner und die Richterin Hohmann-Dennhardt gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 19. März 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Beschlüsse des Sozialgerichts Kassel vom 6. Oktober 2003 - S-12/KR-1805/03 ER - und des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. November 2003 - L 14 KR 1006/03 ER - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Sozialgericht zurückverwiesen.

Zugleich erledigt sich damit der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen Bescheide der Barmer Ersatzkasse richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen.

Das Land Hessen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die ambulante ärztliche Behandlung von gesetzlich Krankenversicherten mit neuen Behandlungsmethoden.

I.

1. Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts steht gesetzlich Krankenversicherten ein Leistungsanspruch auf neue medizinische Behandlungsmethoden gegen ihre Krankenkasse nur dann zu, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, seit 1. Januar 2004 der Gemeinsame Bundesausschuss (im Folgenden: Bundesausschuss) die jeweilige Methode "zugelassen" hat. Daran sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gebunden. Grundsätzlich dürfen sie nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im einzelnen Leistungsfall nur dann prüfen, ob eine neue Behandlungsmethode medizinisch notwendig, zweckmäßig und wirtschaftlich ist, wenn im Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Bundesausschuss Fehler aufgetreten sind, die ein so genanntes Systemversagen begründen.

2. Die gesetzlich krankenversicherte Beschwerdeführerin leidet unter Myasthenie Gravis, einer Autoimmunkrankheit. Diese Krankheit hat Störungen der neuromuskulären Reizübertragung zur Folge. Ohne Behandlung führt die Erkrankung zu sehr schneller Ermüdung, zu einer Muskelschwäche, insbesondere im Gesichts-, Schlund- und Extremitätenbereich, und zu einer krisenhaften Verschlechterung mit Muskellähmungen und alsbaldiger Erstickungsgefahr. Nach Auffassung der behandelnden Ärzte kann sie nur mit einem speziellen Verfahren der Blutreinigung wirksam behandelt werden. Diese Immunadsorptionsbehandlung wird bei der Beschwerdeführerin seit 1997 - offenbar mit Erfolg - durchgeführt. Bis zum 30. September 2003 geschah dies ambulant einmal pro Woche im M.-Krankenhaus in F.

3. Der Bundesausschuss hat das Blutreinigungsverfahren einer Überprüfung unterzogen - auch im Hinblick auf Myasthenie Gravis -, dieses Verfahren aber nur für andere Indikationen zugelassen (Beschluss vom 24. März 2003, BAnz Nr. 123 vom 8. Juli 2003, S. 14486). Dabei ist er offenbar davon ausgegangen, der medizinische Nutzen der Behandlungsmethode sei hinsichtlich deren Anwendung bei Myasthenie Gravis nicht valide belegt. Aufgrund dessen stellte die Krankenkasse die Leistung ab 1. Oktober 2003 ein. Seitdem erhält die Beschwerdeführerin die Blutwäsche in unregelmäßigen Abständen in stationärer Form. Die stationäre Aufnahme kann nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin allerdings erst dann erfolgen, wenn bereits akute Krankheitssymptome aufgetreten sind. Mit dieser Verfahrensweise ist die Beschwerdeführerin nicht einverstanden. Sie weist vor allem auf die gesundheitlichen Risiken hin, die mit einem Abwarten solcher akuter Krankheitserscheinungen verbunden sind.

4. a) Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor den Sozialgerichten ist die Beschwerdeführerin mit einem Antrag auf vorläufige Verpflichtung der Krankenkasse zur ambulanten Leistung erfolglos geblieben. Sozialgericht und Landessozialgericht haben eine Erfolgsaussicht in der Hauptsache verneint, weil der Beschluss des Bundesausschusses bindend sei. Ein Systemversagen liege nicht vor, da nicht erkennbar sei, dass dem Bundesausschuss Verfahrensfehler unterlaufen sein könnten.

b) Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen diese Gerichtsentscheidungen und gegen die ablehnenden Bescheide ihrer Krankenkasse. Sie sei nicht in der Lage, die ambulante Immunadsorptionsbehandlung selbst zu finanzieren. Sie sieht sich in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Zudem hat sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, die auf eine Verpflichtung der Krankenkasse zur vorläufigen ambulanten Leistung zielt.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen die Entscheidungen der Krankenkasse richtet, nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG insoweit nicht vorliegen. Sie ist in diesem Umfang unzulässig. Ihre Begründung entspricht nicht den Anforderungen von § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG. Die Beschwerdeführerin hat die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte nicht hinreichend dargelegt. Soweit sie eilrechtsschutzspezifische Verfahrensfehler geltend macht, kommen die Entscheidungen der Krankenkasse von vornherein als Beschwerdegegenstände nicht in Betracht. In Bezug auf die Rüge einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes hat die Beschwerdeführerin weder plausibel vorgetragen, gegenüber welchen Personengruppen sie sich benachteiligt sieht, noch Anhaltspunkte für Willkür aufgezeigt.

Von einer weiteren Begründung wird insoweit nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

2. Soweit die Beschwerdeführerin die Beschlüsse des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts angreift, nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c BVerfGG sind insoweit gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist hinreichend geklärt, welche Anforderungen sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG für den vorläufigen Rechtsschutz ergeben, wenn dessen Versagung zu schweren und unzumutbaren Nachteilen führt (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>).

Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschlüsse des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Sozialgericht und Landessozialgericht haben, auch wenn sie aus ihrer Sicht bereits die Hauptsacheprüfung vorweggenommen haben, dem verfassungsrechtlichen Gebot effektiven Rechtsschutzes nicht hinreichend genügt. Die besonderen Umstände des Falles lassen es geboten erscheinen, auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eingehender zu prüfen, ob die fehlende Anerkennung der Immunadsorptionsbehandlung durch den Bundesausschuss möglicherweise auf einem Systemversagen beruht.

aa) Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. November 2002 - 1 BvR 1586/02 -, NJW 2003, S. 1236 <1236 f.>).

bb) Nach Aktenlage ist nicht auszuschließen, dass die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes im vorliegenden Fall zu schweren und unzumutbaren Nachteilen für die Beschwerdeführerin führen kann. Nach ihrem hier zugrunde zu legenden Vortrag begründet das Abwarten akuter Krankheitserscheinungen stets ein gewisses Morbiditätsrisiko und hinterlässt irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen.

cc) Wie sich aus dem Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22. November 2002 (a.a.O.) ergibt, kann in einem solchen Fall eine Entscheidung der Gerichte über die Verpflichtung der Krankenkasse zur vorläufigen Übernahme der Kosten für die medizinische Behandlung nicht ohne Berücksichtigung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgen. In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland haben Leben und körperliche Unversehrtheit hohen Rang. Aus dem Grundrecht folgt allgemein die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 <73>). Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der im Grundrecht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit enthaltenen grundlegenden objektiven Wertentscheidung (vgl. BVerfGE 39, 1 <41>) gerecht werden (vgl. BVerfGE 53, 30 <65>).

dd) Daraus folgt in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass die Gerichte im vorliegenden Fall die Prüfung, ob der negativen Entscheidung des Bundesausschusses ein Systemversagen zugrunde liegt, nicht auf Verfahrensfehler im engeren Sinn hätten beschränken dürfen. Damit stehen sie zwar in Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. BSGE 81, 54 <65 f.>; 86, 54 <60 f.>; eher erweiternd BSG SozR 3-2500 § 27 a SGB V Nr. 3, S. 35). Jedoch ist nach Aktenlage jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Bundesausschuss die Anforderungen an die Evidenz der zu fordernden Wirksamkeitsnachweise in Anbetracht dessen, dass es sich hier um eine sehr seltene Krankheit handeln könnte, überspannt hat. Es bedarf an dieser Stelle keiner Klärung, ob aus dem Grundgesetz ein Gebot abzuleiten ist, die Anforderungen an die Mindestevidenz entsprechend den Besonderheiten des Einzelfalls zu ermäßigen, und ob, sofern dies der Fall ist, hier dagegen verstoßen worden ist. Jedenfalls wäre es verfassungsrechtlich geboten gewesen, dass die Sozialgerichte, wenn sie sich für eine Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache statt für eine Folgenabwägung entscheiden, der möglichen Fehlerquelle nachgehen.

b) Die dargestellten Rechtsverstöße führen zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Beschlüsse und zu deren Aufhebung. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Sozialgerichte unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zugunsten der Beschwerdeführerin entscheiden.

III.

1. Die Beschlüsse des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts sind aufzuheben, ohne dass es noch auf die zusätzlich erhobenen Grundrechtsrügen ankommt. Die Sache ist an das Sozialgericht zurückzuverweisen (vgl. § 93 c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

2. Da die Beschwerdeführerin von vornherein nur eine vorläufige Regelung bis zur Entscheidung über die Hauptsache begehrt hat, erledigt sich mit dem vorliegenden Beschluss der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG. Dabei ist der Ausspruch über die teilweise Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde nicht zu berücksichtigen; er fällt, weil er sich nur auf die Ausgangsentscheidungen im Verwaltungsverfahren bezieht, nicht ins Gewicht. Es ist angezeigt, die Erstattung der Auslagen auch für das Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung anzuordnen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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